Eine Kirche der Armen geht nur politisch

Das Pontifikat von Franziskus hat die Vision einer armen Kirche für die Armen wieder populär gemacht; nicht nur innerhalb von Kirche, sondern auch weit darüber hinaus. Dass mit dem Begriff der Kirche der Armen mehr verbunden ist, als nur die Absage an große Autos und (Bischofs-)Paläste, zeigt Franziskus selbst deutlich. Angesichts der brutalen Migrationspolitik bedeutet (nicht nur) für Franzsikus so eine Kirche, eine „ohne Grenzen“. Es ist eine prophetische Kirche, die den deutlichen Einspruch gegen diese Verhältnisse wagt. Damit rückt Franziskus‘ Vision einer armen Kirche für die Armen gefährlich nah an die Ideen der Befreiungstheologie. Gefährlich deshalb, weil so eine Kirche immer eine des Widerspruchs ist und herrschende Machtverhältnisse radikal in Frage stellt.

Der vorliegende Text, der während der Arbeit am Erinnerungsprojekt Zeichen der Zeit entstanden ist, setzt sich mit der politischen Dimension einer „Kirche der Armen“ auseinander. In den nächsten Wochen werden wir auf www.itpol.de einige Beiträge unseres Werkbuchs “Anders Mensch sein in einer anderen Kirche…”. Dokumentation und Weiterführung der Konziliaren Versammlung Frankfurt 2012, Münster 2014 zur weiteren Diskussion veröffentlichen. Die Beiträge können auch als pdf in unserem Digitalladen kostenlos runtergeladen werden.

Eine Kirche der Armen geht nur politisch*

von Philipp Geitzhaus

Kirche der Armen

Seit Frühjahr 2013 steht an der Spitze der katholischen Kirche ein neuer Papst, der sich den Namen Franziskus gegeben hat. Dieser Name steht zweifelsohne für das Stichwort „Armut“: Der Heilige Franziskus ist wohl die berühmteste Persönlichkeit, die die Kirche des Mittelalters von ihrem Reichtum und ihrer Macht befreien wollte und ihr eine Vision einer armen und vor allem solidarischen Kirche entgegensetzte. Der Reichtum der Kirche war für Franziskus aber nicht ein ästhetisches Problem, sondern der Skandal bestand darin, dass sich die reiche und mächtige Kirche von den zahllosen armen Menschen trennte, ja ihnen als Kirche in dieser Form sogar entgegenstand. Sie war Teil einer Ordnung, die viele arm und handlungsunfähig und wenige reich und mächtig machte.

Das klingt höchst aktuell. Die Vision einer Kirche der Armen und die Abkehr von einer Kirche des Reichtums ist auch das große Projekt von Papst Franziskus. Damit greift er einerseits die alte Vision des Heiligen Franziskus wieder auf, andererseits beruft er sich mit dem Begriff einer Kirche der Armen auf die Hoffnungen, Arbeiten und das Engagement der Kirche von Lateinamerika sowie auf den Katakombenpakt, der (leider) nur am Rande des Zweiten Vatikanischen Konzils 1965 zustande kommen konnte, statt dort eine prominente Rolle zu spielen.1 Doch so berühmt die Formulierung der Kirche der Armen mittlerweile auch sein mag, so umstritten ist sie auch, sobald sie für die eigenen kirchlichen Kontexte Anwendung finden soll. Höchstens eine bescheidene Kirche kommt für viele in Frage. Möglicherweise auch eine Kirche, die man mit Attributen wie „schlank“, „leicht“ und „fit“ beschreiben könnte – ein funktionales Schönheitsideal, welches auch in Bezug auf Unternehmen und Konzerne weit verbreitet ist. Aber eine Kirche, die sich auf die Armut einlässt, eine Kirche, in der die von Armut Betroffenen die wichtigsten Akteure sein sollen, unterscheidet sich grundlegend vom Gedanken der bloßen Bescheidenheit. Doch Armut, die nicht Bescheidenheit meint, d.h. in der die ganzen Probleme der Armut mitgemeint sind, wird sie sehr oft als anstößig wahrgenommen. Ihr wird aus dem Weg gegangen.

