Kern: Theologische Grundlegung des Kirchenasyls

Texte Bild WebFünf Thesen zur politisch-theologischen Grundlegung des Kirchenasyls

von Benedikt Kern, 2018 (Institut für Theologie und Politik, Münster)

Die folgenden Thesen wurden auf einer Tagung der BAG Asyl in der Kirche im November 2018 vorgestellt und stehen hier auch als pdf zur Verfügung. Weitere Texte finden sich in der Rubrik „Kirchenasyl“ und „Texte„.  Kern Theologische Grundlegung des Kirchenasyls

Die Kirchenasylpraxis bedarf unserer Erfahrung nach einer fundierten theologischen Begründung, um einerseits für Gemeinden und Ordensgemeinschaften eine Vergewisserung der eigenen Praxis liefern zu können und zum anderen eine Begründung darstellt, die sich nicht in erster Linie auf eine moralische Perspektive stützt. Es lassen sich fünf zentrale Aspekte nennen, die hier als Thesen dargestellt werden.

Das Kirchenasyl als eine kirchliche Praxis der…

● Solidarität

● Option für die Armen/der Positionierung gegen globale Ungerechtigkeit

● des prophetischen, öffentlichen und zeichenhaften Handelns

● des messianischen Gesetzesverständnisses

● des Menschenrechtsschutzes

1) Das Kirchenasyl als eine Praxis der Solidarität statt Abschottung, Ausgrenzung, Entrechtung und Abschiebung

Hintergrund: Die Geschichte des Asylrechts ist spätestens seit dem Asylkompromiss von 1993 in Deutschland eine Geschichte der Verschärfung und Beschneidung von Grundrechten. Gerade die Asylpakete (sichere Herkunftsländer, Lagerunterbringung, erhöhte Abschiebezahlen, effektivere Durchsetzung des Dublin-Systems, Residenzpflicht und Sachleistungen, Einschränkung des Zugangs zu Bildung, medizinischer Versorgung und Arbeit) aus den letzten drei Jahren zeigen: Die migrationspolitische Maßschnur ist ein immer weiter ausgebautes Management der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt und die Frage des Schutzes vor Gewalt, Verarmung und Verfolgung spielt eine nachgeordnete Rolle. Dies schlägt sich in der Abschiebepraxis nieder (28.000 Abschiebungen im Jahr 2017).

Solidarität (griechisch: agape=Liebe) ist aus der biblischen Tradition heraus eine theologische Grundkategorie, die das Verhältnis von Menschen untereinander und mit der Schöpfung ausmacht, um die Verheißung der Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten einzulösen. Solidarität gilt dabei in erster Linie jenen, die versklavt sind und/oder sich im Kampf um Befreiung für die Überwindung ungerechter gesellschaftlicher Bedingungen einsetzen. Insofern ist sie eine Verhältnisbestimmung und nicht allein ein Gefühl des Mitleids. Solidarität kann nicht allein erklärt werden und folgenlos bleiben, sondern sie mischt sich ein. Aus einer solchen Solidarität erwächst die Hoffnung auf Veränderung des Bestehenden und diese Hoffnung wiederum bestärkt die solidarische Praxis. Papst Franziskus hat es auf den Punkt gebracht: „Angesichts der Tragödie Zehntausender von Flüchtlingen, die vor dem Tod durch Krieg und Hunger fliehen und zu einem hoffnungsvolleren Leben aufgebrochen sind, ruft uns das Evangelium auf, ja es verlangt geradezu von uns, »Nächste« der Geringsten und Verlassenen zu sein. Ihnen eine konkrete Hoffnung zu geben. Nicht nur zu sagen: »Nur Mut, habt Geduld…!« Die christliche Hoffnung ist kämpferisch, mit der Beharrlichkeit dessen, der auf ein sicheres Ziel zugeht.“

So verstandene Solidarität ist deshalb keine Vertröstung, sondern die Basis dafür, real die Verhältnisse anzupacken im Sinne des Magnificats (Lk 1,26–56): Auf dass die Hungrigen zu Essen haben, die Reichen aber leer ausgehen; die Niedrigen erhöht werden und die Mächtigen vom Thron gestürzt werden.

These: Angesichts der gegenwärtigen politischen Situation sind die Kirchen herausgefordert, Solidarität nicht nur zu bekennen, sondern sie exemplarisch auch praktisch werden zu lassen, z.B. im Kirchenasyl – auch wenn dies mit Konflikten mit den staatlichen Stellen sowie politischen AkteurInnen einhergehen kann. Es geht aber darum, exemplarisch Menschen zu schützen, die von inhumanen Härten bedroht sind, wie durch eine Abschiebung ins Elend.

