Offener Brief an die ChilenInnen

Der Arbeiterpriester Mariano Puga ist empört darüber, wie das Regime von Sebastián Piñera angesichts der Proteste in Chile agiert hat. Marino Puga hat insbesondere in den Zeiten der Diktatur für die Menschenrechte gekämpft, war selbst inhaftiert und hat die Proteste der Armen mit unterstützt. Er gehört in Chile zu den bedeutsamen Figuren der Kirche der Armen, er ist 89 Jahre alt und schwer an Krebs erkrankt. Vor einigen Tagen hat er einen beeindruckenden offenen Brief an die ChilenInnen verfasst.

….“gelangweilt bis ins Knochenmark.“ Ich wache morgens auf und das erste, was mir begegnet ist die politische Lähmung des Landes, die die fehlende Führung wiederspiegelt. Langweilige, sich wiederholende Diskurse ohne Kreativität und voller Dummheit. Wir leben in einer Diktatur und sind Gefangene Piñeras, Gefangene unserer selbst, unserer eigenen Gefängnisse, unseres eigenen Hasses (…). Dieses Volk hat das Recht alles zu zerstören, denn ihnen wurde alles zerstört und man muss sich fragen: Welche Zuneigung haben wir, welches Zuhause haben wir ihnen gegeben? Welche Liebe? Was habe ich dafür getan, dass ihr Leben besser wird?

Piñera versteht nicht, was sich hinter den Klagen der Menschen verbirgt, er und viele wie er können das Erwachen des Volkes nicht verstehen. Er versteht nicht, dass die Gesetze, die das Sozialsystem aufrecht erhalten, das Gesundheits- , Arbeits- und Vorsorgesystem, dass es ausschließend, egoistisch, unmenschlich (…). Die Revolution macht man nicht mit den Mächtigen, sondern mit denjenigen, die sich die Sache der Machtlosen zu ihrer Sache gemacht haben und an denen fehlt es uns heute.

Ich sehe aber nicht, wie dieses System solche Menschen hervorbringen soll; vielmehr geschieht das Gegenteil, das System schnappt sich die Machtlosen und transformiert sie in Verehrer des Konsummodells.

Und die Kirche flüstert gerade mal Erklärungen, die Kirche war Komplize des Marktsystems. Was ist los mit den Pfarrern Chiles? Sie haben die Fähigkeit verloren, an der Seite des Volkes zu stehen, sich ihre Schreie und Klagen zu eigen zu machen. Sie haben ihre Glaubwürdigkeit verloren, weil wir unser Volk entsetzt haben, wir haben ihm geschadet und es angelogen und jetzt leben wir in unserem eigenen Land im Exil, eingesperrt und exiliert in unserer eigenen Kirche.

Wie sagte doch Violeta: was würde der Heilige Vater sagen? Das Projekt war nicht von den Menschen, es war von Gott. Die Kirche ist nicht in der Lage, im Einklang mit den Forderungen des Volkes zu sein, weil sie davon abgelassen hat, selbst Volk zu sein; wir verstehen weder die Leute noch Jesus, sondern opfern ihn, wir zerstören ihn, entmenschlichen ihn, wir treten ihn mit Füßen und transformieren ihn zu einem Ritus für die Toten, der konventionellen Messen, zu Rechtfertigungs-Riten.

Was für eine Einsamkeit umhüllt mich. Gegen diese Einsamkeit helfen auch keine angstlösenden Medikamente. Es ist die Einsamkeit Jesu, der ruft „Vater, warum hast du mich verlassen?“, es ist die Einsamkeit der Jünger, die ihn genauso verlassen werden.

Heute las ich den Aufruf Jesu, den, wo es heißt, teile alles, was du hast und mache dich auf in die Mission. Was für eine riesige Angst, alles zu verlieren, mich zu verlieren, damit andere leben (…)

Und ich komme zu mir zurück und frage mich, was es heißt, mich ganz hinzugeben. Geh los, Mariano, sagt mir Jesus, gib dich den anderen hin, sei mein Mitarbeiter, auch wenn dich niemand versteht, auch wenn du das Gefühl hast, dass nicht einmal Gott bei dir ist. Ich traue mich noch nicht einmal, dich Herr, etwas zu bitten, aber ich weiß, dass wir alle da durch gehen.

