Elf Jahre Pontifikat Franziskus

Michael Ramminger, 13.03.2024

Heute vor elf Jahren begann das Pontifikat von Papst Franziskus. Die Wahl dieses Papstes war ein bewegender Moment nach all der nachkonziliaren Erstarrung und Rückwärtsgewandheit der Vorgängerpäpste. Schon sein erster öffentlicher Auftritt verwies auf seine Anliegen: Er verzichtete auf die traditionellen roten Schuhe und trug stattdessen seine normalen Straßenschuhe. In der bundesdeutschen katholischen Öffentlichkeit war die Begeisterung für den neuen Papst groß. Er schien eine Kirche und eine Theologie zu wollen, die sich den Problemen der Welt, den „Zeichen der Zeit“ stellt. Sein Anschluss an die Aufbruchsbewegungen des Zweiten Vatikanums war unübersehbar und unüberhörbar. Vermutlich wie auch sein Vorgänger Ratzinger war ihm die Krise der Kirche und des Christentums bewusst, anders als Ratzinger jedoch ist Bergoglio klar, dass es kein Zurück in den vorkonziliaren Traditionalismus geben kann. Die Zukunft der Kirche kann nur gewonnen werden, wenn sie den Problemen der Welt etwas entgegenzusetzen hat.

In diese Richtung gingen seine öffentlichen Äußerungen, seine lehramtlichen Verlautbarungen und theologischen Reflexionen.

Die Freude des Evangeliums

Erinnern wir uns an seine Kapitalismuskritik: 2013 formulierte Franziskus im apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium („Freude des Evangeliums“) die berühmte Überschrift „Diese Wirtschaft tötet“ und kritisierte die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ als ein Hauptmerkmal unserer Zeit. Damit warf er das Problem von Gottesdienst und Götzendienst auf, er verglich unser Verhältnis zur Ökonomie sogar mit dem Götzendienst am Goldenen Kalb. In diesem Sinne führte ihn die erste Reise seines Pontifikats nach Lampedusa, um dort afrikanische Flüchtlinge zu treffen, die es bis auf die italienische Insel geschafft hatten. „Die Globalisierung der Gleichgültigkeit“, so Franziskus, „hat uns die Fähigkeit zu weinen genommen“. Wie sehr sich die Herzen Europas in den letzten 11 Jahren verhärtet haben, statt sich die Fähigkeit zu Mitleid und Menschlichkeit zurück zu erobern, sehen wir an verschärften Grenzregimen, am Versuch, die Grenzen hermetischer zu verschliessen und an der traurigen Ideologie, dass unser Wohlstand nur ungeteilt aufrecht zu erhalten ist.

Ökologie und Soziale Frage

In der Enzyklika „Laudato si“ vom Mai 2015 widmete Papst Franziskus sich der Frage der Umweltzerstörung und deren Zusammenhang mit der sozialen Frage, und sagte: „Es ist vergessen worden, dass wir, die Menschen, selber Erde sind. Besonders die Armen, die keiner Beachtung für Wert befunden und misshandelt werden, sind von dieser Ausbeutung und Zerstörung der Erde am stärksten betroffen.“ (EG 1ff.) Der oft vergessene Zusammenhang zwischen ökologischer und sozialer Frage, zwischen Armut, Hunger und Krieg einerseits und Naturzerstörung und Klimaerwärmung andererseits wurde von ihm zur Sprache gebracht, und immer wieder mit dem Aufruf verbunden, sich mit diesen Verhältnissen nicht abzugeben und dies als zentrale „Gottesfrage“ zu verstehen.

Die Welttreffen mit den sozialen Bewegungen

Anlässlich der Welttreffen sozialer Bewegungen, die der Vatikan seit 2014 organisierte, verwies er immer wieder auf den Zusammenhang zwischen politischer Praxis und dem Aufbau des Reiches Gottes. Mehrfach lud er Menschen aus der ganzen Welt und aus verschiedensten sozialen Bewegungen zu Versammlungen ein. Tierra – techo – trabajo (Arbeit – ein Dach über dem Kopf und Land) waren das Motto. Und schon 2015 forderte er, dass die Kirche den Bewegungen nicht fernbleiben dürfe, „auch wenn sie Gefahr laufe, sich mit dem Dreck der Strasse zu beschmutzen.“ (EG 45) Den Bewegungen gegenüber erklärte er 2016: „Ihr tut, was Jesus tat.“.