2) Das Kirchenasyl als eine Praxis der Option für die Armen und der eindeutigen Positionierung gegenüber globalen Kämpfen um Autonomie und Egalität statt Reproduktion und Stabilisierung des Status quo

Hintergrund: Armut, Kriege und der Klimawandel sind die wesentlichen Gründe für Flucht und Migrationsbewegungen. Viele dieser Fluchtursachen sind durch den globalen neoliberalen Kapitalismus verursacht und haben ihren Ausgangspunkt in der Wirtschaftsweise des globalen Nordens. Auf dem Weg in jene Länder, die von diesen Verhältnissen profitieren, stoßen viele Menschen auf der Flucht auf unüberwindbare Mauern, an denen unzählige in den letzten Jahren ihr Leben verloren haben.

Die oben benannte parteiliche Solidarität fußt theologisch darauf, dass als Vorverständnis für biblische Schriften der gesellschaftliche Standpunkt der Armen und Unterdrückten einzunehmen ist. Hierfür gibt es drei Gründe. Erstens: Dem jüdisch-christlichen Gottesverständnis nach hat Gott selbst hat die Versklavten erwählt und ihnen Befreiung als die Verheißung des Lebens zugesagt. Wenn der Mensch als Ebenbild Gottes verhöhnt wird, ist dies auch ein Hohn gegen Gott selbst (vgl. auch Mt 25). Von Jesus wird gesagt, dass er Partei für die Armen ergriffen hat. Das heißt, dass er nicht mit den Reichen gemeinsame Sache gemacht hat (vgl. die Sättigung der Vielen, Mk 6,35-44, und die Weherufe über die Reichen, Lk 6,20b.24). Zweitens ist die Option für die Armen (oder anders gesagt: Option wegen der Armen) eine analytische Option, die immer in einer Gesellschaftsanalyse fußt, die die gesellschaftlichen Konflikte und Interessen als die Gründe für Verelendung und Ausgrenzung aufdeckt. Die Option für die Armen ist eine parteiliche Perspektive auf die ökonomischen, politischen und ideologischen Bedingungen der Gesellschaft und ihrer Konflikte. Zum dritten schließt diese Option die politische Bedeutung jener ein, die unter der Sklaverei zu leiden haben und von denen die Errichtung von Egalität und Autonomie angestrebt wird. Dies nimmt deswegen die Subjekthaftigkeit jener ernst, die die Ausgeschlossenen sind. Aus diesem Grund widerspricht diese Option jeder Form von Paternalismus oder Assistenzialismus.

These: Die Praxis der Kirchen kann nur dann ihrem Ursprung und der Verheißung des Reiches Gottes treu bleiben, wenn sie eine parteiliche Praxis ist. Eine parteiliche Praxis macht sich die gesellschaftlichen Widersprüche (wie z.B. arm und reich, mit und ohne Papiere etc.) bewusst und versucht diese zu überwinden, statt am Status quo (am immer-weiter-so) festzuhalten. Das Kirchenasyl unterstützt von Abschiebung bedrohte Geflüchtete mit ihrem Willen nach einem selbstbestimmten Leben in Würde und in Gleichheit. In einem Kirchenasyl können Menschen sich als Subjekte ihres Handelns erfahren.

3) Das Kirchenasyl als eine Praxis des prophetischen, öffentlichen und zeichenhaften Handelns, das eine Perspektive auf die Realisierung des guten Lebens für alle eröffnet

Hintergrund: Durch die gesellschaftliche Kräfteverschiebung gewinnen rechte Positionen an Legitimität. Gleichzeitig setzt sich ein marktförmiger Umgang in der Migrationsdebatte immer mehr durch: Hier bleiben darf, wer auf dem Arbeitsmarkt verwertbar ist, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken durch billige Arbeitskraft, jedoch auch durch high potentials. Deswegen gehen Abschottung und Integration Hand in Hand.