Armut ist kein Randphänomen in Deutschland. Obgleich der Begriff der armen Kirche im deutschsprachigen kirchlichen Raum offensichtlich kein gerne diskutierter ist, ist das Thema der Armut in der Öffentlichkeit präsent. Man denke hier an die letzten Armutsberichte der Bundesregierung, die vor allem das Problem der Kinderarmut und die Armut vieler alleinerziehender Mütter hervorgehoben haben. Genauso taucht das Thema der Armut und der krassen ökonomischen Gegensätze in der Debatte zur Bildungsgerechtigkeit auf, wo auf die ungewöhnlich intensive Verquickung von finanziellen Mitteln und (Aus-)Bildungsmöglichkeiten in Deutschland im europäischen Vergleich hingewiesen wird. Und nicht zuletzt ist das Thema der sogenannten „Wirtschaftsflüchtlinge“, die in Deutschland Asyl und/oder eine Arbeitserlaubnis beantragen, im öffentlichen Diskurs gesetzt. Ein Randphänomen ist Armut in Deutschland längst nicht mehr, wohl aber ein Randthema, wenn es um eine ernsthafte öffentliche Auseinandersetzung mit ihr sowie um ihre Überwindung geht.

Das spiegelt sich auch im hiesigen kirchlichen Kontext wieder. Das kirchliche Selbstverständnis scheint von der Tatsache der Armut auch in Deutschland, „vor der Kirchentür“, kaum irritiert. Doch damit wird der Begriff einer Kirche der Armen nicht unbrauchbar. Im Gegenteil: Er fordert die kirchliche Selbstvergewisserung heraus und konfrontiert die Kirche mit ihrem eigenen Auftrag und ihrer eigenen Funktion des Kirche-Seins. Allgemein formuliert: Mit dem Begriff der Kirche der Armen wird ein begründeter Vorschlag gemacht, einen Zusammenhang zwischen der existierenden Armut und dem kirchlichen Leben herzustellen sowie den herrschenden Reichtum als Problem in den Blick zu nehmen.

Armut, Reichtum und die Option für die Armen

Die Vision einer Kirche der Armen ist mit der Option für die Armen verknüpft. Der Begriff der Option für die Armen charakterisiert die Vision der Kirche der Armen näher. In aller Kürze weist er darauf hin, dass es der Kirche der Armen um „die Sache der Armen“ gehen soll: dass den Armen Gerechtigkeit widerfährt und sie von ihrer Armut befreit werden. Im Folgenden muss deshalb geklärt werden, was Armut und was Option bedeutet und was beides mit Kirche zu tun hat. Wenn wir in diesem Kontext von Armut sprechen, dann ist Armut immer im Verhältnis zum Reichtum aufgefasst. Auf den Globus bezogen ist es deshalb sinnvoll, beispielsweise nicht nur von den drei Milliarden Menschen, die arm sind, zu sprechen, sondern auch davon, dass auf der anderen Seite die reichsten 85 Menschen mehr besitzen als diese drei Milliarden Menschen zusammen, wie es Oxfam international kürzlich darlegte.2 Abkürzend gesagt: Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem existierenden Reichtum und der existierenden Armut.

Und in Deutschland?

Gemeinhin unterscheidet man zwischen absoluter Armut und relativer Armut. Als absolut arm gilt ein Mensch, dem weniger als 1,25 US$ pro Tag zur Verfügung stehen. Für die Betroffenen bedeutet das Mittellosigkeit und häufig chronische Unterernährung. Das betrifft gegenwärtig 1,2 Milliarden Menschen weltweit. Als relativ arm gilt ein Mensch, der weniger als die Hälfte des gesellschaftlichen Durchschnittseinkommens erwirtschaftet.

Häufig werden diese Differenzierungen dazu verwendet relative Armut zu „relativieren“, in dem Sinne, dass die verschiedenen Dimensionen von Armut gegeneinander ausgespielt werden. Relative Armut wird dann der absoluten Armut gegenübergestellt und als nicht so virulent eingeschätzt, als nur relativ im umgangssprachlichen Wortsinn. Dabei wird verkannt, dass sich die Relation (in „relativer Armut“) nicht auf die verschiedenen Armutsdimensionen bezieht, sondern auf den existierenden Reichtum/ Wohlstand. Kurz: Beide genannten Differenzierungen bleiben Definitionen von Armut und diese ist in allen Differenzierungen als solche Ernst zu nehmen. Der Skandal der Armut drückt sich nicht erst in der damit verbundenen Mittellosigkeit aus, sondern der Skandal besteht darin, dass es Armut geben muss, trotz existierenden Reichtums. Bei genauerer Analyse könnte dann schnell aufgezeigt werden, dass die Armut nicht nur trotz, sondern wegen des Reichtums existiert. D.h. es gibt Armut, weil es Reichtum gibt. Im Folgenden werde ich deshalb von Armut ohne nähere Bestimmungen sprechen, um die verschiedenen Armutsformen nicht gegeneinander auszuspielen.