An der Stelle begann ich kreativ zu werden, wenn ich mich also inmitten der Menschen befinden würde, die ihre Stimmen erheben und ihre Körper aussetzen, würde ich auf der Plaza Italia eine Bühne aufstellen, würde ich mir alle Akkordeon- und Gitarrenspieler schnappen und die Leute zum Tanzen einladen, und so aus diesem Platz einen reisigen Tanzsaal machen, wo jeder nach links und rechts schaut und andere einlädt, die nie gesungen, nie gelacht haben.

Wen würdest Du zum Tanzen einladen? Ich würde gerne die Gelähmten, die Blinden, die, die neben der Spur sind, die Alkoholiker, die Schizophrenen, diejenigen, denen die Lebensbedingungen oder Möglichkeiten verwehrt werden, die Hintangestellten oder Vergessenen, diejenigen, die sich das Gesicht vermummen müssen, um ihren Teil an der Gewalt beizutragen, einladen. Sie alle würde ich gerne einladen. Sie sind uns so nah und wir werten sie ab und niemand hat sie je über den Grund ihres Lebens gefragt oder wer sie sind.

Wir würden die plaza in ein Fest verwandeln, wo wir uns wenigstens mit denjenigen die Hand geben, die mit Füßen getreten werden und würden so Chile für einen Moment in den Chilote verwandeln (Tanz aus Chiloe, Anm. de Übers.)

„Für die, die noch nicht bei uns sind – Wegen ihrer lassen wir nicht vom Kampf“. Dieses Kreuz ist das Zeichen der Basisgemeinde Villa Francia in Santiago de Chile

Ich möchte mich vergessen, mein Essen und meine Prioritäten, meine Vorlieben und meinen Besitz, ich möchte mich selbst vergessen. Nur dafür, dass der andere das haben kann, was ihn glücklich machen könnte, was ihm fehlt. Ich möchte das falsche Bild Jesu vergessen und das machen,was er sagt: derjenige, der mit mir isst und trinkt, ist ein neuer Mann und eine neue Frau.“

Ich bin sicher, dass das Leben in Jesus heilt, erneuert und befreit und er möchte keine noch braucht er Selige. Ich frage mich: was kann ich geben? Nachdem ich gehasst und geliebt worden bin, kann ich lediglich dienen bis dahin das Leben für die anderen zu geben, mein Glück darüber verleumdet, falsch verstanden worden zu sein, Imageverlust erlitten zu haben, gefoltert und geleugnet worden zu sein. Aber von hier aus kann ich sagen, dass ich die Möglichkeit gewonnen habe zu lieben, mich Bruder der Gedemütigten zu verstehen, derjenigen, die weder geliebt noch gehört werden.

Ich bin sicher, dass die Antworten der Menschen angesichts der Frage, was man geben kann, wesentlich schöner wären, viel stärker als alle Dummheiten, die unsere höchste Autorität und ihr Gefolge von sich geben, weil wir menschliche Wesen sind, weil man uns alles außer der Menschlichkeit genommen hat, die eine Gabe Gottes ist, denn niemand kann uns nehmen, was Gott uns gegeben hat, Auch nicht der schlimmste aller Diktatoren kann uns das nehmen. (…) dieser Gott ist stärker als alle unsere Widerstände.