Die prophetische Tradition der Bibel ist immer zentral, wenn auch oft marginalisiert gewesen. Die ProphetInnen haben gesellschaftliche und religiöse Missstände aufgedeckt, entlarvt und öffentlich kritisiert. Sie haben hierfür die Exoduserfahrung zum Maßstab genommen und die Tora als Verstetigung dieser Befreiungsgeschichte interpretiert. Dementsprechend waren die unterschiedlichen Formen von Herrschaft und Unterdrückung aus ihrer Sicht immer auch Brüche mit dieser Geschichte und mit dem Versprechen von einem zukünftigen Land, in dem Mich und Honig fließen werden (vgl. Ex 3,8). Dabei haben die ProphetInnen meist die Herrschenden in aller Deutlichkeit für ihr Tun verantwortlich erklärt und zur Umkehr aufgerufen, um neu anzufangen. Das heißt, die Hoffnung auf Veränderbarkeit, als einen „erlösenden Wandel“ (Papst Franziskus), ist für die prophetische Praxis konstitutiv. Die Legitimation der ProphetInnen besteht biblisch in ihrer Sprechposition auf Seiten derer, die ihrer Stimme beraubt sind. Was jedoch auch bedeutet, dass sie in der Regel nicht für eine Mehrheit, sondern für eine ignorierte oder ausgegrenzte Minderheit die unhintergehbare Wahrheit des Leidens ins Wort gefasst haben – auch wenn sie dafür Strafen oder gar den Tod auf sich nehmen mussten.

These: Das Kirchenasyl ist immer auch prophetisch, da es das strukturelle Unrecht des Abschieberegimes entlarvt und mahnend dafür einsteht, dass eine humane Praxis möglich und erst recht notwendig ist. Es instrumentalisiert dabei nicht den Einzelfall, sondern es ist ein exemplarischer, vor dem Gewissen und der biblischen Tradition begründeter prophetischer Einspruch in der Öffentlichkeit, gerade auch wenn es hierfür keinen breiten Konsens gibt.

4) Das Kirchenasyl als eine Praxis des messianischen Gesetzesverständnisses statt einer Einwilligung in die gegenwärtige Entrechtung durch den bürgerlichen Rechtsstaat

Hintergrund: Durch die Verschärfung des Asylrechts sind rechtsstaatliche Mittel und Spielräume im Handeln der Behörden immer enger geworden. Abschiebungen nach Afghanistan, in den Irak oder von Minderheiten in den Westbalkan, jedoch auch Dublin-Überstellungen in die Obdachlosigkeit und das in Kauf nehmen von Kettenabschiebungen machen deutlich, dass auch Gerichte dem Handeln des BAMF und der Ausländerbehörden nur bedingt etwas entgegensetzen können. Ein Beharren auf rechtsstaatliche Lösungen kann unter den gegenwärtigen asylrechtlichen Rahmenbedingungen eine humane Behandlung von Geflüchteten nicht gewährleisten. Dies kann in einem Staat eines wohlhabenden Industrielandes jedoch strukturell auch nicht geleistet werden, da es hier immanente Widersprüche und Interessenskonflikte gibt.

Die Praxis Jesu, eines messianischen Gesetzesverständnisses wird deutlich in der Perikope zum Umgang mit dem Sabbatgebot (vgl. Mk 2,27). Papst Franziskus bietet das folgende Verständnis dieses Textes: „An einem Sabbat, hat Jesus, wie das Evangelium erzählt, zwei Dinge getan, durch die der Komplott, ihn umzubringen, beschleunigt wurde. Er ging mit seinen Jüngern durch ein Kornfeld. Die Jünger waren hungrig und aßen von den Ähren. Über den „Eigentümer” des Feldes wird nichts gesagt… Dahinter steht die universelle Bestimmung aller Güter. Es ist wahr: Angesichts des Hungers hat für Jesus die Würde der Kinder Gottes Priorität gegenüber einer formalistischen, angepassten und interessebedingten Interpretation der Normen. Als die Gesetzeslehrer sich in heuchlerischer Empörung beklagten, erinnerte Jesus sie daran, dass Gott Liebe will und nicht Opfer, und klärte sie darüber auf, dass der Sabbat für den Menschen und nicht der Mensch für den Sabbat da ist. Er konfrontierte das heuchlerische, selbstgenügsame Denken mit der demütigen Intelligenz des Herzens, die dem Menschen immer den Vorrang einräumt und jene Logiken ablehnt, welche die Freiheit des Menschen zu leben, zu lieben und anderen zu dienen untergräbt.“

Es geht hier also weder um die Infragestellung des äußerst positiven Sabbatgebotes, noch um eine anti-jüdische Uminterpretation dieser Tradition, sondern um die Verdeutlichung seines messianischen Gesetzesverständnisses: Demnach muss das Gesetz (das menschengemacht und deshalb änderbar ist) immer im Dienste des Menschen stehen und ihn nicht soweit dem Gesetz unterordnen, dass dies dem Leben des Menschen zuwiderläuft. Das heißt, wo nicht der Mensch selbst zur höchsten Norm des Gesetzes wird, der Sabbat also nicht mehr für den Menschen da ist, sondern allein die formale Erfüllung des Gesetzes im Vordergrund steht, wird der Mensch „einer despotischen Macht unterworfen“ (Franz Hinkelammert). Jedes Gesetz muss sich also daran messen lassen, ob es neues Leid hervorbringt für diejenigen, die am stärksten des schützenden Rechts bedürfen.

