Über die Erinnerung

Soziale Bewegung und Erinnerung

Thomas Seibert

Wer zum Thema „Soziale Bewegungen und Erinnerung“ und also über die Geschichte spricht, sollte zuerst die Position benennen, die er mit seiner Rede bezieht. Denn alle Geschichte, und dies ist der erste Satz, den ich von meiner Position aus zu sagen habe, ist die Geschichte sozialer Kämpfe unter den Bedingungen von Klassengesellschaften, von patriarchaler und rassistischer Herrschaft. Deshalb fordert die Geschichte denen, die von ihr sprechen wollen, stets ab, Partei zu ergreifen, ideologische Position zu beziehen. Diese Forderung ist keine abstrakte Forderung, kein moralisches Postulat, dem man sich verweigern könnte: Man hat ihr vielmehr schon in dem Augenblick entsprochen,in dem man – so oder so – das Wort ergreift. Erinnerung und Geschichte werden damit notwendig selbst zum ideologischen Gegenstand und zum Gegenstand ideologischer Kämpfe. Dass schliesst nicht aus, sondern ist sogar die Voraussetzung dafür, dass es wahre historische Erkenntnisse gibt und Erinnerungen, in denen Geschichte wirklich gegenwärtig wird. Nach dem gegebenen Stand der sozialen und ideologischen Kämpfe ist die Erkenntnis der Geschichte zugleich die Erinnerung des Kontinuums der Niederlagen,die bis zum heutigen Tag auf jeden Sieg sozialer Bewegungen folgten.

Den Begriff des Kampfes verwende ich übrigens nicht aus einer Vorliebe für gewaltsame oder gar militärische Auseinandersetzungen oder in Reduktion des historischen Geschehens auf ein simples Freund-Feind-Schema. Ich verwende ihn, weil es in jedem historischen Handeln um Sieg oder Niederlage geht – selbst dort, wo Kompromisse geschlossen werden, und auch dort, wo es um die historische Erkenntnis, um Erinnerungen geht. Dass das so und nicht anders ist, ist ein historisches Faktum, an dem niemand vorbeikommt.

I. Die Position der Erinnerung

Die Position, von der aus ich spreche, ist die eines historischen Materialismus, den die Erinnerungan die bisherige Geschichte zum Pessimismus hat werden lassen. Die Erinnerung ist jedoch nicht nur der Grund, sie ist zugleich die Grenze dieses Pessimismus: Wer die Geschichte als den Raum und die Zeit sozialer Kämpfe denkt, der denkt sie auf die Möglichkeit hin, dass der Sieg zuletzt doch denen zufällt, die um ihre eigene und um die Befreiung aller kämpfen- eine Möglichkeit, die offen steht, solange die Geschichte noch nicht abgeschlossen ist.Deshalb ist die Rede von einem hier und heute schon erreichten Ende der Geschichte stets eine Rede der Herrschaft und der herrschenden Ideologie gewesen. Es sind die Herrschenden, die allein daran interessiert sind, die Geschichte in ihrer Gegenwart abzuschliessen und jene zum Schweigen zu bringen, die ihnen gestern unterliegen mussten.

Im Jahr 1940, als im bis dahin ungebrochenen Siegeszug der faschistischen Armeen die Geschichte schon einmal an ein katastrophisches Ende gekommen zu sein schien, schrieb Walter Benjamin, selbst auf der Flucht, seine 28 Thesen Über den Begriff der Geschichte. Dieser Text ist noch heute eine der wichtigsten Schriften des historischen Materialismus, ich werde ihn im folgenden immerwieder erinnern. Benjamin versucht dort, einer konservativen, der Absicherung der Herrschaft dienlichen Geschichtschreibung eine revolutionäre Geschichtsschreibung entgegenzusetzen. Er schreibt: „Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. (…) Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnetsie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. (…) Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab.“Von wo aus aber bestimmt sich die „Maßgabe des Möglichen“, die dem historischen Materialisten das Abrücken vom Überlieferungsprozess der herrschenden Ideologieund die Rettung der Erfahrungen wie der Hoffnungen der Unterlegenen erlaubt? Für Benjamin ist diese „Maßgabe des Möglichen“ einem „Anspruch“zu entnehmen, der von den verlorengegangenen Kämpfe der Vergangenheitan diejenigen ergeht, die sich heute der Fortdauer der Herrschaft widersetzen.“Ist dem so“, sagt Benjamin, „dann besteht eine geheime Verabredung zwischenden gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialist weiss darum.“

Um dieses Wissen auszulöschen,versucht die herrschende Ideologie, die Unterlegenen von ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Tradition zu trennen und jedes Bewusstsein darüber auszulöschen, dass die Subjekte der Geschichte selbst geschichtliche Subjekte sind. Sie tut das, in dem sie uns in der Gegenwart einschliesst. Sie konstruiert diese Gegenwart als Vollendung der Vergangenheit und Höhepunkt der Geschichte, und sie konstruiert die Zukunft als Verlängerung der Gegenwart. Damit wird die Geschichte zur homogenen Zeit, die, in flüchtige Gegenwarten zersplittert, unumkehrbar von der Vergangenheit in die Zukunft fliesst. Wer historisch existiert, lebt aber nicht nur im gegebenen Augenblick,sondern im offenen Prozess der sozialen und ideologischen Kämpfe. In diesem Prozess sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht defintiv getrennt und niemals endgültig bestimmt: Was gewesen sein wird, entscheidet sich jetzt und morgen, ist Teil gegenwärtiger wie künftiger Kämpfe,und nicht einfach nur ein vergangenes Ereignis, das im Fluss der Zeit immer weiter in die Vergangenheit versinkt und irgendwann gänzlich verlorengeht. Deshalb führen wir nie allein die Kämpfe unserer Gegenwart, sondern immer auch die Kämpfe derjenigen, die uns vorausgegangen sind. Darum ist uns die Möglichkeit gegeben, in unseren Siegen die Niederlagen umzukehren, die andere gestern hinnehmen mussten. Um die Niederlagen der Vergangenheit umkehren zu können, dürfen wir uns aber gerade nicht in unserer Gegenwart einschliessen lassen, sondern müssen uns dem Anspruch öffnen, den die Vergangenheit an uns richtet. Benjamin schreibt: „Vergangenes historisch artikulieren heisst nicht, es erkennen‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heisst, sich einer Erinnerungbemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wiees sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwinden.“

II. Der Tigersprung in die Vergangenheit

Stimmt das, dann kommt alles darauf an, den Anspruch, der aus der Vergangenheit an eine Gegenwart ergeht, angemessen zu verstehen. Ein solches Verständnis schliesst ein: Sichals den Angesprochenen zu verstehen und zugleich zu verstehen, was im Anspruch gefordert wird. Anspruch und Hören des Anspruchs sind selbst historisch,d.h. es gibt sie immer nur in einer gegebenen historischen Situation. Unserehistorische Situation ist von der Niederlage der sozialen Bewegungen der letzten vierzig Jahre bestimmt, mit der der neoliberale Globalisierungsprozess erst so richtig in Fahrt gekommen ist. Historisch genauer gesprochen: Die Globalisierungsoffensive des Kapitals beginnt in den 70er Jahren, und sie beginnt als Antwort auf seine globale Infragestellung durch die sozialen Revolten der 60er und 70er Jahre. An der Oberfläche der Ereignisse markiert das Jahr 1989 die für uns heute entscheidende Wendemarke, als das Jahr, in dem mit dem Kollaps der Sowjetunion der ganze staatssozialistische Block und damit die historische Konstellation der Nachkriegszeit zusammenbrach. Die Niederlage betraf allerdings nicht allein die staatssozialistischenRegime und Parteien. Sie betraf sämtliche soziale Bewegungen und alle Strömungen der Linken, auch und gerade die, die sich nicht alleinder kapitalistischen, sondern auch der staatssozialistischen Herrschaft widersetzt hatten. Weil die Niederlage von 1989 in diesem Sinn eine umfassende Niederlage aller sozialen Bewegungen und der gesamten Linken war, hat sie auf der Seite der Sieger zu einem Antikommunismus neuen Typs geführt. Der alte gehörte zum Kalten Krieg, er erkannte die kommunistische Alternative zum Kapitalismus ausdrücklich an und denunzierte sie zugleich als das real existierende Böse zum Guten des „freien Westens“ undder liberalen Demokratie. Der neue Antikommunismus besteht dem gegenüberin der Leugnung einer Alternative überhaupt; auch und gerade deshalb ist „Globalisierung“ eines seiner Schlüsselwörter: Es soll nur Eine Welt und Eine Weltordnung sein, neben der es eine andere gar nichtmehr geben kann, neben der andere nicht einmal denkbar sind. Dies ist die zeitgenössische Form, uns in unserer Gegenwart einzuschliessen, unsere Überlieferung dem Konformismus der Herrschaft einzuverleiben und unsere Niederlage dergestalt in der leeren Gegenwart des Von-jetzt-an-Immergleichen zu vollenden.Wer von einer Niederlage spricht, und darüber hinaus von einer Niederlage diesen Ausmaßes,der spricht von der Übermacht des Gegners. Damit würde allerdings übersehen, dass eine Niederlage immer auch auf Ursachen zurückgeht, für die allein die Unterlegenen verantwortlich sind: Das Ende, dasvon aussen hereinbricht, ist von innen vorbereitet worden.

Dazu passt dann auch,dass der Chor der herrschenden Ideologen von Stimmen verstärkt wird,die sich auf die sozialen Bewegungen der 60er, 70er und 80er Jahre berufen und sich als deren historische Führer ausgeben. Diese Stimmen autorisieren die herrschende Ideologie und ihr Dogma von der Einen und Einzigen Weltordnung durch die Deutung, die sie den Bewegungen verleihen, die sie jetzt verleugnen und verleumden. Man habe 1968, so heisst es, die Verkrustungen des nachfaschistischen westdeutschen Staates und die Verdrängung der faschistischen Epoche gesprengt, um die Bundesrepublik in die liberale Demokratie und die westliche“Wertegemeinschaft“ zu führen. Man sei dabei, so ist zu hören, zeitweilig über das Ziel hinausgeschossen und habe sich gelegentlich in der Wahl der Mittel getäuscht. Doch sei, so kommt man zum versöhnlichen Ende, gerade im Überschwang die Demokratisierung geglückt, weshalb heute jeder Rückgriff auf die Revolte von damals unnötig geworden sei – was insbesondere die zu beherzigen hätten, die sich heute zu ihr aufgerufen fühlten. Mag das auch viele 68er lebensgeschichtlich überzeugen: die sozialen Bewegungen der gemeinten Epoche gehen darin nicht auf, sie haben mehr und anderes gewollt und haben dieses Mehr und dieses Andere zugleich verfehlt. Zwar ist historisch richtig,dass die DemonstrantInnen der Studentenbewegung in ihrer Mehrzahl tatsächlich von den Motiven bestimmt waren, die ihre heutigen Repräsentanten jetztals einzige gelten lassen wollen: das Erschrecken über die Kontinuitäten zwischen dem faschistischen und dem nachfaschistischen Deutschland, überdie Verdrängung der Vergangenheit, die Leugnung der historischen Schuld,all dies aktualisiert in der Empörung über den Vietnamkrieg. Dem entspricht, dass sich die sozialen Bewegungen des Jahres 1968 zunächst keineswegs als sozialistische oder kommunistische Bewegung verstanden. Doch kam es mit der brutalen Zerschlagung der Schahdemonstration, der Ermordung Benno Ohnesorgs, dem Attentat auf Rudi Dutschke und der mörderischen Hetzkampagne der Springerpresse zu einer tief greifenden Radikalisierung der Bewegung. Wer dabei blieb, dem stellte sich eine ganz neue Frage: Wenn wir mehr sind als eine studentische Opposition mit beschränkter demokratischer Zielsetzung, was ist dann eigentlich unser historischer Horizont, in welcher Geschichte, in welcher Tradition stehen wir und wie verhalten wir uns zu dieser Tradition?