Zahlreiche aktuelle Berichte verschiedener Organisationen und Einrichtungen, wie Bundesämter, Caritas, Gewerkschaften usw. weisen auf den Anstieg der Armut und der von Armutsgefährdung Betroffenen in Deutschland hin. Laut dem statistischen Bundesamt ist jede sechste in Deutschland lebende Person von Armut bedroht (2009). Bei Kindern ist es sogar jedes fünfte. Anders ausgedrückt: In Deutschland sind rund 13 Millionen Menschen von Armut bedroht. Laut Statistischem Bundesamt lag der Anteil der armutsgefährdeten Menschen im Jahr 2009 bei 15,6 Prozent.3 Am meisten betroffen sind Langzeitarbeitslose und alleinerziehende Mütter. Menschen mit Migrationshintergrund (egal ob mit oder ohne deutschem Pass) sind im Verhältnis doppelt so häufig betroffen.

Doch Zahlen allein geben keine Auskunft darüber, was Armut bedeutet und welche Bedeutung ihr zugesprochen wird. In einer theologischen Reflexion einer Gemeinde in Mönchengladbach, in der größtenteils Erwerbslose engagiert sind (der „Treff am Kappellchen“), wird folgendes festgehalten:

„Erwerbsarbeit und der daraus resultierende Lohn sind das ‚Maß aller Dinge‘ in unserer Gesellschaft. Wer dieses Ziel verfehlt, gerät an den Rand der Gesellschaft. Und dieser Rand wird immer größer. […]. Während die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung in Deutschland 80 Prozent ihr eigen nennen, muss sich die Mehrheit von 90 Prozent der Bevölkerung, also immerhin 70 Millionen Menschen, die restlichen 10 Prozent der Vermögenswerte teilen. 25 Prozent der Bevölkerung besitzen gar kein Geldvermögen, Immobilien oder Betriebsvermögen, sondern sind eher verschuldet. Fazit: Die Schere zwischen arm und reich geht immer weiter auseinander.“4

Insofern Arbeit in Deutschland einen so hohen gesellschaftlichen Stellenwert genießt, sind dementsprechend die Folgen von Arbeitslosigkeit erheblich. Dazu gehören gesundheitliche Probleme, Stress, der Verlust sozialer Beziehungen im großen Ausmaß, fehlende Tagesstruktur. Mehr und mehr wird auch ein „Sozialhass von oben“ wahrgenommen. In der gegenwärtigen Soziologie tut man sich nicht mehr schwer damit, vom „Klassenkampf von oben“ und einer „Verrohung der Gesellschaft“, vor allem der oberen Schichten, zu sprechen und diese mit Studien zu belegen. Die umfangreichste Studie dazu, Deutsche Zustände von Wilhelm Heitmeyer und seinen Mitarbeiter_innen, ist eine Zehnjahreslangzeitstudie, die sich mit dem Thema der sogenannten Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit auseinandersetzt. Heitmeyer erklärt: „Menschenfeindlichkeit wird erkennbar in der Betonung von Ungleichwertigkeit und der Verletzung von Integrität, wie sie in öffentlichen Aussagen von Repräsentanten sozialer Eliten, die vornehmlich über Medien vermittelt werden, formuliert, in Institutionen oder öffentlichen Räumen artikuliert bzw. in privaten Kreisen durch Angehörige ganz unterschiedlicher Altersgruppen reproduziert werden, so dass sie auch von bestimmten politischen Gruppen – vornehmlich rechtsextremistischer Couleur – zur Legitimation manifester Diskriminierungen oder gar Gewaltakten genutzt werden können.“5 Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist also nicht erst die Bezeichnung für offene rechtsextremistische Gewalt, sondern meint schon die Betonung von Ungleichwertigkeiten unter Menschen, die dann zu offener rechtsextremer Gewalt führen kann. Im gegenwärtigen Prozess der Ökonomisierung der Gesellschaft zeigt sich diese Ungleichwertigkeit vornehmlich gegenüber „leistungsschwachen“ Gruppen, wie (Langzeit-)Arbeitslosen, Wohnungslosen, Menschen mit Behinderung und Asylbewerber_innen. Eine verbreitete Auffassung ist, dass man sich „Leistungsschwache“ auf Dauer nicht leisten könne. Gegenwärtig wird in den Medien vor allem von „Armutsflüchtlingen“ aus Osteuropa, gesprochen, die „unsere Sozialsysteme ausnehmen wollen“, vor denen man sich schützen müsse, die man schnellstmöglich inhaftieren und abschieben müsse. Kurz: Armut bedeutet (auch) Ausgrenzung und Ausschluss. Abschiebungen stellen die Ausgrenzung par excellence, in ihrem wörtlichsten Sinne, dar. Armut wird von vielen Menschen, vor allem der oberen Schichten, als extrem anstößig wahrgenommen, als etwas, von dem man sich fernhalten muss, um den eigenen Status zu sichern.