These: Die Kirchen sind dazu herausgefordert, angesichts einer inhumanen Asylgesetzgebung ihrer „demütigen Intelligenz des Herzens“ den Vorrang zu geben, gegenüber einer einfachen Erfüllung und Unterordnung unter die bestehende Ordnung. Das bedeutet, dass dem Staat keine freie Hand gelassen werden darf, wenn er Menschen abschiebt. Es braucht vielmehr eine eindeutige Kritik dieser Gesetzgebung und eine Praxis des Zivilen Ungehorsams, wie das Kirchenasyl, um sich bestehendem Unrecht aktiv zu widersetzen.

5) Das Kirchenasyl als eine Praxis des Menschenrechtsschutzes statt einer Verhinderung der globalen Bewegungsfreiheit

Hintergrund: Das Prinzip der Menschenrechte kann nur universal für alle gelten, ohne Unterschied aufgrund von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache etc. Es reicht jedoch nicht aus, Menschenrechte zu proklamieren, sondern sie werden erst dann eingelöst, wenn sie für alle umgesetzt und einforderbar sind. Zudem sind Menschenrechte nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern die mussten und müssen von denjenigen erkämpft werden, denen sie nicht gewährt werden. Dabei gilt, dass nicht nur kodifizierte Rechte dazu zählen, sondern auch die, welche noch nicht festgeschrieben sind (deswegen aber nicht weniger Geltung haben). Dazu gehört auch das ungeschriebene Menschenrecht auf globale Bewegungsfreiheit. Dies gilt für wenige. So ist mit einem deutschen Pass der visumsfreie Zugang zu 176 Staaten möglich. Zugleich wird den meisten nicht-europäischen Menschen der Zugang nach Europa verwehrt. Die Folge ist, dass tödliche Einreiserouten genommen werden müssen.

Migration ist in den biblischen Erzählungen ein Wesenselement und zeigen wichtige geschichtliche Wendepunkte an: der Zug Abrahams und seiner Familie ins Land Kanaan, die Ankunft Jakobs in Ägypten, der Exodus, das babylonische Exil und die Rückkehr, die Flucht in die jüdische Diaspora etc. Der Schutz von MigrantInnen spielt deshalb auch immer eine große Rolle, so auch in der Tora: „Der/die Fremde, der/die sich bei euch aufhält, soll euch wie ein_e Einheimische_r gelten und du sollst ihn/sie lieben wie dich selbst; denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen“ (Lev 19,34). Die eigene Fluchtgeschichte ist somit der Hintergrund für den menschlichen Umgang mit MigrantInnen. Es ist somit nicht einfach eine moralische Verpflichtung, sondern sie hat mit der eigenen Herkunft zu tun.

Zugleich lässt sich ausgehend von der biblischen Tradition das Recht auf Bewegungsfreiheit aufgrund einer universalen Würde und eines egalitären Menschenbildes begründen. Paulus macht deutlich, dass es nicht mehr „Jude, noch Grieche, nicht Knecht noch Freier, nicht Mann noch Frau“ (Gal 3,28) gibt, sondern es gemeinsame Rechte und eine Autonomie für alle gibt. Entsprechend der Nationalität den Zugang zu einem Territorium zu gewähren oder zu verwehren, widerspricht somit dem biblischen Verständnis des Menschen als Teil eines „gemeinsamen Hauses“ (Papst Franziskus).

These: Jede Abschiebung ist ein Eingriff in die legitime Autonomie von Menschen, erst recht von jenen, denen an bestimmten Orten besondere Härten drohen. Deswegen ist das Kirchenasyl eine notwendige Menschenrechtspraxis, die die eigene Exodustradition ernst nimmt und bereits exemplarisch vorwegnimmt, dass Menschen aus guten Gründen ihren Aufenthaltsort eigenständig bestimmen können, da dies ihr Menschsein mit ausmacht.