In diesem Augenblick führtedie soziale Bewegung der Jahre um 1968 zwei Ansprüche zusammen, dieaus der Vergangenheit an sie ergingen: den Anspruch der Opfer des Faschismus,sich dieser furchtbaren Epoche zu stellen, ihre Verdrängung aufzubrechen,und den Anspruch, die Kämpfe derjenigen wiederaufzunehmen und fortzuführen,die mit der Machtübernahme des Faschismus ihre Niederlage erfahrenmussten. Indem sie diese Ansprüche ernst zu nehmen versuchte, gingdie Bewegung im Sinne Benjamins ihre „geheime Verabredung“ mit denihr vorhergegangenen Bewegungen ein.

Es ist gerade diese Wendung,die von den herrschenden Ideologen und denen, die sich ihnen mittlerweile angeschlossen haben, verdeckt wird. Auf den Punkt gebracht: Die AktivistInnen der 68er Bewegungen entnahmen der Besinnung auf ihre historische Position den Auftrag, das Fortwirken des Faschismus durch die Fortsetzung der sozialen Revolution zu brechen, die der Faschismus besiegt hatte. Die Epoche des Faschismus und die Epoche vor dem Faschismus – der herrschenden Ideologie zufolge abgeschlossene Vergangenheiten, an denen nichts mehr zu ändern ist – wurden ihr – mit Benjamin gesprochen – zur „Jetztzeit“: „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand sich als wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom, genauso wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt,in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische, als den Marx die Revolution begriffen hat.“

Kann man in der Aneignung der Vergangenheit, wie sie die sozialen Bewegungen vor allem der 70er Jahre versucht haben, von einem solchen „Tigersprung ins Vergangene“ reden? Haben die Subjekte dieser Bewegung sich dem Anspruch der Vergangenheit geöffnet, haben sie ihn verstanden oder mißverstanden, war da überhaupt etwas zu verstehen, sprach ein Anspruch? Und: was hat oder hätte dies mit ihrem eigenen Schicksal, d.h. ihrer letztendlichen Niederlage zu tun?

Im Kampf um die Vergangenheit, wie er in der Bewegung vor allem der 70er Jahre geführt wurde, lassen sich grob zwei Parteien ausmachen: die „Antiautoritären“ und die „Traditionalisten“. Ich sage grob, weil die Brüche und die Übergänge im einzelnen verwickelter sind und weil es mir nicht darum geht, von heute aus den Akteuren von damals vorzurechnen, wie sie es besser hätten machen sollen. Beide Parteien kämpften um die Deutung des Faschismus, des Nachfaschismus und des Erbes der sozialen Bewegungen, die durch Faschismus und Nachfaschismus vernichtet wurden. Beiden ging es um die Überwindung des Faschismus und darin um die Rettung des Erbes der damals verlorenen Kämpfe. Beide wollten, wie eben schon gesagt, das Fortwirken des Faschismus durch die Fortsetzung der sozialen Revolution brechen.

Dabei versuchten die Traditionalisten, unmittelbar an die vom Faschismus unterbrochene Vergangenheit anzuknüpfen. Sie entliehen der Vergangenheit die Formeln ihrer eigenen Praxis, sie borgten sich ihre Rhetorik, ihre Symbolik, ihre theoretischen Diskurse und ihre Organisationsweisen aus dem Überlieferungsbestand der deutschen Kommunistischen Partei der 20er und 30er Jahre. Die Spaltungen im traditionalistischenLager wurden entlang von Spaltungslinien aus der Geschichte der KPD und der weiteren kommunistischen Bewegung begründet, auf Auseinandersetzungen auf dem einen oder anderen Parteitag zurückbezogen. Äußerlich betrachtet, handelten sie also kaum anders als Robespierre, der sich am Vorbild der römischen Konsulen orientierte: die sozialen Kämpfe der Weimarer Republik schien ihnen die „Jetztzeit“ zu sein, in der Vergangenheit und Gegenwart ineinander übergingen.

Die Antiautoritären gingen umgekehrt vor und versuchten, dasselbe Erbe im Licht der eigenen Praxis zu retten. Doch auch sie wählten sich ihre historischen Referenzen und versuchten deshalb, das Erbe der Linken Opposition innerhalb und außerhalb der KPD anzutreten, das Erbe Rosa Luxemburgs, Otto Rühles, Hermann Gorters und Anton Pannekoeks, das Erbe, nicht zuletzt, der Kritischen Theorie,das Erbe Benjamins.

Die Grobheit der Unterscheidung von „Traditionalisten“ und „Antiautoritären“ noch einmal zugegeben, möchte ich keinen Zweifel daran lassen, meinerseits vom Erbe der Antiautoritären beansprucht zu sein. Das aber führt mich umstandslos zu den eigentlich brisanten Fragen: Was qualifiziert den antiautoritären „Tigersprung ins Vergangene“ vor dem, den die Traditionalisten versuchten? Was machtden einen Sprung zur Farce, und den anderen – vielleicht! – zur historisch angemessenen Deutung „einer Erinnerung (…), wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt“? Und, gesetzt diese Fragen liessen sich beantworten,woran scheiterten, zuletzt, die antiautoritären?

III.

Solange sich die soziale Bewegung der Jahre nach ’68 primär als antiautoritäre Bewegung verstand, wollte sie unmittelbar Teil einer – so Rudi Dutschke wörtlich auf dem Vietnam-Kongress von 1968 – „Globalisierung der revolutionärenKräfte“ sein: „Jede radikale Opposition gegen das bestehende System,das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhältnisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressive Arbeit führen können, muss heute notwendigerweise global sein. Diese Globalisierung der revolutionären Kräfte ist die wichtigste Aufgabe der ganzen historischen Periode, in der wir heute leben und in der wir an der menschlichen Emanzipation arbeiten. Die Unterprivilegierten in der ganzen Welt stellen die realgeschichtliche Massenbasis der Befreiungsbewegungen dar; darin allein liegt der subversiv-sprengende Charakter der alternationalen Revolution.“Am Ende dieses Prozesses stand die Integration der Mehrheit der Neuen Sozialen Bewegungen in einen nationalstaatlich beschränkten Modernisierungsprozess, dessen konkrete historische Organisation, die Grüne Partei, den ersten deutschen Kriegseinsatz nach 1945 mitbefehligte.

Der Knacks, der Bruch,der den Neubeginn der Jahre um 1968 von dem erbärmlichen Ende trennt,von dem viele der Beteiligten ereilt wurden, resultiert meines Erachtens aus der Reduktion der Revolte auf den Raum der Nation, der sich mit dem des Staates deckt. Dies gilt nicht etwa nur für wesentliche Teile der Neuen Linken und der Neuen Sozialen Bewegungen in Deutschland, es gilt- in entsprechend unterschiedlicher Form – auch für die Revolutionvon 1917, für die sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischenParteien und Gewerkschaften. Und genau an dieser Stelle, das ist von zentraler Bedeutung, haben auch die Antiautoritären den Anspruch missverstanden,der aus der Vergangenheit an sie erging. Dieser Anspruch fordert nämlich nicht, fortzusetzen, was in den verlorenen Kämpfen gescheitert ist- das ist der Kern des traditionalistischen Missverständnisses – er verlangt umgekehrt:

Den Versuch zu unternehmen,einzulösen, was denen, die uns vorausgingen, einzulösen nicht gelungen ist. Die Kämpfe der Vergangenheit aufzunehmen heisst deshalb zuallererst, die Irrtümer zu kritisieren, an denen diese Kämpfe gescheitert sind. Die Kritik wird nicht geübt, um vor der Vergangenheit Recht zu behalten: sie wird geübt im Angesicht der eigenen Gefahr,der eigenen Gefährdung.

Zur Erinnerung: Die im September 1864 gegründete Internationale Arbeiterassoziation, dieso genannte Erste Internationale, war ein Zusammenschluss von lokalen Bünden, Vereinen und Clubs und ging der Gründung nationaler Arbeiterparteien und Gewerkschaften voraus, zu der es erst kam, nachdem die Internationaleam Streit zwischen Bakunin- und Marx-Anhängern zerbrochen war. Das Besondere und vielleicht gerade heute Beispielhafte der Ersten Internationalen bestand darin, dass sie Brücke zwischen der Organisation vor Ort und der internationalen Assoziation war und die national(staatlich)e Ebene gleichsam übersprang. Die 1889 aus der Spaltung der Ersten hervorgegangene Zweite Internationale wollte sich dem drohenden Ersten Weltkrieg noch 1913 durch einen internationalen Generalstreik entgegenstellen; ein Jahr späterunterstützten ihre nationalen Sektionen, allen vorweg die deutschenSozialdemokraten, die Kriegführung ihrer nationalen Regierungen. Die 1919 gegründete Dritte Internationale sollte ursprünglich die Permanente Proletarische Weltrevolution organisieren; als diese ausblieb,wurde sie zum Machtinstrument sowjetischer Außenpolitik.

Was in diesem Scheitern jeweils auch zur Entscheidung anstand, war das sozialistische oder kommunistische Politikverständnis. Die Entscheidung für die nationale Organisation war immer auch Entscheidung für den nationalen Staat, für eine Politik, zu deren Kern die Eroberung der Staatsmacht zählte, für,in Stalins Worten, den „Sozialismus in einem Land“. Der stets abgedrängte Internationalismus war demgegenüber wenn nicht staatsfeindlich sowenigstens staatsfern, auf den revolutionären Prozess selbst orientiert. Die Entscheidung für Staat und Nation war immer auch die Entscheidung für die sogenannte „Realpolitik“ – für die Übernahme einer scheinbar zwingenden historischen Verantwortung, ja mehr noch: fürdie Erfüllung einer historischen Mission, eines historischen Auftrags. Sie war das, was der historische Fortschritt scheinbar zwingend vorschrieb.Realpolitik, Übernahme der historischen Verantwortung, Erfüllung der historischen Mission, Vollendung des historischen Fortschritts – all das schien auch der Neuen Linken der 60er Jahre geboten zu sein. Mehr noch: Der Konflikt zwischen utopisch-internationalistischem „Fernziel“ und realpolitisch-nationalstaatlicher“Tagespolitik“, zwischen internationaler Solidarität und nationaler Organisation bestimmt auch die sozialen Bewegungen, die sich sichtbar undvernehmbar seit Seattle formieren.