In diesem Verhältnis arm – reich meint die Option für die Armen, dass es christlich vernünftig (und notwendig) sei, sich bewusst zu verorten und damit zu positionieren. Die Positionierung zeigt an, dass die Armut auf Grund von Reichtum ungerecht ist, dass die Trennung in arm und reich die Menschen spaltet. In der lateinamerikanischen Theologie ist dafür der etwas uneindeutige Begriff der „Option“ eingeführt worden. Der Begriff ist deshalb uneindeutig, weil Option gemeinhin als Wahlmöglichkeit verstanden wird, wie bei einem Telefonvertrag, bei dem ich unter mehreren Vertragsoptionen wählen kann. Option in unserem Sinne meint aber nicht Wahl, sondern Entscheidung und ließe sich vielleicht auch als verbindliche Entscheidung für die (Sache der) Armen übersetzen. Die Kirche als ganze und die Christ_innen als einzelne sollen eine Position bzw. einen Standpunkt einnehmen: nämlich solidarisch an der Seite von bestimmten Menschen, den Armen, zu stehen und sich für die Überwindung entwürdigender Verhältnisse einzusetzen. Dabei wird gerade auch die Anstößigkeit, die diese Realität offensichtlich auslöst, aufgegriffen. Option für die Armen will in einem Kontext von Armut und/oder „Klassenkampf von oben“ eine Parteilichkeit ausdrücken für diejenigen, die als ökonomisch „unfähig“ gelten. Im Prozess der Ökonomisierung der gesamten Gesellschaft und des gesamten Lebens jeder Einzelnen soll diese Option eine Hoffnung gegen die „Verwertbarkeit“ und das verordnete Selbstunternehmertum der Menschen darstellen.

Beispiel: Der Treff am Kappellchen (TaK)