Diesen Gott verstehen die ganz einfachen Menschen, ich lobe dich Vater, weil du dich den Kleinen, denjenigen, die für nichts gehalten werden, offenbarst. Ja, Vater, ich lobe dich, weil du das Wunder an deinem Bruder getan hast, du, der gesagt hast, tue deinem Bruder wie du möchtest, dass auch dir getan wird, und du machst es, weil du glaubst, dass der Gott der Christen und der Gott aller Religionen ein armer Gott ist, ein Gott ohne Macht, der keine Wunder vollbringt, der sich zum Letzten der Letzten machte, getötet, Märtyrer, wie ein Unschuldiger verlassen, wie ein „politischer Gefangener“. Das ist unser Gott, der auferstand und ein Modell des neuen Menschen für alle entwarf.

Der Geist, der ihn dazu animierte, ist der Geist, der jeden Menschen antreibt, es ist der Geist, der durch die Propheten spricht und es ist der, der sagt, wenn wir uns organisieren, wenn wir uns helfen, wird er uns helfen, um so unsere Frustrationen, Ängste, Haß, Verzweiflungen, Machtstreben, Götzen hinter uns zu lassen. Ich gebe euch diesen Geist, so dass ihr Leben habt und ihr kehrt zu eurer Erde zurück, die ihr bebauen werdet, und es wird eine neue Gesellschaft wachsen, schöner noch als die von Allende, weil sie über die großen Alleen der gesamten Menschheit schreitet und dort merken wir, dass diejenigen, die die Töpfe schlagen (Nach dem Wahlsieg Allendes strömen die Menschen zu hunderttausenden aus den Armenviurteln auf der Hauptstrasse zum Präsidenpalast: darauf spielt dieser Satz an, das Schlagen auf leere Kochtöpfe ist eine traditionelle Protestform; M.R.), die die Metro zerstören, die ganz still auf der Suche sind, die Risiken auf sich nehmen, die ihr Leben für eine andere Welt geben: sie alle haben etwas von diesem Gott, wir alle haben denselben Gott: die Träumer, diejenigen, die Fehler machen und Träume hervorbringen, die wir in der Lage sind zu tanzen, zu singen, Schönheit zu erschaffen, in dem wir Gesang – Theater – Leben – Liebe darbringen.

Ich möchte Maria, Maria aus Nazareth bitten: du hast den Gott der Machtlosen zur Welt gebracht, du hast den Gott der Schwachen und nicht der Reichen entdeckt, sei du die Mutter dieser neuen Menschheit.

Über Franziskus: Du der Du den armen Glatzkopf und seinen Geist auserwählt hast, die Kirche in diesen Zeiten zu regieren, reiche ihm, Herr, Deine Hand und rechne mit unserem armseligen Gebet, verzeih unseren unermüdlichen Klerikalismus.

Was ist los mit unserer Führung? Wo sind sie? Wo ist die Kunst? (…) Wer wird zur Stimme der Hoffnungen in der Straße? Was ist mit den Künstlern des Neuen? Singt uns, schreit uns, lehrt uns zu träumen, ohne euch, ohne die Anderen dieser Welt, können wir das nicht. Das Erwachen (Chile ist erwacht:einer der gegenwärtigen Slogans der Protestbewgung, M.R.) darf nie wieder sterben! Bis dass wir wieder Menschen werden „Ich werde dich aus den Gräbern auferstehen lassen, mein Volk, und ich werde dich zur Erde führen“ (…) Erinnern wir uns an das subversive Gedächtnis Jesu und vergessen wir nicht, dass das, was zu seiner Ablehnung geführt hat, dass das seine Gesten der Liebe und Zärtlichkeit waren, der radikalen Option zwischen und für die Armen dieser Erde, die Verkündigung der frohen Botschaft, des Evangeliums, die er mit seinem eigenen Leben bezahlt hat.

Etwas Neues ist geboren, mit den Armen wird es wachsen, unser Gott ist Volk (pueblo: im spanischen synonym für die Armen, Marginalisierten und Entrechteten, M.R.) geworden.So haben wir auf unseren Kreuzwegen (in den achtziger Jahren in Chile Prozessionen in den Armenvierteln, Orte des Protestes und des Widerstandes, M.R.) gesungen, entwerfen wir es heute wieder neu und riskieren wir unsere Leben …

Übersetzung: Sandra Lassak