Nun lässt sich dieses Dilemma nicht einfach korrigieren wie eine verpfuschte Rechenaufgabe; und eine Lösung kann ich hier nicht einmal skizzieren, weil niemand sich anmaßen kann, endgültig und ein für alle Mal zu entscheiden zwischen der Dringlichkeit der Tagesaufgaben, und der Dringlichkeit, hier und heute die Befreiung aller zu fordern. Festhalten will ich lediglich drei Dinge:

1.). Emanzipatorische Politik kann nur eine internationalistische Politik sein, mindestens deshalb,weil es zum globalisierten Kapitalismus nur eine globale Alternative geben kann. Ein Neuer Internationalismus aber kann heute nur noch als gemeinsame Aktion auf der Grundlage selbstbestimmter Gegenseitigkeit verstanden werden- als Gegenseitigkeit eines globalen Demokratisierungsprozesses, der sich an den unterschiedlichsten lokalen und subjektiven Bedingungen entzündet und deshalb notwendig widersprüchlich sein und bleiben wird, und deshalbin sich selbst plural und demokratisch organisiert werden muss.

2.) Mit der Orientierung am nationalen Staat muss das am Staatshandeln orientierte Politikverständnisüberwunden werden, das in der Organisation der sozialen Bewegung den künftigen Staatsapparat vorwegnehmen wollte. Der globale Kapitalismus wurzelt nicht in einer Verschwörung der „Mächtigen“ in Staat und Ökonomie, sondern im Ganzen der alltäglich gelebten Produktions-,Konsum- und Lebensformen, auch und gerade in dem, was man unverstanden so oft als ‚Zivilgesellschaft‘ bezeichnet. Die Globalisierung ist keine abstrakte Supermacht, sondern das gesellschaftliche Verhältnis, das auch uns selbst einschließt und das auch wir reproduzieren, in unserem alltäglichen Verhalten, unserer Lebensführung, in der Form unserer sozialen Beziehungen. Deswegen beginnt der Internationalismus mit einer widerständigen Selbstorganisation in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und mit dem alltäglichen Widerstand gegen das „nationale Interesse“.Dies reicht vom praktischen Einsatz für das unbedingte Recht einer jeden und eines jeden, sich hier in Frieden niederzulassen, bis hin zur Partizipation an dem, was sich seit Seattle in sehr widersprüchlicher Weise als „Anti-Globalisierungsbewegung“ abzuzeichnen beginnt.

3.) Damit ist eine Neukonzeption des Solidaritätsbegriffs selbst verbunden. Traditionell zielte Solidaritätauf die Vereinheitlichung und Vereinigung der Vielen, auf die Herstellung eines alle einzelnen umfassenden Bandes, sie wart deshalb ein Prinzip des Einschlusses, der Identität. Wenn ich dem entgegenhalte, dass Solidarität immer dem oder der Anderen gilt, dann meine ich damit in einem radikalen Sinn, dass sie dem oder der gilt, die nicht mir gleich sind, die nicht zur Gemeinschaft der Gleichen gehören. Sie ist damit kein Prinzip der Identität, sondern eines der Differenz, der Vielheit und nicht der Einheit. Deshalb ist die kommende Internationale nicht das, was alle Nationen einschliesst und vereinheitlicht, sondern dass, was aus den Nationen auf- und ausbricht, was sie durchquert und sich davonmacht, was ins Freie und Andere fortzieht. Sie ist die Internationale des Anderen. Der hier gemeinte Andere, besser die hier gemeinten Anderen sind nun aber auch undgerade diejenigen, die uns vorausgegangen sind. Der Internationalismus gilt deshalb nicht nur den Anderen jenseits der Nation, er gilt auch den Anderen diesseits der Gegenwart. Er nährt sich deshalb, wie Benjamin sagt, „an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.“

Wie schaffen wir diesen Internationalismus, diese Neue Internationale? Auch hier möchte ich, zum Abschluss, an die von neo-liberaler Ideologie täglich neu verdrängte Geschichte erinnern. Als sich Marx und Engels 1846 über den Sinn ihres eigenen Unternehmens verständigten, fanden sie die folgende, berühmte Formulierung: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“

Ich bin mir nicht sicher,ob der Begriff des Kommunismus noch aktuell ist. Für die sich hoffentlich bald deutlicher zu Wort meldende Neue Internationale aber gilt wohl ebenso,dass sie kein „Zustand“ sein darf, der hergestellt werden soll – d.h. keine bloße Utopie, und dass sie kein „Ideal“ sein darf, „wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird“, d.h. kein bloß moralisches Postulat.Um herauszufinden, ob die Neue Internationale wirklich die „Bewegung“ sein wird, „welche den jetzigen Zustand aufhebt“, bleibt uns nur eine Möglichkeit: uns an dem zu beteiligen, was auf eine solche Bewegung hindrängt, uns selbst auf diese Bewegung einzulassen, in all ihren Widersprüchen,in all ihrer Brüchigkeit. Nichts garantiert den Erfolg dieser Bewegung,ihr liegt kein weltgeschichtsmächtiges Supersubjekt zu Grunde, dass sich nur seiner selbst bewusst werden müsste. Nichts garantiert, dass eine solche Bewegung nicht neue Fehler, neue Irrtümer, auch neue Verhängnisse produzieren wird. Nach Jahrhunderten eines Fortschritts allerdings, dessen katastrophaler Charakter jeden Tag krasser hervortritt, ist eines hoffentlich deutlich geworden: In den Revolten sozialer Bewegung geht es nicht darum, die Geschichte voranzubringen, sondern darum, den Lauf der Geschichte zu unterbrechen. Um mit Benjamin zu enden: „Der Klassenkampf (…) ist ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine feinen undspirituellen Dinge gibt. Trotzdem sind diese letzteren im Klassenkampf anders zugegen denn als die Vorstellung einer Beute, die dem Sieger zufällt. Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in diesem Kampf lebendig und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück. Sie werden immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallenist, in Frage stellen. Wie Blumen ihr Haupt nach der Sonne wenden, so strebt (…) das Gewesene der Sonne sich zuzuwenden, die am Himmel der Geschichte am Aufgehen ist. Auf diese unscheinbarste von allen Veränderungen muss sich der historischen Materialist verstehen.“

Über die Erinnerung

Michael Ramminger

„Auf unterschiedlichen Wegen – und bislang noch nicht in ihrer ganzen Schärfe – erreichen uns die gleichen Themen,die sie in ihren Artikeln behandeln: die Globalisierung, die Agonie desNationalstaates, das soziale und monetäre Europa, die Linke in der heutigen Zeit. Der Alptraum, der uns gegenwärtig als die beste aller Welten verkauft wird, und der in Europa wie in Amerika, im Himmel und auf Erden, identisch und unterschiedlich zugleich ist, verheißt uns die schlimmste aller Zerstörungen: die Zerstörung des historischen Gedächtnisses. .. Vielleicht vernichtet die Regierung darum diejenigen,die das historische Gedächtnis auf ihre Fahnen geschrieben haben: die zapatistischen indianischen Gemeinden … “ Subcommandante Marcos an Manuel Vasquez de Montalban, Herr der Spiegel, S. 19

Verweigerte Erinnerung: Ein Herrschaftsinstrument

In den Jahren des Faschismus und danach ist die Kritik einer Sprache und Vernunft entstanden, die in deren instrumentellem und funktionalem Charakter die Tendenz sah, jede Form und jeden Inhalt von Kritik an den gegebenen Verhältnissen zu verschlingen. Die dazu neigte, alle Erinnerung aus sich auszuscheiden,“die die Gegenwart bedrängt und in Frage stellt, weil sie an unausgestandene Zukunft erinnert.“ Und die damit die Faktizität verewigt. Adorno schrieb damals, das „Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung … ist keinbloßes Verfallsprodukt … sondern es ist mit der Fortschrittlichkeit des bürgerlichen Prinzips notwendig verknüpft … Erinnerung, Zeit und Gedächtnis werden von der fortschreitenden bürgerlichen Gesellschaft selber als eine Art irrationaler Rest liquidiert…“ Dies war mit der Dialektik der Aufklärung gemeint: Die bürgerliche Gesellschaft setzte alles auf den Fortschritt der Wissenschaft und hoffte, daß sich daraus auch ein moralisch-politischer Fortschritt ergeben würde. Gerade aber dieser Fortschritt und seine Logik und Sprache brachte das Gegenteil hervor: Völkermord, Kriege, Umweltzerstörung und Selbstvergessenheit. Adornos Überlegungen kritisierten diesen bürgerlichen Fortschrittsglauben und die immerdeutlicher gewordenen Widersprüche gesellschaftlicher Vernunft, die die Zukunft den technologischen und ökonomischen Eigengesetzlichkeiten überläßt. „Sterbende Städte, Zerstörung der Umweltsysteme,hemmungslose Ausbeutung der Rohstoffquellen, Informationschaos und der Nord-Süd-Konflikt“ waren die Folie, vor der immer deutlicher wurde,daß der „Wärmestrom der bürgerlichen Teleologie“ immer mehr versiegte. Ein evolutionäres Geschichtsverständnis reduzierte Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit auf einen technizistischen Prozeß,der letztlich seinem eigenen Anspruch -eine bessere Zukunft zu schaffen-nicht gerecht wird; dies wohl aber auch nicht mehr will. Im Gegenteil scheidet er aus seiner Zukunftsperspektive jede Phantasie und Kreativität aus,die mit den vermeintlichen Sachplausibilitäten, den ökonomischen Eckdaten, politischen oder juristischen Rahmenbedingungen kollidiert.

Heute hören sichsolche Worte ungeheuerlich überdimensioniert an; sie unterliegen jaauch einer verhalten formulierten, aber überall gegenwärtigen Zensur, die nun gerade nicht von den unmittelbaren Profiteuren der Verhältnisse ausgeübt wird, sondern heute auch von dort kommen, wo diese Kritik ihren Urspung nahm und eigentlich ihren Platz haben sollte:

„Keine linke Kritik und keine linke Utopie werden mehr das ganz andere zu bringen vermögen,also weder den Sozialismus noch gar das Himmelreich auf Erden, sondern bestenfalls wieder Verhältnisse schaffen“, sagte Joschka Fischer 1992 und kanonisiert damit die verschwiegene Teleologie, die letztlich nichts anderes mehr schafft, als die resignierte oder bejahende Kapitulation vor den Verhältnissen. Solche Einstellung resultiert heute vermutlich nicht mehr aus dem, was man technologisch-szientistischen Fortschrittsglauben genannt hat. Sie resultiert m.E. aber aus einem politisch-szientistischen Fortschrittsglauben, in dem die Pragmatik der kleinen Schritte, der Kompromisse und Konsense die evolutionäre und unhintergehbare Grundstimmung ausmacht.

Erinnerung: Ihr hermeneutischer Status

Gegen diese Versöhnung mit den Verhältnissen, in der Geschichte und Geschichte der Freiheit-wenn auch mit kleinen Schritten- voranschreitet, steht die Kategorie der Erinnerung, das Konzept einer Solidarität nach rückwärts, die auch die „Vernichteten mit einschließt, um aus der Vergangenheit jenes Potential für den Widerstand gesellschaftlicher Verhältnisse zu gewinnen, die das Subjekt überspielen.“Damit ist nicht jene Form von Erinnerung gemeint, die aus der Vergangenheit das Paradies macht, für die die Gegenwart immer nur Verfallsgeschichte ist, und in der die kollektiven und individuellen Gedächtnisse Ort der Verharmlosung und Verklärungsind.