Obgleich die kirchliche Realität als ganze einer solidarischen Kirche der Armen nicht entspricht, gibt es doch einige beeindruckende Beispiele für kirchliche Orte, an denen diese Solidarität gelebt wird. Eines davon ist der schon erwähnte Treff am Kappellchen in Mönchengladbach, kurz TaK. Der Treff am Kappellchen versteht sich als „Kirche am Rand der Gesellschaft“, „dort wo Menschen aufgrund von Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Behinderung, psychischer Erkrankung oder Entwurzelung sozial ausgegrenzt sind.“6 Auffällig ist, dass es sich beim TaK nicht um ein zufällig entstandenes Projekt handelt, sondern, dass der Gründung die bewusste Entscheidung zu Grunde lag, den Rand zur Mitte zu machen, wie es der frühere Bischof von Aachen, Klaus Hemmerle, immer wieder formulierte. Der Treff ist im Rahmen der Arbeit des „Volksvereins Mönchengladbachs“ und der Steyler Missionsschwestern 2005 entstanden. In der Frage, wo der wahre gesellschaftliche Ort der Kirche sei, entschied man sich bewusst dafür, einen Ort zu schaffen, wo sich die „Kleinen gemeinsam groß machen“ können, d.h. wo ausgegrenzte Menschen, diejenigen, denen das Leben sehr schwer gemacht wird, sinnvolle Lebensperspektiven entwickeln können. Heute ist der TaK ein Ort, wo Menschen zusammenkommen können, um sich über ihren Alltag und die damit verbundenen Probleme, wie Anträge, Bewerbungen, Ärger mit Ämtern und vieles mehr, auszutauschen und, vor allem, sich gegenseitig beraten können. Es geht in dieser Kirche nicht darum, Menschen einfach „nur“ zu begleiten, sondern einen Ort zu haben, gemeinsam Perspektiven und – so weit wie möglich – Handlungsfähigkeiten auf ein erfülltes Leben hin zu entwickeln. Verantwortlichkeiten werden hier, gemeinsam mit den Steyler Missionsschwestern, von denen getragen, die sonst häufig überall „raus gefallen“ sind. Was hat das mit einer Kirche der Armen zu tun? Der TaK ist kein sozial-caritativer Treff. Er ist eine Kirche, die bewusst das Bündnis mit den Mächtigen und Eliten aufgegeben hat, um sich auf der Seite der „Kleinen“ für ein Leben in Fülle einzusetzen.7 So eine Entscheidung fordert eine prophetische Praxis in einer zerrissenen und ausgrenzenden Welt, welche diese Verhältnisse anklagt und die Notwendigkeit der Veränderung proklamiert. Auch im TaK weiß man um die Schwierigkeit solch eines politischen Engagements, schließlich ist für die meisten dort schon häufig der Alltag ein Kampf mit Behörden und zu vielem anderen. Doch ohne aktiv solche Räume der Solidarität zu schaffen, sind Veränderungen „von unten“ nicht denkbar. Eine Kirche wie der Treff am Kappellchen ist deshalb auch nicht als Zielpunkt zu verstehen, sondern zuerst als ein Ort, der Perspektiven der Solidarität ermöglicht, um dann weitere Schritte im Sinne des Gottesreiches gehen zu können. Eine Kirche der Armen muss immer aus dieser Perspektive sehen und ihre Praxis, ihr prophetisches Engagement, von dort entwickeln.

Kirche der Armen geht nur politisch

Um die Problematik der Armut zu verstehen und Wege ihrer Überwindung einschlagen zu können, ist es wichtig, Armut im Verhältnis zum existierenden Reichtum zu thematisieren. Damit wird auch eine Auseinandersetzung mit den ökonomischen und politischen (und ideologischen) Bedingungen der Gesellschaft notwendig. Diese funktionieren heute vor allem nach neoliberalen Kriterien. Was heißt das? Der gegenwärtige Neoliberalismus ist vor allem durch einen Prozess der Ökonomisierung der Gesellschaft geprägt. Das heißt, dass die Gesellschaft als ganze, ihre Institutionen, wie Schulen, Ämter usw. sowie immer mehr Lebensbereiche der einzelnen Menschen in Kategorien des Kosten-Nutzen-Verhältnisses aufgefasst werden. Diesen Prozess charakterisiert vor allem ein Satz: There is no alternative – Es gibt keine Alternative. Die Kosten-Nutzen-Rechnung ist der einzige gültige Rahmen und dieser Rahmen ist alternativlos. Die Folge ist, dass ein Denken, welches Alternativen zu diesem Rahmen für möglich hält, kaum (noch) existiert, dass die Hoffnung auf andere Rahmenbedingungen, auf eine „andere Welt“, biblisch das Reich Gottes, bedeutungslos geworden ist. In den sozialen Bewegungen hat diese Hoffnungslosigkeit einen eigenen Namen erhalten: Man spricht vom TINA-Syndrom.