Die Amazonien-Synode

2019 fand auf seine Initiative hin die Amazonien-Synode statt, von der der brasilianische Befreiungstheologe Marcelo Barros sagte, dass schon deren Vorbereitungs-Text auf synodale Weise im Dialog mit den ursprünglichen Völkern Amazoniens zustande kam und die Umkehr der Kirche als pastoralen und ökologische Umkehr interpretierte. Er nahm damit den Papst gegen Kardinal Walter Brandmüller in Schutz, der im Blick auf das Vorbereitungspapier selten dümmlich die Frage gestellt hatte, was Ökologie, Ökonomie und Politik mit dem Auftrag der Kirche zu tun hätten.

Weltverhältnisse und evangelisierende Kirche

Regelmäßig finden Dorspaziergänge und Gottesdienste der Initiative "Die Kirche(n) im Dorf lassen"an der Tagebaukante und in den bedrohten Dörfern statt. Foto: Barbara Schnell
Regelmäßig finden Dorfspaziergänge und Gottesdienste der Initiative „Die Kirche(n) im Dorf lassen“ an der Tagebaukante Garzweiler und in den bedrohten Dörfern statt. Foto: Barbara Schnell

In seinem letzten großen Schreiben „Laudate Deum“ 2023 schrieb er: „Diese (gegenwärtige) Situation hat nicht nur mit der Physik oder der Biologie zu tun, sondern auch mit der Wirtschaft und unserer Weise, sie zu verstehen. Die Logik des maximalen Profits zu den niedrigsten Kosten, verschleiert als Rationalität, als Fortschritt und durch illusorische Versprechen, macht jede aufrichtige Sorge um das gemeinsame Haus und jede Sorge um die Förderung der Ausgestoßenen der Gesellschaft unmöglich.“ (LD 31) Hier scheint er all seine bisherigen Anliegen in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Zugleich formuliert er hier, was er unter evangelisierender Kirche versteht: Nur, wenn wir etwas zur Lösung der dramatischen Weltverhältnisse beizutragen wissen, reden wir angemessen von messianischer Nachfolge.

Die Kritik der Gewalt

Die Frage der Gewalt taucht in unterschiedlicher Weise in vielen seiner Ansprachen und Äußerungen auf. Auch im Blick auf die Ukraine hat er sich immer wieder deutlich positioniert. So zum Beispiel bei der traditionellen Neujahrsansprache am 09.01. 2023 vor dem diplomatischen Corps, wo er zum wiederholten Male von einem „dritten Weltkrieg“ sprach, der zwar immer nur bestimmte Regionen träfe, aber im Grunde bereits in Gange sei. Dabei zog er dort schon den Krieg in der Ukraine mit in die Überlegungen hinein, warnte aber damals auch schon vor den wachsenden Spannungen zwischen Palästinensern und Israel. Ein Jahr später führte er bei gleicher Gelegenheit aus: „Wenn wir jedem einzelnen von ihnen (den Opfern, MR) in die Augen schauen, sie beim Namen nennen und ihre persönliche Geschichte erzählen könnten, würden wir den Krieg als das erkennen, was er ist: nichts als eine entsetzliche Tragödie und ein unnötiges Blutbad, das die Würde jedes Menschen auf dieser Erde verletzt“. Krieg ist eine Form dieser Gewalt, andere Formen sind die der Ausbeutung menschlicher Arbeit, der natürlichen Ressourcen, sexualisierter Gewalt etc.

Der Beginn seines Pontifikats

Anfangs war die Bewunderung für seine offene Rede, für seine erkennbar theologische und politische Konsequenz bei uns groß. Viele ahnten, wie Recht Franziskus mit der Einschätzung der Situation der Welt und seiner Kritik hatte. Anders war es in Latein- und Südamerika. Hier war das Misstrauen nach den langen Jahren der Verfolgung der Befreiungstheologie und der „Kirche des Volkes“ so groß, dass sich die wenigsten noch etwas von einem neuen Pontifikat erhofften.

Es ist für Franziskus bis heute nicht leicht, an seiner doppelten Linie der theologischen Positionierung und kirchlicher Veränderungen festzuhalten. Die vorsichtigen, aber konsequenten strukturellen Änderungen wie z.B. der Umbau der römische Kurie, personelle Umbesetzungen etc. müssen sich gegen die reaktionären Beharrungskräfte im Vatikan behaupten. Auch die Bemühungen um synodale Prozesse stoßen nicht überall und immer auf Verständnis. Und insbesondere dem bundesdeutschen Katholizismus fehlt es oft an römischer Unterstützung für die hier als notwendig erkannten Kirchenreformen.

