Finale Krise des Kapitalismus?

Der brasilianische Theologe Leonardo Boff hat Ende Juni auf seinen Internetseiten Überlegungen zur aktuellen Krise der Kapitalismus veröffentlicht, die wir hier in einer deutschen Übersetzung (von Norbert Arntz) veröffentlichen:

Finale Krise des Kapitalismus?
Meine These ist, dass die gegenwärtige Krise des Kapitalismus mehr ist als eine konjunkturelle oder strukturelle Krise. Sie ist vielmehr final. Ist die Fähigkeit des Kapitalismus, sich jederzeit allen Verhältnissen anpassen zu können, erschöpft? Mir ist klar, dass nur wenige Menschen diese These teilen. Zwei Gründe jedoch veranlassen mich zu dieser Interpretation:
1. Wir haben es mit einer finalen Krise zu tun, weil wir alle, insbesondere aber der Kapitalismus, die Grenzen der Erde missachtet haben. Wir waren damit beschäftigt den gesamten Planeten zu plündern, sein subtiles Gleichgewicht zu zerlegen, seine Güter und Dienstleistungen bis zu dem Punkt auszuschöpfen, von dem aus er mit eigener Kraft nicht mehr ersetzen kann, was man aus ihm herausgeholt hat. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Karl Marx prophezeit, dass das Kapital dahin tendiere, die Springquellen seines Reichtums und seiner Reproduktion zu zerstören, nämlich die Natur und die Arbeit. Das erleben wir gegenwärtig.
Die Natur wird in der Tat einem unglaublichen Stress unterzogen, wie niemals zuvor zumindest im letzten Jahrhundert, wenn man von den 15 ungeheuren Zerstörungen absieht, die sie im Laufe ihrer Geschichte von 4 Millliarden Jahren zu bestehen hatte. Die in allen Regionen feststellbaren heftigen Klima-Phänomene und Veränderungen, die auf eine globale Klimaerwärmung hinweisen, belegen die These von Marx. Wie aber will sich der Kapitalismus ohne die Natur reproduzieren? Er ist mit einer unüberwindbaren Grenze konfrontiert.
Der Kapitalismus verwirft die Arbeit bzw. macht sie prekär. Die Entwicklung wird zum großen Teil ohne menschliche Arbeit vorangetrieben. Der von Informatik und Robotern gesteuerte Produktionsapparat produzierte nahezu ohne Arbeit mehr und besser. Unmittelbare Konsequenz ist also die strukturelle Arbeitslosigkeit. Millionen Menschen werden keinen Zugang zur Arbeitswelt haben, nicht einmal mehr als „Reservearmee“. Arbeit, abhängig vom Kapital, wird von diesem für überflüssig erklärt. In Spanien  sind bereits 20% der Gesamt-Bevölkerung arbeitslos, aber bereits 40 % der Jugendlichen. In Portugal sind es 12 % des Landes, aber 30 % der Jugendlichen. Das führt zu einer tiefen gesellschaftlichen Krise, wie sie gegenwärtig Griechenland verwüstet. Die gesamte Gesellschaft wird einer Art von Wirtschaft geopfert, die nicht dazu dient, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, sondern die Schulden im Banken- und Finanzsystem zu tilgen. Marx hat Recht: Nicht mehr die ausgebeutete Arbeit ist die Quelle des Reichtums, sondern die Maschine.
2. Der zweite Grund für die finale Krise des Kapitalismus hat mit der humanitären Krise zu tun, die der Kapitalismus erzeugt. Zuvor war sie auf die Länder der Peripherie beschränkt. Heute wird sie global und erfasst auch die Länder des Zentrums. Man kann das Wirtschaftsproblem nicht mehr durch die Zersetzung der Gesellschaft in den Griff kriegen. Die Opfer, die sich auf den neuen Kommunikationswegen vernetzen, leisten Widerstand, rebellieren und bedrohen die herrschende Ordnung. Immer weniger Menschen, besonders unter den Jugendlichen, akzeptieren die perverse Logik der politischen Ökonomie im Kapitalismus: Die Finanzdiktatur, die über den Markt die Staaten ihren Interessen unterwirft und die Gewinnsucht des Spekulationskapitals, das von einer Börse zur anderen zirkuliert und riesige Gewinne verbucht, ohne überhaupt irgendetwas zu produzieren, außer mehr Geld für die Aktienbesitzer.
Das Kapital selbst schuf das Gift, von dem es heute umgebracht wird: Weil es von seinen Arbeitern eine stets bessere technische Ausbildung verlangte, um beschleunigter wachsen und besser konkurrieren zu können, hat es unabsichtlich Menschen hervorgebracht, die selbst denken können. Diese beginnen langsam die Perversität des Systems zu begreifen, das den Menschen das letzte Hemd nur zu dem Zweck raubt, materiell immer noch mehr wachsen zu können, das herzlos von den arbeitenden Menschen mehr und mehr Effizienz verlangt, sie einem unglaublichen Stress unterwirft, so dass sie verzweifeln oder sich sogar das Leben nehmen.
Die Empörten auf den Straßen und Plätzen einer Reihe von europäischen und arabischen Staaten, in Spanien und in Griechenland rebellieren gegen das herrschende politische System, das sich im Schlepptau der Logik des Kapitals und des Marktes bewegt. Die Jugendlichen in Spanien riefen: „es ist keine Krise, sondern Diebstahl“. Die Diebe und Räuber sitzen auf der Wallstreet, im Weltwährungsfond, in der Europäischen Zentralbank, das heißt, es sind die Hohenpriester des ausbeuterischen globalisierten Kapitals.
Je mehr die Krise sich zuspitzt, umso mehr werden Menschen in aller Welt die Folgen der Super-Ausbeutung ihres Lebens und des Lebens der Erde nicht mehr dulden, sondern gegen dieses Wirtschaftssystem rebellieren, das sich in Agonie befindet, und zwar nicht aus Altersgründen, sondern weil das Gift so stark und die Widersprüche so offensichtlich sind, die es hervorgerufen hat, indem es die Mutter Erde so kasteite und das Leben ihrer Söhne und Töchter so stark beschädigte.