Es geht vielmehr um die Bedeutung der Erinnerung als Erinnerung von individueller wie kollektiver Leidensgeschichte, um die Vergegenwärtigung der Opfer menschlicher Freiheitsgeschichte. Und darin dann eben auch um die Interpretation von Geschichte überhaupt: Ist Geschichte nichts anderes als die Geschichte gelungener oder fortschreitender Herrschaft über die Natur, die Geschichte der gelungenen oder ewig wiederkehrenden politischen Usurpationen und der Machtspiele, in der „andere Verhaltens-und Wissensformen des Menschen -Leid,Schmerz, Trauer aber auch Freude und Spiel – von vornherein nur funktional und abgeleitet zur Geltung kommen“? Oder kommt der Erinnerung und dem Gedächtnis des Leidens hermeneutische Funktion zu? Hat Erinnerung etwas mit dem Verstehen von Geschichte und mit Wahrheit zu tun?

Geschichte ist die konkrete Aneignung der Natur durch den Menschen. Sie ist eben nicht das „distanzierte Material historischer Kritik“. Sie ist die konkrete, leibliche Praxis von Menschen, die in dieser Auseinandersetzung mit der Natur und den gesellschaftlichen Widersprüchen immer wieder versuchen, neue Handlungsmöglichkeiten und Orientierungen zu entwickeln. Es ist eine Praxis, die durch Freude und Leid, durch Schmerz und Befreiung gekennzeichnet ist, und die ihre Opfer fordert. Und eine Geschichtsschreibung oder eine Interpretation der Wirklichkeit, die davon nicht spricht, spricht nicht von der Wirklichkeit.

Diese Dimension menschlicher Existenz kann nur zur Geltung kommen, wenn sie in unsere Interpretationen gesellschaftlicher Wirklichkeit mithineingenommen wird, wenn sie erinnert wird und erinnert werden kann und darf. Es ist die Form einer Erinnerung,in der menschliches Leid als frühere Erfahrungen des Lebens und des Sterbens so in die Gegenwart hineinreichen, daß sie die herrschenden Plausibilitäten irritieren und herausfordern. Solche Erinnerung ist gefährlich, weil sie quer liegt zu allem, was sich mit der vermeintlichen Wirklichkeit und den sogennanten Sachzwängen bereits abgefunden hat. Es sind „gefährliche und unkalkulierbare Heimsuchungen aus der Vergangenheit“ (Metz, GGG, S. 96). Und sie tragen subversive Züge, weil sie nicht einfach nur eine andere Interpretation der Vergangenheit einfordern, sondern weil sie die Zukunft herausfordern und ihr die Berücksichtigung des vergangenen Leids abverlangen.

Dies ist keine Sentimentalität,kein „Masochismus“, wie es Nietzsche als Antwort auf den Satz: „Nur, wasnicht aufhört wehzutun, bleibt im Gedächtnis“ formuliert. Die Erinnerung des Leids birgt nicht die Gefahr, das Leben „zu Schaden zu bringen“. Im Gegenteil: das passiert nur dort, wo solche Erinnerung gesellschaftlich pathologisiert und tabuisiert wird. Also dort, wo Erinnerung verweigert wird, wie beispielsweise bei den Angehörigen der Verschwundenen. Daß die Erinnerung des Leidens -wie auch der Befreiung- als kollektive Interpretation der Geschichte lebensermöglichenden und befreienden Charakter hat,zeigen z.B. die indigenen Völker Amerikas.

Freiheit ohne Erinnerung

Noch einmal -mit Marcuse:“Das Erinnern ist eine Weise, sich von den gegebenen Tatsachen abzulösen,eine Weise der ‘Vermittlung’, die für kurze Augenblicke die allgegenwärtige Macht der gegebenen Tatsachen durchbricht. Das Gedächtnis ruft vergangene Schrecken wie vergangene Hoffnung in die Erinnerung zurück … Undin den persönlichen Begebenheiten, die im individuellen Gedächtnis entstehen, setzen sich die Ängste und Sehnsüchte der Menschheitdurch – das Allgemeine im Besonderen“. Die Aufklärung hatte sich zurecht kritisch gegen überkommene und unbefragbare Traditions-und Autoritätszusammenhänge gestellt. Wo diese aber umstandslos gestrichen werden, und durch eine szientistische Vernunft ersetzt wird, gerät unwiderruflich aus dem Blick, daß Geschichte immer handlungsnormierender Überlieferungszusammenhang ist, der sich aus konkreten gesellschaftlich-geschichtlichen Praxen, d.h. Leidens- und Befreiungsgeschichten zusammensetzt. Solche Erinnerung ist notwendiges, ja erst ermöglichendes Moment „jedes kritischen Bewußtseins, das über sich selbst aufklären will“. Freiheit und Solidarität werden ohne dieses Eingedenken der Opfer deshalb zu subjektlosen Begriffenverkommen, die den Argumenten der Sachlogik schutzlos ausgeliefert sind, und den Schrecken nur reproduzieren können. Deshalb sagte W. Benjamin:“Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ‘noch’ möglich sind … steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der er stammt,nicht zu halten ist … Die Tradition der Unterdrückten belehrt unsdarüber, daß der Ausnahmeszustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht…“.Benjamin hat diese These vor der Erfahrung des Faschismus geschrieben. Sie paßt aber eben genauso auch auf die Heuchelei derjenigen, diesich über das entsetzen, was in Bosnien oder in Ayacucho „heute noch“möglich ist und was gegenwärtig in Afghanistan passiert. Erstaunt wird eben nur der sein, dem die Geschichte als Überholtes, Vergangenesund Unrevidierbares gilt. Das Eingedenken der Opfer aber zeigt: „Der Ausnahmezustand,in dem wir leben, ist die Regel“. Und nur vor diesem Eingedenken, das theologisch memoria passionis, mortis et resurrectionis – Erinnerung des Leidens, desTodes und der Auferstehung – genannt wird, kann die Regel zerbrochen werden.Aber vermutlich ist esmehr als Heuchelei: Es ist die Überzeugung, dass wir „nur wieder Verhältnisse schaffen werden…“ Aber um diese Resignation vor den Verhältnissen abzusichern, muss man die Erfahrungen der Vergangenheit mit einem Erinnerungsverbot belegen, wie die kürzliche Diskussion um `68 zeigt:

„Die Theologen des Neoliberalismus löschen jede Erinnerung aus, die nicht dazu dient, die notwendige Gegenwart zu erklären … Die unnötige Gegenwart hingegen, wem dient sie, wenn nicht den Destabilisierern, die sich nicht das Gedächtnis nehmen lassen und unter Verweis auf die Erinnerung oder auf eine andere mögliche Zukunft die Fatalität der Gegenwart in Frage stellen?(Montalban, S. 11)<

Erinnerung und die zweite Moderne

Bei uns scheint sich eine neue Politikform zu etablieren, die meint, auf die kritische Instanz des Eingedenkens und Erinnerns der Opfer verzichten zu können, und diesich auf eine seltsame Weise des Ballasts der Besiegten und der Opfer entledigenwill. Sie entwirft ein neues Freiheitsverständnis, in dem wieder nur die Durchgekommenen und Sieger vorkommen. In diesem Verständnis wird die Freiheit als das Werk einer schöpferischen Neubestimmung entworfen,die sich gerade dadurch auszeichnet, dass ihr nicht die Kritik das Wichtige ist, sondern die Fähigkeit, „Ziele neu zu denken und zu setzen“: Das schöpferische Unternehmertum, die neue rot-grüne Mitte will nichts mehr von der Vergangenheit wissen. Für sie ist die Erfindung und das Experiment die Instanz, die die Gegenwart kritisiert. In ihr animieren sich die Menschen selbst zur Freiheit und sprengen die Ketten der Vergangenheit,indem sie nicht mehr von ihr sprechen.Vorbild für diese Vision eines neuen republikanischen Individuums, wie es Ulrich Beck entwirft,ist Nietzsches Übermensch und dessen Denunzierung der Geschichte als Masochismus: „In Nietzsches Vision ist der ‘neue Philosoph’ also ein Erfinder,ein Experimentator, einer der sich nicht einschüchtern läßt von Autorität- … , sondern seine Autorität aus sich selbst,aus der Freiheit schöpft. Diese Art der Selbstermächtigung ist nun allerdings urdemokratisch… Wie man es auch wenden mag, den -Aufstanddes Individuums, den Nietzsche in seiner Figur des ‘neuen Philosophen’probt, ist Geist vom Geiste eines republikanischen Europas der Individuen.“ „Schöpferischer Konstruktivismus“ heißt das Zauberwort, das uns nun ohne den beunruhigen Ballast der Geschichte -den Blick von den Katastrophen abgewandt- in die Zukunft tragen soll. Wie aber soll diese Freiheit in der Lage sein, sich selbst zu kritisieren? Es steckt eine ungeheuerliche Naivität in der Propagierung dieses Prinzips „Experiment“, das der Inbegriff wissenschaftlich-technologischer Denkweise ist. Das Experiment braucht die fehlerhaften Versuchsreihen als objektiviertes Material -aber eben nur als dieses. Die Unmenschlichkeit, die sich hinter der umstandslosen Anwendung dieses Prinzips auf Geschichte und auf Menschen verbirgt, offenbart sich allederdings nur dem, der die schrecklichsten Experimente, die Zwillingsforschungdes KZ-Arztes Mengele, nicht zu vergessen bereit ist.

„Warum soll ein Arbeiter,der endlich mühsam erkämpfte politische Freiheiten sich zu eigen gemacht hat, immer … sich solidarisieren, warum nicht da wie ein Unternehmer,dort wie ein Autobesitzer … handeln? Was ist von jenen Arbeiterschiksalsbeschwörern zu halten, die ihn deswegen der Unsolidarität und Bürgerlichkeit verdächtigen und bezichtigen“ fragt Beck rethorisch und fordert darin die Leichtigkeit der neuen Mitte ein. Warum also nicht? Zum Schluß als Antwort darauf noch einmal Subcommandante Marcos:

„Wenn wir die Bewahrung des historischen Gedächtnisses einfordern, dann deswegen, weil wir mitansehen müssen, wie sich die Geschichte der herrschenden Klasse wiederholt.Dazu brauchen sie es, nur die Gegenwart zu sehen. Vergiß, dass wir die Diebe von gestern sind, vergiß dass wir heute das gestern gegebene Versprechen wiederholen und es gestern nicht erfüllt haben… (S.90)

Die Menschenrechte erweitern

Vom 9. bis 11. November veranstaltete das Institut für Theologie und Politik in Zusammenarbeit mit dem Chile-Informationsbüroe.V. und der SOLIDARIDAD das Seminar „Gefährliche Erinnerung– Vergangenheitspolitik in Deutschland und Chile.“ Auf diesem Seminar wurdeausgiebig diskutiert, wie die Konstruktion und Festschreibung von VergangenheitHerrschaft stabilisieren und wie andererseits eine aktive Aneignungvon Erinnerung ein Baustein bei dem Aufbau Sozialer Bewegung sein kann. Isabel Oyaneder und Alvaro Muñoz von dem chilenischenMenschenrechtskollektiv Funa stellten ihren Ansatz einer Rekonstruktionder historischen Erinnerung vor. Im chilenischen Slang heißt Funar jemanden entlarven, die falsche Maske vom Gesicht reißen. In Anlehnung gab sich das chilenische Menschenrechtskollektiv den NamenFuna, was neben der Selbstbezeichnung der Gruppe gleichzeitig auch der Begriff für die Aktion des Demaskierens ist. Ein Charakteristikum der FUNA ist der mit Pauken und Trompeten vorgetragene karnevaleske Zug, mit dem die FUNA die Verbrecher entlarvt. Mit Isabel Oyanederführten Julia Diemer und Olaf Kaltmeier von der Redaktion der SOLIDARIDAD am 12. November folgendes Gespräch.J.D.: Was macht die Funa? Was unterscheidet die Funa von Aktionen anderer Gruppen?