Eine Kirche der Armen ist heute vor allem eine, die im gleichen Maße, wie sie die materiellen Bedürfnisse der Menschen in den Blick nimmt, auch auf dieses TINA-Syndrom eingehen muss. Denn nur mit der Vorstellung und der Hoffnung, dass diese „Rahmenbedingungen“ nicht alles sind, lassen sich Handlungsperspektiven auf eine „andere Welt“ hin entwickeln. Eine Kirche der Armen ist heute herausgefordert, Handlungsfähigkeiten zu ermöglichen sowie ein Bewusstsein für die Möglichkeit der Veränderbarkeit des Bestehenden zu entwickeln. Das Erarbeiten von Hoffnung auf Veränderbarkeit kann beispielsweise in Auseinandersetzung mit den biblischen Geschichten geschehen, die eine Fülle von Grenzüberschreitungen, Bewegungen und der Ermöglichung des Unmöglichen bieten. Dabei muss die Frage nach der Richtung geklärt werden. Es braucht Orientierungspunkte. Insofern es sich vor allem um strukturelle Probleme (Armut, Erwerbslosigkeit, Konkurrenz usw.) handelt, muss Handlungsfähigkeit auch in Bezug auf diese Strukturen hin entwickelt werden. Dadurch bekommt eine Kirche der Armen eine politische Ausprägung. Sobald das Handeln und Fordern über das unmittelbar eigene (wichtige!) Interesse hinausgeht und andere miteinbezieht, bekommt dieses Handeln eine politische Dimension. Der Begriff des Politischen bzw. der Politik ist jedoch alles andere als eindeutig, wird Politik doch gemeinhin mit den Parteien und der Regierung identifiziert und darauf beschränkt. Die Regierung soll die Gesellschaft und ihre vielfältigen Institutionen (beispielsweise Schulen) organisieren, Gelder verteilen, Entscheidungen treffen und die verschiedenen Parteien sollen die Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen in die Entscheidungsfindungsprozesse des Verwaltungsablaufs einbringen und „stark machen“. Politik wird dabei als etwas verstanden, dass innerhalb der bestehenden ökonomisch-rechtlichen Rahmenbedingungen die Ordnung organisiert.8 Die Rahmenbedingungen gelten dabei in der Regel als unhinterfragbar. Diese Art von Politik, so schlagen es viele moderne politische Theoretiker_innen vor, könnte man vielleicht besser mit dem Begriff der Verwaltung oder der verwaltenden Politik versehen. Aber dieses Verständnis von Politik ist hier nicht gemeint, wenn von der politischen Dimension einer Kirche der Armen gesprochen wird.

Neben dem Politikverständnis der Verwaltung gibt es auch noch eines, welches eine Praxis bezeichnet, die nicht auf die Verwaltung „von außen“ oder „von oben“ setzt, sondern wo Menschen selbst den Anspruch erheben die Allgemeinheit der Gesellschaft zu repräsentieren. Einfach formuliert: Von „unserem“ Standpunkt aus sollen die (ökonomischen, rechtlichen, kulturellen) Rahmenbedingungen gestaltet und strukturiert werden.9 Politik bezeichnet in diesem Fall immer den Prozess, der auf die Grundordnung einer Gesellschaft einwirkt oder einwirken will, um diese zu verändern, statt sich nur auf der verwaltenden Ebene zu bewegen. Politik in diesem Sinne beansprucht notwendig auch immer allgemeine Gültigkeit, da die Grundordnung (z.B. eine bestimmte Wirtschaftsform) immer alle betrifft, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Es ist wichtig zu sehen, dass beide vorgestellten Möglichkeiten als Politik verstanden werden können, aber sich voneinander unterscheiden. Die beiden Politikverständnisse lassen sich an einem Beispiel skizzieren: Als Erwerbsloser kann ich für mich mehr Geld vom zuständigen Amt fordern, weil das mir ausgezahlte Geld einfach nicht ausreicht. Damit appelliere ich an die gegebenen gesellschaftlichen Verwaltungsstrukturen (an die verwaltende Politik). Oder ich setze mich dafür ein, dass das Einkommen grundsätzlich nicht mehr an eine Erwerbsarbeit gebunden ist, sondern dass allen Menschen ein Einkommen, das zum guten Leben reicht, zusteht, unabhängig von einer Erwerbsarbeit10. Solch eine Forderung betrifft jede und beansprucht Allgemeingültigkeit. Diese politische Praxis hat das Anliegen, auch (oder sogar vor allem) den anderen zu ihrem Recht zu verhelfen.11 Im ersten Fall wird „Politik“ als etwas verstanden, was die ökonomischen Rahmenbedingungen verwaltet, im anderen Fall als Eingriff oder Intervention in diesen bestehenden Rahmen und seine Verwaltung (von oben).