Haben sich Sympathien verkehrt?

Ein wenig scheint es, als ob sich die Sympathien für Franziskus verkehrt haben. Während tatsächlich zu Beginn viele bei uns auf seiner Seite standen, und im globalen Süden eher distanziertes Abwarten vorherrschte, scheint es heute umgekehrt. Die Ungeduld und die regressive Konzentration auf strukturelle Kirchenreformbestrebungen einerseits und die – vorsichtig formuliert – mäßige Bereitschaft andererseits, sich die evangelisatorischen und politischen Linien des Papstes zu eigen zu machen, haben hier zu einer größeren Distanz gegenüber Franziskus geführt, während in Teilen des globalen Südens die Überzeugung gewachsen ist, dass Franziskus es mit der Erneuerung von Kirche und Christentum ernst meint. Denn hier war seit Beginn des letzten Jahrhunderts stetig die Überzeugung gewachsen, dass nur eine messianische Praxis des Friedens, der Gerechtigkeit und Gleichheit der Boden sein kann, auf dem eine neue Kirche entstehen wird. Und an diese Geschichte knüpft Franziskus an. Symbolisch ist dies an der Rehabilitation so vieler Befreiungstheologen deutlich geworden. Mit ihm hatte die Verfolgung von BefreiungstheologInnen durch Rom ein Ende. Er hatte sich bereits 2015 mit dem salvadorianischen Befreiungstheologen Jon Sobrino getroffen und ihm gesagt: „Schreib weiter!“, er traf auch Leonardo Boff und Gustavo Gutiérrez und rehabilitierte Miguel d’Escoto. Im letzten Jahr hat Papst Franziskus dann die Suspendierung von Ernesto Cardenal aufgehoben. Im Blick auf seine politischen Überzeugungen ist Franziskus ein Mensch des globalen Südens und weiß viele hinter sich.

Die Distanz zwischen Nord und Süd

Wie dramatisch die Distanz zwischen Norden und globalem Süden übrigens wieder geworden ist, nachdem man in den achtziger Jahren trotz des Kampfes gegen die Befreiungstheologie bei uns hier in Europa den Eindruck hatte, dass es auch in unseren Kirchen ein zunehmendes Verständnis für Situation und Probleme der Menschen des Süden gibt, lässt sich in diesen Tagen an der Auseinandersetzung um die Worte von Franziskus zum Krieg in der Ukraine abmessen. Die Arroganz des Westens, unter den Labeln von Demokratie und Menschenrechten die Welt in einen Kampf zwischen Gut und Böse zu verwickeln und die Menschen in der Ukraine immer weiter bluten zu lassen, ist unerträglich. Die Aufforderung der FDP-Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann, „der Papst müsse sich sortieren!“ entlarvt ihren Glauben: „Außerhalb der NATO kein Heil!“.

Auch das ZK der deutschen Katholikinnen fällt in dieses „Weiter so bis zum bitteren Ende“ ein, das die deutsche Außenministerin schon zu Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine ausgegeben hatte. Wir übernehmen gerne das Wort des Journalisten Friedrich Küppersbusch vom „waffenreligiösen Katholizismus“, der sich hier in absoluter Ignoranz gegenüber den päpstlichen Friedensbemühungen herausgebildet hat. Ein römisch-katholischer Papst darf nach all den dramatisch brutalen Erfahrungen und Einsichten der Geschichte niemals in die Propaganda für einen bedingungslosen Krieg einfallen! Jene, die gerade am lautesten für seine Fortsetzung grölen; werden gewiss nicht in ihm sterben wollen.

Viele im globalen Süden schütteln über diese ihnen altbekannte Arroganz des Westens, über seine pazifistische Heuchelei, seinen Anspruch auf Menschenrechts- und Demokratiemonopol nur den Kopf. Und wenn der bundesdeutsche Katholizismus sich nicht endlich auch zu diesen Problemen verhält, verrät er seine „Katholizität“ („das Ganze betreffend“). Diese kann nicht ausschließlich durch kirchliche Strukturreformen gerettet werden.

Das Pontifikat von Franziskus jedenfalls ist im tiefen Sinne prophetisch und weist den mühsamen Weg zu einer befreienden Kirche. Ob dieser Weg eingeschlagen wird?