I.O.: Die Funa ist ein Kollektiv sozialer Organisationen,an dem sich verschiedene Gruppen mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung beteiligen. Darunter sind Menschenrechtsgruppen, die Bewegung der revolutionären Linken (MIR), die Kommunistische Partei (PC), das Comité 119, di eSurda – eine jüngere Organisation, die gerade dabei ist sich als politische Partei zu formieren -, ehemalige Politische Gefangene, verschiedene Einzelpersonen und vor allem Jugendliche. Die Aktion der Funa entscheidet sich in einer Versammlung, d.h. die Funa ist an sich keine Organisation, sondern eine Kommission, die durch Versammlungen funktioniert. An jeder Versammlung nehmen Repräsentanten der verschiedenen sozialen Organisationen teil.Und dort wird die Aktion der Funa beschlossen, d.h. da wird entschieden, welches Schwein demaskiert werden soll. Schwein heißt bei uns der Folterer oder Mörder.

Diese Kommission agiert wiederum über kleinere Unterkommissionen wie Organisation, Finanzen, Kreativität, Sicherheit und Archiv. Zudem gibt es eine Unterkommission, die die Verfolgung zur Aufgabe hat, und die am wenigsten erwähnt wird. Diese Kommission schlägt den Typ, der demaskiert werden soll in der Versammlung vor und diese entscheidet, ob das ok ist oder ob jemand anderes demaskiert werden soll. Die Archiv-Kommission hat die Aufgabe, dieses Schwein ausfindig zu machen. Wie machen wir das? Nun, zunächst über die Archive des Justizministeriums und den Rettig-Bericht, dann beginnen die eigenen Nachforschungen. Darüber kann ich jetzt aus Sicherheitsgründen wenig Details sagen. Danach tritt die Archiv-Kommission mit ihren Ergebnissen an die Versammlung heran. Dann beginnt die Planung der Aktion, dazu müssen wir die Straßen besichtigen, wo wir hermarschieren können und auskundschaften, wo die nächste Polizeistation ist. Nach der Ortsbesichtigung tritt die Kreativkommission ein, die Möglichkeiten der Performance oder anderer kultureller Darbietungen auswählt. Die Performance oder der kulturelle Akt hat direkt mit dem Schwein, das demaskiert werden soll, oder mit den sozialen Kämpfern, die von ihm gefoltert wurden, zu tun. Uns gefallen besonders die Performances, die sozialen Kämpfern, die in die Hände dieses Folterer und Mörders fielen, ihre Würde zurückgeben.

J.D.: Was unterscheidet die Funa von anderen Menschenrechtsgruppen,die sich mit der jüngeren Vergangenheit Chiles beschäftigen?

I.O.: Der Unterschied der Kommission besteht darin, dass ihre Aktionen voller Freude, voller Gesang, voller Mystik, Lebensfreude und Kampf für das Leben sind. Damit unterscheidet sie sich von den anderen Menschenrechtsorganisationen wie der Agrupación de los Familiares de los Detenidos-Desaparecidos oder der Agrupación de los Familiares de los Ejecutados Políticos, denn sie sind voller Trauer und Schmerz. Wir respektieren diese Organisationen sehr, aber die Jugendlichen wollen diesen Schmerz nicht tragen. Sie wollen ihre Freude über einen Freund oder Familienangehörigen zum Ausdruck bringen, der Ideale zur Veränderung einer schlechten Gesellschaft hatte. Ich denke, dass dies der Unterschied der Funa im Vergleich zu den traditionelleren Menschenrechtsorganisationenist.

Außerdem sind wir anders, da wir parteipolitisch nicht gebunden sind. Bei den anderen gehörst du einfach nicht dazu,wenn du nicht Parteimitglied bist. In der Funa aber sind Parteifahnen nicht erlaubt. Alles, was mit Menschenrechten oder anderen Organisationen zusammenhängt, ist erlaubt – Flugblätter, Transparente, etc. – aber Parteifahnen werden nicht erlaubt.

J.D.: Also ist es die Freude und das Gedenken an die gefallenen Kämpfer, die das politische Projekt der FUNA charakterisieren?

I.O.: Ich weiß nicht, ob ich von einem politischen Projekt sprechen würde. Wir arbeiten jetzt seit 2 Jahren und unser Projekt ist es, die Menschenrechte zu erweitern, was – so denke ich – das Wesentliche ist. Aber „politisch“ hat für mich etwas mit einer politischen Partei zu tun, und die Funa ist keine Partei und wird es auch in Zukunft nicht sein. Also bestand unser Projekt von Anfang darin, die Menschenrechte zu erweitern und den Blick nicht nur auf die direkten Opfer der Repression zu richten. Die Menschenrechte wurden während der Diktatur, und werden auch heute noch in jeder Beziehung verletzt: in der Bildung, Arbeit, der freien Meinungsäußerung, in der Freiheit zu denken .

Die Menschenrechtsarbeit war immer mit den Opfern der Repression verbunden – direkt mit den Opfern. Wenn Du also keinen verhafteten-verschwundenen,exekutierten oder aus politischen Gründen inhaftierten Familienangehörigen hast, hattest du in den traditionellen Organisationen keinen Platz. Und auch die Jugend wurde von diesen Organisationen sehr abgelehnt, es gab nur das Recht der Mütter, der Ehefrauen.

O.K.: Ich habe den Eindruck, dass es sich bei der Funa um eine sehr moralische Bewegung handelt, die auf dem Gefühl der Empörung basiert, darauf, dass Leute sagen: Jetzt reicht’s !

I.O.: Genau. Es hat etwas damit zu tun, eine Gesellschaft aufzubauen, die mit dem Leben verknüpft ist. Bei mir tauchen zahlreiche Widersprüche auf, wenn ich die Menschenrechte der Allgemeinen Menschenrechtserklärung lese. Denn ich denke, dass es heutzutage um die alternativen Menschenrechte, wie wir kleinen Gruppen dieses noch nicht sehr verbreitete Konzept nennen,geht. Dazu gehört das Recht Land zu haben, Autonomie, Selbstverwaltung,oder eigene Perspektiven zu erarbeiten.

O.K.: Wenn ich das richtig verstehe, dann geht es euch also weniger um die sogenannte zweite Generation der Menschenrechte, also die kulturellen, sozialen und ökonomischen Rechte, sondern um das Recht der Menschen zu sagen, ich habe Rechte. Und diese selbstbestimmten Rechte einzufordern, dafür zu protestieren. Und diese Rechte nichtals ein Stück Papier sondern als Prozess …

I.O.: Ja als einen Entwicklungsprozess zu sehen. Ja sicher, das Konzept der alternativen Rechte wird jetzt gerade in der Funa diskutiert und es hält gerade in unsere Diskurse Einzug. Wir fingen als Menschenrechtsorganisation an und vielleicht war es auch ganz gut so,nur die Fälle der physischen Gewalt zu behandeln. Es wurden eben nicht nur die physischen Menschenrechte durch Deportationen und Folter missachtet, sondern auch alles, was mit der Bildung, der Gesundheit zusammenhängt. Diese Diskussionen begannen in der Funa, als eine Gruppe von Frauen einem Unternehmer eine Funa machen wollten, und uns anfragte. Und von da an fingen wir an, uns gegenüber allen Formen von Rechten zu öffnen.

O.K.: Aus Euren vorherigen Texten geht hervor, dassihr da auch schon die impunidad als Grundlage für die allgemein gesellschaftliche Straflosigkeit wie z.B. der der Unternehmer gegenüber den Arbeitern gesehen habt. Dennoch richteten sich eure Aktionen aber zunächst auf die Straflosigkeit der Menschenrechtsverbrecher.

I.O.: Stimmt. Das war die erste Phase. Aber heute wollen wir die impunidad nicht auf die Verletzung der Rechte der Opfer der Diktatur beschränken, sondern auf die Straflosigkeit aller Taten, die heute in Chile begangen werden. Wir eröffnen einen Raum zur Ausbildung der Fähigkeiten von Reflexion und Kritik des gegenwärtigen Systemsin Chile.

Und wir sind eine recht große Menge von Leuten. Jede Gruppe, die bei uns vertreten ist, besteht aus zirka 15 Personen undes gibt einige, die viel größer sind. Darüber kommen wiran viele andere Personen heran.

J.D.: Kann man sagen, dass die Funa die politische Kreativität der Menschen aktivieren will, um damit einen Beitrag zur Konstruktion von Gesellschaft zu leisten?

Unsere Idee ist, dass wir die historische Erinnerung über soziale Bewegung rekonstruieren können. Und deshalb müssen wir mit unserer eigenen Organisation innerhalb eben dieses Netzes arbeiten. Wir versuchen nicht die Leute zu überreden, sondern wir wollen Bildungsarbeit für Menschenrechte betreiben. Ein Beispiel: Ich habe mit Frauen aus poblaciones zusammengearbeitet und sie gefragt, was sie denn über Menschenrechte wissen. Ihre Antworten lauteten: gut sein, treu sein, solidarisch sein. Sie nannten also nur Werte, aber keine Rechte. Nur eine einzige Antwort lautete: das Recht auf Leben. Dies war die einzige Antwort, die ich als Recht festhalten konnte. Ansonsten hatten sie keine Ahnung von den Menschenrechten.

Wenn ich von den Menschenrechten rede, denken sie meistens, dass es um die Angehörigen direkter Opfer der Diktatur ginge. Nurdas kennt der Durchschnittsbürger als Menschenrechte. Und sogar noch schlimmer, viele Leute, die einen gewissen Bewusstseinsgrad haben, sagen, wenn du von Menschenrechten sprichst: „Komm, lass mich in Ruhe und heul doch.“ Sie haben also auch ein sehr begrenztes Konzept von Menschenrechten.

Unser Ansatz besteht nun darin, diesen Raum zu öffnen und dieses Projekt aufzubauen, die Menschenrechtsverbrecher der Militärdiktatur wie Pinochet oder Contreras zu demaskieren, aber auch die USA als Verantwortliche des schrecklichen Putsches. Und wenn man es noch feiner betrachtet, sowird deutlich, dass es Menschenrechtsverbrechen nicht nur unter der Militärdiktatur gab, sondern dass es diese schon viel früher, in den 60er Jahren gab,als die Arbeiterbewegung und die Studierenden an Stärke gewannen.Und in diesem Kontext wurde dieser hinterhältige Plan des Putsches entwickelt.