Natürlich stellt sich dabei die Frage nach der Legitimität. Wer darf beanspruchen an den Grundlagen, die alle betreffen, zu „rütteln“? Wer hat das Recht so weitreichende Eingriffe zu tun oder wenigstens zu beanspruchen? Diese Fragen werden in einer Welt, die, wie oben dargestellt, so viele Ausschlüsse produziert, virulent. Schließlich handelt es sich bei den Ausgeschlossenen um diejenigen, die am wenigsten (bzw. gar keinen) Einfluss auf die ökonomischen, rechtlichen, kulturellen Rahmenbedingungen haben. Ein politischer Akt kann immer in dem Maße Legitimität beanspruchen, wie er Menschen mit einschließt (bzw. nicht ausschließt) und zu größerer Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung führt. Ein Verständnis von Politik, welches diese als eine intervenierende, eingreifende Praxis in die Rahmenbedingungen versteht, ist natürlich auf die Hoffnung auf eine „andere Welt“ angewiesen, auf die Hoffnung, dass die Verhältnisse nicht so sein müssen, wie sie sind. Solche Hoffnung braucht heute dringend Orte, an denen sie gemeinsam entwickelt und mit einer entsprechenden Praxis verknüpft werden kann. Solch ein Ort, solch eine Gemeinschaft könnte eine Kirche der Armen sein. Und umgekehrt: Wenn eine Kirche der Armen sich von der Sache der Armen, biblisch ausgedrückt, vom Reich Gottes her versteht, muss sie einerseits eine Hoffnung gegen die herrschende Ideologie der Alternativlosigkeit entwickeln. Andererseits muss sie einen Raum schaffen, von dem aus solidarisch eine Praxis entwickelt werden kann, die die Verhältnisse, welche Armut produzieren, überwindet. Solch eine Praxis wird auch zu einer politischen Praxis, sobald sie ein Leben in Fülle für alle anstrebt. Beispiele dafür gibt es, wie der TaK, die Kirche der kleinen Leute, zeigt. Doch so eine Praxis, so eine Politik des Lebens in Fülle für alle12 geht natürlich nur gemeinsam. Es bedarf nicht nur mehrerer solcher Kirchen der Kleinen, sondern auch einer gemeinsamen Vernetzung und Organisierung dieser Initiativen. Eine so verstandene Kirche der Armen wird angesichts des oben skizzierten Skandals der Armut auch in Deutschland dringend gebraucht.

Zum Autor:

Philipp Geitzhaus ist Mitarbeiter am Institut für Theologie und Politik mit den Arbeitsscherpunkten Befreiungstheologie, Neue Politische Theologie, Krisenproteste, Flucht/Migration, Projekt „Zeichen der Zeit / Konzilserinnerung.

*Veröffentlicht in: Institut für Theologie und Politik (Hg.): „Anders Mensch sein in einer anderen Kirche …“. Dokumentation und Weiterführung der Konziliaren Versammlung Frankfurt 2012. Münster 2014. S. 32 – 36.

1Vgl. zu den Stichworten: Kirche der Armen, Katakombenpakt und zweites Vatikanisches Konzil die entsprechenden Artikel in: Institut für Theologie und Politik (Hg.): Der doppelte Bruch. Das umkämpfte Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ein Werkbuch, Münster 2011.

4Stiftung Volksverein u.a. (Hg.): Steh auf und geh. Der Treff am Kappellchen als Kirche der kleinen Leute. Ein Werkbuch, Mönchengladbach 2013, S. 7.

5Heitmeyer, Wilhelm: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt, in: Ders. (Hg.): Deutsche Zustände, Folge 10, Berlin 2012, S. 15f.

6Stiftung Volksverein u.a. (Hg.): Steh auf und geh. Der Treff am Kappellchen als Kirche der kleinen Leute. Ein Werkbuch, Mönchengladbach 2013, S. 5. Im folgenden beziehe ich mich auf diese Arbeit.

7Der TaK bezeichnet sich selbst eher nicht als Kirche der Armen, sondern eher als „Kirche der kleinen Leute“.

8Vgl. Hellgermann, Andreas: Vom Design zur Sache. Eine fundamentaltheologische Untersuchung zum Umgang mit den Dingen, Berlin 2006, S. 200 und vgl. Žižek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt 2001, S. 273f.

9 Die Frage der Legitimität dieses Standpunkts hat dabei vorerst eine nachgeordnete Bedeutung.

10Ein sogenanntes bedingungsloses Grundeinkommen.

11Vgl. Hellgermann: Vom Design zur Sache, S. 204.

12„Politik“ ist natürlich im Sinne der oben dargestellten intervenierenden, rahmenüberwindenden Praxis gemeint.

Geitzhaus Kirche der Armen politisch