Tunesien: Militär schießt mit Tränengas auf Flüchtlinge – Lokalbevölkerung brennt Zelte ab

Mehrere Tote gestern bei Brand in der Zeltstadt im Sand
Tausende subsaharische Flüchtlinge und MigrantInnen stecken im Lager Choucha nahe der libyschen Grenze fest – viele fliehen zurück nach Libyen

Choucha ist eines von vier an der offenen tunesisch-libyschen Grenze gelegenen Lagern zwischen Ben Guardane und Ras Jdir. Es wurde vom UNHCR, dem Rotem Kreuz und Rotem Halbmond am 24.2.11 kurz nach Beginn der Auseinandersetzungen in Libyen errichtet als überwiegend Ägypter und Bangladeshi ankamen. Dort, in wüstenartigem Gebiet, müssen zur Zeit 4000 bis 5000 vor allem subsaharische und ostafrikanische Flüchtlinge aus 30 Nationen in Zelten leben, wenn sie Schutz durch den UNHCR beantragen wollen. Diejenigen, die über Geld und Pässe verfügen, können prinzipiell ins Landesinnere weiterreisen, in der Realität stellt sich dies jedoch aufgrund von tunesischen Polizei- sowie Militärkontrollen als (nahezu) unmöglich dar. Laut UNHCR sind rund 3800 der ZeltstadtbewohnerInnen als Flüchtlinge oder Asylsuchende registriert und der größte Teil lebt bereits seit zwei bis vier Monaten dort. Dieser vom UNHCR-Sprecher als „zweite Vertreibung“ bezeichnete Situation trifft vor allem Flüchtlinge aus Ländern, in die sie nicht zurück können wie Somalia, Sudan, Eritrea, der Elfenbeinküste oder dem Irak. Ein Ende dieser Notaufnahme in sandigen Zelten mit völlig improvisierter Infrastruktur und schlechtem Wasser ist für die Menschen nicht in Sicht. In den letzten Wochen kehrten aus dem Camp bereits ca. 700 Flüchtlinge wieder nach Libyen zurück, um trotz des Wissens um die Lebensgefährlichkeit der zurzeit billigen Überfahrt eines der überfüllten Boote nach Italien zu besteigen. Das tödliche Risiko wird in Kauf genommen angesichts einer unerträglichen und ungewissen Situation im Lager in Choucha. Laut Firas Kayal, UNHCR-Sprecher vor Ort, gibt es erst 900 Zusagen für Resettlement, d.h. Aufnahme in einem sicheren Drittstaat. Dem gegenüber steht ein Bedarf von etwa 6000 Plätzen, um subsaharische Libyen-Flüchtlinge auszufliegen.

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Im Vergleich zu den mehreren Tausenden, die schon in ihre Herkunftsländer ausgereist sind und insbesondere bezüglich der rund hundertausend Flüchtlinge libyscher Herkunft, die in Tunesien solidarisch empfangen, versorgt und zum Teil privat untergebracht wurden, erscheint diese Zahl absolut lächerlich. Gleichwohl verweigern sich bislang insbesondere die EU-Regierungen selbst der kleinsten Geste der Solidarität, um Flüchtlinge aufzunehmen.
In der Nacht vom 21.5. wurden die Menschen im Camp Coucha erneut mit einer erschreckenden Zuspitzung der Lage konfrontiert, als ein Feuer in der Zeltstadt ausbrach. 21 Zelte verbrannten und vier Menschen starben, darunter ein Baby. Dieser Vorfall verstärkte das Gefühl von Unsicherheit und Aussichtlosigkeit im Camp und die Entscheidung vieler Flüchtlinge, lieber den gefährlichen Weg nach Libyen erneut anzutreten. Im Zusammenhang mit der Panik, die dieser Brand aufgelöst hat, brechen nun auch interne Konflikte entlang der Herkunft und Religion aus.

Diese angespannte Atmosphäre im Camp schlug bei vielen BewohnerInnen in die Entscheidung um sich zur Wehr zu setzen. Etwa 300 bis 400 Menschen aus dem Camps Choucha bildeten daraufhin spontan eine Straßenblockade, die bis in den Abend hinein bestand. Gleichzeitig gab es Auseinandersetzungen zwischen der dortigen tunesischen und libyschen Bevölkerung und den CampbewohnerInnen, welche im Werfen von Steinen mündeten. Für die ansässigen TunesierInnen besitzt die blockierte Straße eine essentielle Bedeutung als Handelsweg nach Libyen. Die Lokalbevölkerung forderte, das Camp zu verlegen, da dieses ihre ohnehin geschwächte Wirtschaft lähme. Das tunesische Militär, das die Hoheit über dieses Gebiet innehat, wirkte verunsichert und agierte ohne erkennbare Strategie.

Am Morgen des 24.5. eskalierte die Situation, als das Militär im Laufe von Angriffen auf das Lager zu schießen begann. Nach Angaben von Zeugen gab es 13 Verletzte, darunter ein ins Lebensgefahr schwebende Person und zwei Tote, die aufgrund umgefallener Strommasten starben.

Gegen 11 Uhr wurde das Camp von Menschen aus Ben Guerdane attackiert. Wie Flüchtlinge am Telefon berichten stellte sich das Militär den Angreifern zur Seite.

Schon am Vorabend haben UNHCR und andere Hilfsorganisationen vor Ort das Camp verlassen. Während der Auseinandersetzungen soll sowohl mit Tränengas als auch scharf auf Flüchtlinge geschossen worden sein. Einige der Flüchtlinge berichten aktuell, dass sich sich das Militär zurückgezogen hat, während etwa 250 Anwohner bewaffnet mit Eisenstangen Jagd auf die CampbewohnerInnen macht. Mehrere Hundert Menschen sind in die nahegelegenen Büsche geflohen, um sich zu retten. Der Großteil, schätzungsweise zwei- bis dreitausend Menschen sindauf dem Weg Richtung libysche Grenze, während die aufgebrachte Lokalbevölkerung Zelte abbrennt und das Militär nicht einzugreifen scheint.

Angesichts der Dramatik dieser menschenunwürdigen Situation in den Flüchtlingscamps an der von Tunesien und Ägyypten immer offenen libyschen Grenze erwarten die Flüchtlinge und auch der UNHCR endlich die Öffnung der Grenzen und die Aufnahme von Flüchtlingen aus dieser Region auch in Europa.

Tunesiendelegation der Netzwerke Afrique-Europe-Interact und Welcome to Europe

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