O.K.: Ende der 80er Jahre hat sich die Menschenrechts-und Demokratiebewegung auf das klar limitierte Ziel „weg mit Pinochet“festgelegt und konnte über dieses konkrete Ziel die Differenzen überwinden. Die Funa hat dies in ähnlicher Weise mit dem Kampf gegen die impunidad gemacht. Was passiert, wenn der Kampf der Funa breiter wird, bröckelt dann die Bewegung?

I.O.: Ja, es stimmt, dass wir Ende der 80er Jahre einbreites Bündnis verschiedener politischer Strömungen und sozialer Organisationen hatten, das über die Symbolfigur Pinochet integriert wurde. Heute aber wirkt sich dieser große Fehler, die Beschränkungauf ein klitzekleines Ziel, aus. Es ging nur um die eine Sache: wenn Pinochet „geht“, bleiben wir ohne Ziele und es fallen alle Netze weg und alle Menschen die wir mobilisieren konnten, blieben mit einem Male zu Hause. Wir waren nicht in der Lage diese Gefahr vorher zu erkennen. Jetzt glauben wir in einem Prozess zu sein, bei dem wir den selben Fehler nicht noch einmal begehen wollen. Deshalb sagen wir nicht, es reicht die impunidad zu beenden,denn was würde passieren, wenn es keine Schweine mehr zum demaskieren gibt. Es hätte überhaupt keinen Sinn, immer wieder dieselben Verbrecher neu zu demaskieren. Deshalb besteht die Aufgabe heute darin,wieder das soziale Netz aufzubauen, zu einer Neudefinition erweiterter Menschenrechte zu kommen und diese in alle poblaciones zu tragen.

Aber es ist nicht die Funa, die diese Aufgabe erfüllen soll, sondern die Leute, die an dieser Versammlung teilnehmen – und zwar über ihre eigenen Organisationen. Denn sonst würde sich die Funa in eine politische Partei oder ein Projekt verwandeln, und das wollen wir nicht. Wir haben große persönliche und politische Differenzen innerhalb der Funa, und wenn wir das machen sollten, würden wir in wenigen Jahren vor einem Scherbenhaufen stehen.

O.K.: In Chile ist die Linke oft sehr zersplittert gewesen, so dass kaum ein Dialog mehr möglich war. Jetzt versucht die Funa, die ja auch aus den verschiedensten linken Strömungen besteht,ihr Menschenrechtskonzept zu erweitern. Wie tragfähig ist dies angesichts der Vielzahl von Strategien und politischen Meinungen innerhalb der Funa?

I.O.: Nun, die Funa ist eine Organisation von Jugendlichen. Und die Jugendlichen haben gegenüber den Parteiführern der Linken eine kritische Einstellung. Sicher, natürlich haben auch wir unsere Differenzen, aber wir denken, dass wir diese Differenzen zurückstellen müssen, um einen Organisationsprozess, der heute notwendig ist, voranzutreiben. Wenn wir nur mit unseren Differenzen und internen Streitigkeiten fortfahren,dann werden wir absolut gar nichts aufbauen können. Allein haben wirkeine Kraft. Niemand kann heute sagen, dass er Kraft hätte. Niemand,der heute in der Versammlung sitzt, könnte sagen, dass hinter ihm eine Bewegung stehe. Deshalb müssen wir jetzt zuerst aufbauen, und zwar über die Menschenrechte, über die Aufklärung und Wiederaufklärung des Volkes, über Solidarität, Selbstverwaltung und Autonomie.

Obwohl wir auch in meinem Kollektiv die Überlegung angestellt haben, dass in der Autonomie auch ein gewisse Gefahr liegt,da wir eine große Bewegung wollen. Diese Diskussionen sind in der Funa nur schwer zu führen: Da es eine so große Vielzahl an Gruppen gibt, brauchen wir meist drei oder vier Stunden, um übereinzukommen. Und oft wollten wir schon aufgeben, aber dann ging es wieder in die Versammlung, denn wir brauchen den Konsens, wir müssen ihn finden. Auch wenn sich das Wort Konsens schrecklich anhört, denn so reden wir fast wie die Regierung. Aber wir brauchen den Konsens, um eine Aktion durchführen zu können. Das hat aber auch dazu geführt, dass wir als Persönlichkeiten gewachsen sind, dass wir lernen den anderen zu akzeptieren, obwohl wir politische Differenzen haben. Wir haben gelernt uns zu mögen, uns um den anderen Sorgen zu machen: Verflucht, er ist verhaftet worden, er wurde geschlagen, ihm geht es schlecht. Wir haben gelernt uns zu beschützen, einander zu begleiten, wenn es Drohungen gibt. Und das habe ich vorher noch nie gesehen. Ich glaube, dass die Funa damit etwas erreicht hat, wasin Chile keine andere Organisation oder politische Partei jemals erreichthat.

Aber wenn ich hier von linken Parteien spreche, so ist auch klar, dass es heute sehr wenige und nur winzig kleine gibt. Die Linke in Chile ist heute schwach. Die Funa hat es zudem auch geschafft,das neben den Jugendlichen auch ältere compañeros teilnehmen,die bereits über 50 sind. Aber in der PC gibt es das nicht und noch weniger in den vielen kleinen Kollektiven, in die der MIR zersplittert ist und die noch nicht einmal untereinander diskutieren.

Und es gibt einige die sagen, wir seien schon eine Bewegung. Aber wir sind keine Bewegung, sondern wir sind eine Gruppe vonPersonen, die 800 Leute zusammentrommeln können. Und schon mit denjüngsten Repressionen hat sich diese Zahl von 800 auf 80 reduziert.D.h. wir sind keine Bewegung, wenn wir eine Bewegung wären, würden diese 800 Leute jedes Mal kommen, wenn wir eine Funa machen.

J.D.: Ich habe noch eine konkrete Frage. Was passiert heute, drei Jahre nach der Verhaftung Pinochets in der chilenischen Bevölkerung?

I.O.: Ich denke, dass es einen Höhepunkt gab, weil die Leute glücklich waren, dass Pinochet verhaftet worden ist. Die Proteste der Agrupaciones erhielten großen Zulauf, aber ganz ehrlich: es war nicht das, was wir uns erhofft hatten. Die einzige wichtige Sache, die nach der Verhaftung Pinochets übrig geblieben ist, ist die Funa. Den meisten Leuten, sogar den Linken der Sozialistischen Partei,ist es egal, ob Pinochet verhaftet ist oder nicht. Ich glaube das Wichtigste und Radikalste ist die Funa und die Leute die daran teilnehmen. Hier sehen die Leute die einzige Möglichkeit, etwas zu machen. Die Demonstrationen der Agrupaciones rufen heute nur wenig Menschen zusammen. Manchmal tut es dir leid, die Frauen der Agrupaciones dort allein zu sehen, wenngleich sie auch einen hohen Anteil an dieser Situation haben. Nachdem Pinochet von London nach Chile kam, fühlten viele Leute Mitleid mit ihm: der arme Alte, lasst ihn doch in Ruhe sterben. Das ist in Chile die gängigste Reaktion.

J.D.: Worauf führst Du dies zurück?

I.O.: Auf die Angst. In der Woche nach der Verhaftung Pinochets hatte ganz Chile Angst vor einem erneuten Militärputsch. Nun, mich hat es nicht ganz so erschreckt. Aber es gab Aufrufe der Militärs, es gab Aufzüge mit Panzern, und andere ähnliche Dinge. Und ich denke, dass die Angst dazu führt, dass die Leute schnell vergessen,oder besser sich nicht drum kümmern. Sie wissen genau was passiert ist, sie wissen wie die Dinge stehen und sie bleiben lieber ruhig. Außerdem sind heute viele Jugendliche aktiv und die Mütter haben Angst, dass ihren Kindern jetzt das Gleiche passiert wie dem Nachbarn, Freund etc.in der Zeit der Diktatur.

O.K.: Wie sieht es momentan mit der Repression gegen die Funa aus. Denn für mich war es doch ziemlich überraschend, dass es zu Anfang kaum Repressionen gab und dies, obwohl die Netze des DINA und CNI ebenso noch funktionieren wie Patria y Libertad.

I.O.: Wir haben uns das so erklärt: Am Anfang sind wir nicht allzu lästig gewesen. Wir waren nur 80 Leute, haben nur die Schweine demaskiert, die in den Berichten standen, wir haben uns schnell zurückgezogen, wir galten als verrückte Jugendliche und da es gerade den Fall Pinochet gab, wurde gesagt, es ist schon ganz ok, dass sie auf die Strasse gehen und protestieren.

Aber als sie feststellten, dass wir nicht müde wurden, dass wir keine Verrückten sind, und dass wir mit der Funa weitermachen würden, begannen die ersten Anfeindungen. Es gab erste Einschüchterungen, wir wurden nicht mehr in den Medien gezeigt, es gab eine Zensur in den Medien. Und als die erste Gruppe von 80 Personen, bei der zweiten Funa auf 100 und schließlich auf 800 Personen anschwoll, da handelte es sich dann nicht mehr um eine Gruppe verrückter Jugendlicher. Und es war klar, dass da etwas passiert.

Und für sie war die erste Funa gegen Ricardo Claroim Juli 2001 besonders heftig. Ricardo Claro ist ein bedeutender chilenischer Unternehmer, er besitzt einen Fernsehkanal, Weinberge, etc.. Und diesen Typen demaskierten wir. Das war für ihn die größte Überraschung seines Lebens. Denn ihnen ist es nie in den Kopf gekommen, dass wir auch Komplizen der Diktatur demaskieren könnten. Das war sehr mitreißend. Wir haben ein Video, das die Ankunft der Polizei zeigt. Aber bei diesem ersten Mal haben sie nicht eingegriffen. Wir kamen also von dieser Funa zurück, und dann begann die Repression gegen uns. Denn das schmerzte sie. Es gab eine Anweisung des Innenministeriums, die Funa zu unterdrücken und jedwede Aktion zu unterbinden. Von da an gab es einen Wechsel. Es liegen Strafanzeigen gegen uns vor, zum Beispiel gibt es eine Strafanzeige gegen eine Anwältin, die uns verteidigt. Und von da an – nach der Funa gegen Ricardo Claro – begann die Repressionen gegen uns. Und zwar weil wir eine bedeutende Persönlichkeit, die der Regierung nahe steht, berührt haben.

Aber für sie gibt es auch Unterschiede und Diskriminierung.Als wir nämlich einen Folterer in einer población demaskierten,gab es keine Repressionen. Wenn wir aber in die Reichenviertel gehen, um einige der Generäle anzugreifen, schlägt die Repression sofort zu.

Dennoch ist die Funa weiterhin stark. Aber die Drohungen sind heftig und auf mich persönlich wurde ein Anschlag verübt– man hat versucht, mich mit dem Auto zu überfahren. Einem anderen compañero schickten sie eine e-mail, die mit DINA unterzeichnet war und in der stand: wir kennen dich, wir wissen wo du studierst. Und erinnere dich an deinen Papi – und sein Vater ist Verhafteter-Verschwundener. Andere erhielten Drohanrufe per Telefon. Aber das wird uns nicht stoppen, wir stärken uns immer mehr. Wir brauchen uns nicht zu verstecken. Wir agieren offen und zeigen unsere Gesichter, wenn wir interviewt werden. Sie aber – die Folterer und Mörder versuchen ihre Gesichter zu verstecken.

J.D.: Hat die FUNA auch internationale Kontakte?

Die Funa gibt es nicht nur in Chile, sondern auch in Argentinien und Uruguay. Und als Funa machten wir mit diesen lateinamerikanischen Ländern und Brasilien zusammen eine gemeinsame Aktion im Zusammenhang mit der Operación Cóndor. Bei der Operación Cóndor lieferten diese Länder sich gegenseitig politische Gefangene aus, wobei viele soziale Kämpfer umgebracht wurden. Mit ihnen machten wir eine Funa und bildeten ein Netz, über das wir Informationen austauschen. Wir benachrichtigen uns, wen wir demaskieren wollen. Besonders mit den compañeros in Argentinien haben wir einen engen Austausch über e-mail und zudem besuchen wir uns auch gegenseitig. Denn Chile ist nicht alles. Die Menschenrechtsverbrechen gab es auf lateinamerikanischer Ebene– auf globaler Ebene sage ich nicht, da wir diese Kontakte und Gespräche noch nicht haben. Wir versuchen, dass unsere Diskurse nicht nur auf dieLänder begrenzt sind, sondern dass sie für Lateinamerika sind. Wir sind mehr als nur ein Land, wir sind ein lateinamerikanisches Volk. Dieser internationale Kampf, den es heute gibt, ist sehr wichtig. Es gibt ein Kollektiv in der Funa, das sich jetzt aus Arbeitsgründen etwas zurückgezogen hat, das aber mit Gruppen in Argentinien, Bolivien und Peru zusammenarbeitete. Besonders wichtig ist die Verteilung von Informationen, z.B. über Video, Briefe, Flugblätter.

Und die Funas werden auch nicht nur in Santiago gemacht.Es gab eine Funa in Valparaiso , die von der Funa-Santiago und Leuten aus Valparaiso durchgeführt worden ist. Aber es gibt auch andere Jugendliche,die sich an unserem Beispiel orientieren, die uns gefragt haben, wie man eine Funa macht, und die sie dann in Concepción und Arica machen. Für uns ist das sehr wichtig, da es so unter den Jugendlichen eine neue Art gibt mit den Menschenrechten zu arbeiten.

Transkription, Übersetzung und Bearbeitung: Olaf Kaltmeier

Michael Klundt

Thema dieses Beitrags sind die historischen Deutungsmuster,um die in den Debatten über das Holocaust-Buch von Daniel Goldhagen,die Wehrmachtsausstellung und das Schwarzbuch des Kommunismus gerungen wurde. Anhand dieser Rezeptionsdebatten soll beispielhaft aufgezeigt werden, welche allgemeinen geschichtspolitischen Tendenzen sich als Grundlage der Kontroversen u.a. um Rechtsextremismus, Terror und Krieg in der bundesrepublikanischen Gegenwart festmachen lassen. Dabei lautet die zentrale Frage, ob und wie die selektive Absage an die Vergangenheit zur Heiligsprechung der Gegenwartdient.

1. Ganz normale Deutsche

In seinem Buch Hitlers willige Vollstrecker entwickelt Daniel Jonah Goldhagen die Theorie, daß die Vollstrecker des Holocaust durch die Polizeibataillone, in den „Arbeitslagern“ und auf den Todesmärschen absichtsvoll und bewußt handelten und ihre Taten durch eine sich seit dem Mittelalter entwickelte spezifische – eliminatorische– Form des Antisemitismus bestimmt waren, von dem ein Großteil der deutschen Bevölkerung geprägt war und die sich als kognitives Modell herausbildete (m.E. verstanden als Ideologie, die Denken, Leben,Sprechen und Handeln umfasst).
In einem knappen geschichtlichen Abriß beschreibt er (erklärt aber nicht) die – einen zentralen Aspekt des deutschen Sonderwegs konstituierende – Verbindung von Nationalismus und Antisemitismusseit dem 19. Jahrhundert: „Historisch manifestierte sich der Nationalismus,insbesondere in Deutschland, stets Hand in Hand mit dem Antisemitismus, da die Nation sich nicht zuletzt durch ihren Gegensatz zu den Juden definierte“(HwV, S. 66).
Goldhagen erkennt zwar, daß sich Nationalismus und Antisemitismus in Deutschland ineinanderfügten „wie Hand und Handschuh“(HwV, S. 66); er ignoriert indes sowohl die politischen und ökonomischen Interessen, die mit dem völkischen Konstrukt einer Nation einhergingen, als auch den imperialistischen Kontext der »Rassetheorien« Ende des 19. Jahrhunderts.
Auf seiner These aufbauend, daß die Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu Beginn des Faschismus antisemitisch eingestelltwar, hält Goldhagen die Etikettierung der Verbrecher als »Nazis« oder »SS-Männer« für vernebelnd, weil sie die »gewöhnlichen Deutschen« ausklammere (der einzig angemessene, allgemeine Begriff für diejenigen Deutschen, die den Holocaust vollstreckten, laute »Deutsche«).
In Deutschland wurde das Buch lange bevor es in der deutschen Übersetzung erschien verrissen. Eine große Koalition von FAZ bis taz war sich darin einig, dass der »rassistische« Goldhagen eine Kollektivschuld der Deutschen und einen unveränderlichen Nationalcharakter propagiere. Goldhagens Buch sei sogar gekennzeichnet von einem „begreiflichen Zorn von alttestamentarischem Atem“ (Welt), mit dem der (wahlweise) „Überzeugungstäter“, „Scharfrichter“(Spiegel) und „executioner“ (Bayernkurier) den Deutschen das Geld aus der Tasche ziehe. Für diese antisemitischen Ausfälle fand Marion Dönhoff in der ZEIT vom 6. September 1996 eine einleuchtende Erklärung: „Auch ist die Befürchtung, daß das Goldhagen-Buch den mehr oder weniger verstummten Antisemitismus neu beleben könnte, leider nicht ganz von der Hand zu weisen“ – womit mal wieder geklärt wäre, wer für den hiesigen Antisemitismus verantwortlich ist.
Die alten Herren der sozial-liberalen Geschichtswissenschaft ließen es sich nicht nehmen zu betonen, dass sie Goldhagen niemalspromoviert hätten. Neben einigen bedenkenswerten Argumenten hinsichtlich Kontinuitäten und Brüche des Antisemitismus begründen sie ihre Vorbehalte mit vielen falschen Vorwürfen und ressentimentgeladenden Entgleisungen.
Für die marxistischen Wissenschaftler/innen waren vor allem die Forschungen über die Polizei, die Wehrmacht, die Todesmärsche, die Täterzahl, deren Handlungen, Organisiertheit und deren Lebensumstände weiterbringend. Kritisiert wurde die Reduzierung der Vorgeschichte des Holocaust auf die Geschichte des antisemitischen Denkens in Deutschland. Außerdem entstehe der Eindruck, die »Judenpolitik« sei das Zentrum des Faschismus, und der Nationalsozialismus sei ein Unternehmen zum ausschließlichen Zwecke des Judenmords gewesen. Alternativ dazu wurde gefragt, wie soziale, politische, institutionelle Bedingungen und Interessen zusammenwirkten, damit sich die Denkmöglichkeit »Judenmord« herausbilden, verfestigen und zur Realität werden konnte. Dazu müsse zum einen der Kapitalismus als Gesellschaftssystem und zum anderen der Sonderweg des deutschen Nationalstaates untersucht werden (vgl. die Debatte innerhalb der Linken um »das andere Deutschland«, den Widerstand sowie demokratische, nicht-antisemitische Traditionen in Deutschland).
Goldhagen hat mit seinen Thesen eine Relativierung des faschistischen Regimes durch aufrechnende Vergleiche verhindert. Es sei an dieser Stelle aber bereits angedeutet, daß der vergangenheits-und geschichtspolitische Diskurs der »Neuen Mitte« sich sehrwohl nicht trotz, sondern gerade wegen Auschwitz konstituiert hat.
Durch seine Parallelisierung der serbischen Kosovo-Politik mit der faschistischen Vernichtungspolitik, seinem Ruf nach Nato-Bodentruppen,um Serbien zu besiegen, zu besetzen und umzuerziehen, trug Goldhagen allerdings inzwischen selbst dazu bei, seine eigenen historischen Ergebnisse zum Holocaust militärpolitisch und geschichtspolitisch zu instrumentalisieren. Durch seine Reduzierung des Antisemitismus in Deutschland und des serbischen Nationalismus der Gegenwart auf phänomenologische kulturelle Probleme, wird die historische Bedeutung des Holocaust vollständig ignoriert und dieser zum geschichtspolitischen Argument zurechtgestutzt.

2. Die Wehrmachtsausstellung

Die Kontroverse um die Wehrmachtsausstellung war eine vor allem öffentliche Debatte über wissenschaftlich bereits bekannte, aufbereitete Erkenntnisse. Die Ausstellung wurde einerseits von rechts-konservativerSeite her massiv bekämpft, aber auch von vielen Befürworter(inne)n geschichts- und militärpolitisch instrumentalisiert.
Die Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944 informiert erstmals öffentlichkeitswirksam über die aktive Rolle der Wehrmacht als Institution im Prozeß des Massenmordes an den europäischen Jüdinnen und Juden, an Sinti und Roma, an den sowjetischen Kriegsgefangenen und bei den rassistischen Verbrechen gegenüber der osteuropäischen Zivilbevölkerung. Sie zeigt in Wort und Bild die Resultate dessen, was lange vor Kriegsbeginn als imperialistischer Raub- und Vernichtungsfeldzug geplant worden war.Der von den Ausstellungsmachern anvisierte »Dialog der Generationen« beinhaltete jedoch neben jahrzehntelang unterbliebenen konstruktiven Gesprächen über die Verantwortung der älteren Generation auch die Tendenzzur harmonistischen Versöhnung mit den „von Hitler instrumentalisierten deutschen Opfern“ unter weitgehendem Ausschluß der Verfolgten und ihrer Angehörigen. Das bisherige Schweigen über die Verbrechender deutschen Wehrmacht, so Jan Philipp Reemtsma, geschah um den Preis, daß den Wehrmachtsveteranen der »Heldenstatus« abgesprochen und das Leiden der einzelnen Soldaten nicht thematisiert wurde. Auch Reemtsma rückt die Opfer zu sehr in den Hintergrund der Betrachtung. Der »Friede zwischen den Generationen« könne – so Hannes Heer, einer der Ausstellungskonzeptoren – nur dadurch hergestellt werden, daß »wir, das deutsche Volk« der Wahrheit ins Gesichtsehen; dies sei »ein kathartischer Prozeß«.
Die eigenartige Intention der Ausstellungsmacher/innen besteht also offenbar weniger in rücksichtsloser Analyse und Kritik der von Deutschen begangenen Verbrechen, als vielmehr in versöhnender Forderung nach Verständnis und Einfühlung gegenüber den deutschen Tätern.
In der Bundestagsdebatte über die »Wehrmachtsausstellung« wichen selbst diejenigen, die der Ausstellung ansonsten positiv gegenüberstehen,weitgehend der Frage nach dem aktuellen Umgang mit den Deserteuren aus. Die fehlenden politischen Konsequenzen offenbaren die mangelnde Glaubhaftigkeit dieser geschichtlichen Aufarbeitung. Dazu gehört auch die Ausblendung der neuen Qualität der Bundeswehr in der Bundestagsdebatte, deren Rolle an anderer Stelle jedoch taktisch geschickt mit der Aufklärungüber Wehrmachtsverbrechen verbunden wurde.
Die Möglichkeit, im Bundestag und in der breiten Öffentlichkeit über die » Wehrmachtsausstellung« zu sprechen, ohne die Kontinuitäten zu thematisieren (Deserteure, Auslandseinsätze),liegt teilweise in der Konzeption der Ausstellung selbst begründet. Unberücksichtigt bleiben historische Vorbedingungen und Ursachen des Zweiten Weltkrieges, durch die das Erkennen von personellen, ideologischen und strukturellen Kontinuitäten innerhalb der Machteliten aus Wirtschaft,Militär, Justiz, Wissenschaft und hoher Staatsbürokratie ermöglicht worden wäre. Von zentraler Bedeutung wäre z.B. die Aufklärung über den Gesamtzusammenhang der faschistischen Vernichtungsprogramme gewesen, in denen der Massenmord an über 20 Millionen Menschen in Osteuropa zur » Germanisierung« des Ostens, die Ausweitung des deutschen Herrschaftsbereichs sowie die Versklavung der » Restbevölkerung« vorgesehen waren. Nur mit Hilfe der Analyse von Interessen- und Zielkoalitionenvon der Planungs- bis zur Ausführungsebene könnte die besondere Bündniskonstellation des deutschen Faschismus und die Rolle der Wehrmacht deutlich gemacht werden. Stattdessen bietet z.B. Hannes Heer der Totalitarismustheorie neue Nahrung, wenn er am Ende eines Aufsatzes zur Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust völlig zusammenhanglos einwirft: „Die revolutionären Aktionen und militanten Streiks der Linken hatten, auch wenn sie sich internationalistisch verstanden, mit den Putschen und politischen Morden der nationalen Rechten gemein, Gewalt als politisches Mittel definiert und legitimiert zu haben.“
Auf die Frage der WELT vom 6.11.1999, ob es denkbar sei, „dass in der neuen Ausstellung auch die gegenseitige Verschränktheit der nazistischen und kommunistischen Barbarei thematisiert wird“, antwortete Jan Philipp Reemtsma: „Das kann ich mir sehr gut vorstellen.“ Auch in der Neukonzeption der Ausstellung scheint sich somit der totalitarismustheoretische Ansatz vollends durchzusetzen, welcher die Gefahr in sich birgt, die Verbrechen der einen Seite mit denen der anderen Seite aufzuwiegen. Dadurch wird die Spezifik des von deutscher Seite lange vor Kriegsbeginn geplanten Vernichtungskrieges verharmlost und z.T. aus situativen Anlässen heraus legitimiert.

3. Das Schwarzbuch des Kommunismus

Die Grundthesen des Schwarzbuchs lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Erstens gibt es einen zeitlich und räumlich einheitlichen,verbrecherischen Kommunismus – „aus einem Guß“ – von 1917-1991 (ebd.,834), zweitens belügt sich die Linke hinsichtlich Verbrechen im Kommunismus(ebd., 15ff.), drittens sind diese nur die konsequenten Folgen der verbrecherischen linken Idee (Marxismus und Klassentheorie sind Rassenideologien gleichzusetzen,SdK, S. 33.f./817f.), viertens existiert eine Wesens-Identität von Sozialismus und Faschismus als (zusammenarbeitende) Totalitarismen (ebd.,40), fünftens stellen Auschwitz und der Judenmord keine negative Singularität dar (der »Rassengenozid« der Nazis entspricht dem kommunistischen»Klassengenozid«; SdK, S. 21) und sechstens war die DDR ein NS-ähnliches verbrecherisches und totalitäres „Isolierungslager mit 17 Millionen Insassen“ (ebd., 871).
Laut Courtois ist neben dem Antifaschismus und der Revolutionsidee die Erinnerung an den Judenmord nach 1945 schuld an derVertuschung der Verbrechen des Weltkommunismus (ebd., 31/35). Verantwortlichfür die Erinnerung an den Holocaust ist für Courtois die „internationale jüdische Gemeinde“ (wer auch immer damit gemeint sein mag). Die Juden können also nicht nur nicht aufhören, an den Holocaust zu erinnern, sie bringen es sogar fertig, dadurch historische Erkenntnisse überden Kommunismus zu blockieren.
Wie das Schwarzbuch des Kommunismus über denTotalitarismusvergleich schließlich zu einem »Weißbuch des Faschismus« wird und sich somit der Übergang von der ideengeschichtlichen Perspektive über das Totalitarismusmodell zum Geschichtsrevisionismusvollendet, bewies Courtois als er sagte, dass er „den Nationalsozialismus,abgesehen vom Verhalten gegenüber den Juden, nur für ›semitotalitär‹ halte. Es sei den Nazis, zum Beispiel, nur um ›Deutschland‹ gegangen, währendder Kommunismus die ›Weltrevolution‹ gewollt habe“. Zunächst einmal hatte er damit die vielen anderen Opfergruppen des deutschen Faschismus verleugnet. Ferner relativierte er den imperialistischen deutschen Raub-und Vernichtungskrieg im Osten und dessen millionenfachen Opfer, da es den Nazis ja nur um Deutschland gegangen sei (fragt sich nur, in welchen Grenzen). Das alles war für Courtois nicht totalitär, weil es offensichtlich nicht geschah. Doch auch seine Konzentration auf den Judenmord beinhaltete blankesten Geschichtsrevisionismus: „Seltsamer noch wurde Courtois,als er eine geheime Rede Himmlers, gehalten 1943 in Posen, erwähnte. Himmler sagte dort, daß die deutsche Bevölkerung die ›notwendige‹ Vernichtung der Juden nicht verstünde. Für Courtois ein Indiz für den Rest eines ›Bewußtseins für Moral‹ bei den Nazis– während die Kulaken-Aushungerung in der Ukraine von anderen Teilen der dortigen Bevölkerung mitgetragen worden sei“ . Die Deutschen hingegen hatten laut Courtois offenbar nichts mit der Judenvernichtung zu tun. Er besiegelte schließlich seinen Geschichtsrevisionismus mit der Forderung nach einem Schlußstrich unter die NS-Vergangenheit, wie man es sonst nur von Rechtsextremen kennt (WOCHE vom 29.5.98): „Ich frage die Deutschen: Bis wann wollen sie sich so verhalten, als seien sie allesamt die Verurteilten von Nürnberg? Irgendwann muß mal Schluß sein“.
Letztlich handelt es sich somit beim Schwarzbuch aus deutscher Sicht um das Zurückdrängen der Tatsache deutscher Verbrechen im 20. Jahrhundert zugunsten eines Mythos, der die Deutschen als Opfer zweier totalitärer Diktaturen und deren Verbrechen sehen will.

4. Vorbildliche Vergangenheitsbewältigung?

Die Goldhagen-Kontroverse sowie die Debatten um die Wehrmachtsausstellung zeigen, wie sich die Absage an die Vergangenheit mit einer »Heiligsprechung« der Gegenwart verbinden läßt. So lobte Goldhagen die heutige deutsche Innen- und Außenpolitik sowie die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ als vorbildhaft und als „Leitbild“für andere Länder, die Hamburger Ausstellungsmacher/innen betonen, dass sie weder die Wehrmachtssoldaten an den Pranger stellen noch die Bundeswehr angreifen wollten. Hierbei handelt es sich im Gegensatz zum schlichten Revisionismus um eine reibungsfreiere und standortgerechtere Instrumentalisierung der jüngeren Geschichte für die (zukünftige) deutsche (Außen-)Politik.
Die geschichtswissenschaftliche Schnittstelle von Goldhagen und dem Schwarzbuch-Herausgeber Stéphane Courtois stellt sicherlich die ideengeschichtliche Methode dar. Goldhagen beschreibt, aber erklärt nicht die Geschichtsmächtigkeit des deutschen Antisemitismusim Zusammenhang mit dem deutschen Nationalismus. Dadurch werden der historisch-gesellschaftliche Kontext, das besondere Verhältnis von Kontinuitäten und Brüchen in der Geschichte des deutschen Sonderweges außer acht gelassen.
Courtois leitet das eigentliche Motiv des Terrors– den er für das Wesen des Kommunismus hält –, ab aus einer „leninistische[n] Ideologie und de[m] völlig utopische[n] Willen[n], eine Doktrin anzuwenden,die keinerlei Bezug zur Realität hat“ (SdK, 805). Dadurch werden ebenfalls geschichtliche Prozesse aus einer Ideologie und aus dem zugehörigen Willen hergeleitet, ohne zu fragen, was die sozialen, politischen und institutionellen Bedingungen waren, die diese Ideologien in bestimmten, geschichtlichen Zeiträumen hegemonial werden und bestimmte Handlungspraktiken folgen ließen.
Während Courtois Lenin und Trotzki vorwirft, nicht an den Massenschlächtereien des ersten Weltkrieges teilgenommen und zudem selbigen aus Klassenanalyse und Imperialismustheorie erklärt zu haben, statt – wie François Furet – aus „Leidenschaften“ (vgl.SdK, S. 802f.), rechnet es die FAZ der Wehrmachtsausstellung hoch an, den Blick auf den Krieg „von einer Politik der Interessen hin zu einer Anthropologie der Gewalt“ gelenkt zu haben.
Viel wichtiger als diese methodische Gemeinsamkeit zwischen dem Schwarzbuch, Goldhagen und der Ausstellung zu den Wehrmachtsverbrechensind jedoch die thematischen Unterschiede: Goldhagen und die Wehrmachtsausstellung haben die deutschen Täterinnen und Täter zum Untersuchungsgegenstand. Indessen kommen im Schwarzbuch die Deutschen nur als Opfer vor. Die Besonderheit des Holocaust wird durch Vergleiche und Gleichsetzungen mit staatssozialistischen Verbrechen relativiert und der deutsche Vernichtungskrieg im Osten kommt überhaupt nicht vor.
Die deutschen Verbrechen der Vergangenheit werden somit nicht mehr abgestritten, sondern verharmlost,wie im Schwarzbuch und seiner positiven Rezeption, oder isoliert vom historisch-gesellschaftlichen Kontext anerkannt und analogisiert, wie durch Scharping und Fischer, sie werden parallelisiert, wie durch Goldhagen, für den Milosevic und die Serben Hitler und seinen willigen Vollstreckern ähneln, und gegebenenfallsals Begründung für heutige Militäreinsätze im Ausland herangezogen und instrumentalisiert.
Die Formen der Instrumentalisierung waren und sind bei den drei untersuchten Debatten zumeist sehr unterschiedlich. Dennoch ist ihnen die (beabsichtigte oder unbeabsichtigte) Gefahr gemeinsam, durch geschichtswissenschaftliches Ignorieren gesellschaftlicher Kontexte und Triebkräfte geschichtspolitische Instrumentalisierungen voranzutreiben. Diese äußern sich in der momentanen Lage der Bundesrepublik- wie gezeigt – v.a. in der Begünstigung von historischer Analogisierung statt Kausalerkenntnis und in Richtung affirmativer Machtstaatsgeschichte. Dadurch wird letztlich (v.a. im Falle des Schwarzbuchs) einem Geschichtsrevisionismus Vorschub geleistet und der extremen Rechten zugearbeitet.