Wir dokumentieren hier das Eröffnungsreferat von Juan José Tamayo auf dem 44. Theologischen Kongress der Theologenvereinigung Johannes XXIII. am 5. September 2025. Tamayo hat sich als Theologe mit der Befreiungstheologie und dem Islam beschäftigt. Als Professor ist er in Madrid tätig.
Das Thema des diesjährigen Kongresses hat mit der turbulenten, irrationalen globalen Realität zu tun, die wir gegenwärtig erleben: „Die Welt in der Finsternis. Gibt es überhaupt noch Grund zur Hoffnung?“ Ich wurde gebeten, ein paar Gedanken vorzutragen zum Thema „Die zusammenbrechende Welt und ein radikales Christentum“. Das Thema ist nicht einfach, wir können uns davor jedoch nicht drücken.
Ich will das Thema in drei Abschnitten bearbeiten: Zunächst will ich versuchen, die wichtigsten Erscheinungsformen des aktuellen globalen Zusammenbruchs zu skizzieren; im zweiten Abschnitt werde ich nur kurz erste Anzeichen erwähnen, die es uns helfen könnten, den Zusammenbruch zu überwinden; im dritten Abschnitt will ich mich darum bemühen, die Frage zu beantworten, was ein radikales Christentum zu dieser Überwindung beisteuern kann.
I. Die wichtigste Beobachtung stellen bereits die ersten Worte des Themas fest: Wir leben in einer zusammenbrechenden Welt, weil eine Reihe von Mega-Problemen und Herrschaftssystemen eine Lösung verhindern. Hier zähle ich einige der meiner Meinung nach wichtigsten und herausforderndsten Probleme auf:
– Strukturelle Armut und wachsende Ungleichheit stellen das „Gemeinübel“ („el mal común“) dar, wie Ignacio Ellacuría im Gegensatz zum „Gemeinwohl“ („el bien común“) formulierte. Sie sind die Ursache für den allgemeinen Unrechtszustand, von dem die Bevölkerungsmehrheit des globalen Südens betroffen ist;
– eine der Diktatur der Märkte, dem Populismus und technokratischen Regierungen unterworfene Demokratie. Die davon hervorgerufene Krise und Lethargie führen bei einem bedeutenden Teil der Bürgerinnen und Bürger zur Politikverdrossenheit;
– das Fortbestehen einer ultraneoliberalen Version des Kapitalismus, die sich in einer sog. „Nekropolitik“ und einem „Nekrokapitalismus“ niederschlägt, also in einer politisch-ökonomischen Macht, die darüber entscheidet, wer leben darf und wer sterben muss;
– die Macht hegemonialer Männlichkeiten hält fest am Patriarchat, das Geschlechterdiskriminierung rechtfertigt und zur Gewalt gegen Frauen führt, und zwar im Bündnis mit anderen Herrschaftssystemen sowie miteinander verflochtener und gleichzeitig auftretender Diskriminierungsformen von Frauen aufgrund von Geschlecht, sexueller Identität, ethnischer Zugehörigkeit, Kultur, Religion, sozialer Klasse, geografischer Herkunft; darüber hinaus werden feministische Sensibilisierung und Bildung, vor allem unter jungen Menschen, immer weiter eingeschränkt;
– die Plünderung der zu einer Müllhalde gemachten Natur, die durch bedenkenlosen ‚Rohstoff‘-Abbau und andere Ausbeutungssysteme in einen Okozid führt;
– das Wettrüsten könnte achtzig Jahre nach Hiroshima und Nagasaki zu einem Atomkrieg führen, der die Menschheit und den Planeten zerstören würde.
– der Kampf der Kulturen, der die Freund-Feind-Dialektik in den Beziehungen zwischen den Völkern gewissermaßen zum Gesetz der Geschichte macht und so den interkulturellen Dialog verhindert;
– die Ausbreitung und Stärkung des sozialen und politischen Faschismus mit der daraus resultierenden Schwächung demokratischer Prozesse, bis hin zur Gefahr ihrer Abschaffung;
– der kulturelle Imperialismus, der die westliche Kultur zum Maßstab für alle anderen Kulturen erhebt und so zum Epistemizid führt, d.h. zur Zerstörung der Weisheiten indigener Völker;
– die Kommerzialisierung des Lebens, die Verdinglichung (Objektivierung) des Lebens und die Entmenschlichung der jeweiligen Gegner;
– ein religiöser Fundamentalismus und Gottesmord führen zu Kriegen zwischen den Religionen, zerstören Menschenleben und den Planeten, aber rechtfertigen dies noch im Namen des jeweiligen Gottes;
– Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Aporophobie (Abneigung, Hass und Angst gegenüber armen Menschen), die häufig zu gewalttätigen Praktiken führen, z.B. gegenüber Migranten, Flüchtlingen und Vertriebenen,
– ein Götzendienst (Idolatrie), der heute nicht mehr ein „goldenes Kalb“ anbetet, sondern das Gold des Kalbes und ein oft pathologisches Wiederaufleben von Religionen;
– systematische Verletzung von Menschenrechten durch Staaten und internationale Institutionen, deren Aufgabe es eigentlich ist, für deren Respektierung zu sorgen;
– Kolonialismus und Neokolonialismus existieren weiterhin auch nach den Unabhängigkeitsprozessen, und zwar in der Kolonialität von Sein, Haben und Macht;
– das Aufkommen eines christlichen Neofaschismus („Christoneofacismo“) als neuer Gestalt von Religion mit zahlreichen Anhängern. Er entsteht – unterstützt vom Neoliberalismus –aus dem Bündnis von extremen politischen und kulturellen Rechten mit fundamentalistischen christlichen Bewegungen, die von integralistischen christlichen Führern mit ihren Hassreden geleitet werden;
– ein Triumph von Dystopien (Anti-Utopien), nicht nur als literarisches Genre, sondern als reales Phänomen, das jede Möglichkeit utopischen Denkens und utopischer Projekte ausschließt;
– kriegerische Narrative, die pazifistische Sprache und Praktiken diskreditieren und stattdessen Diskurse und Praktiken bewaffneter Konfrontation privilegieren;
– Die Naturalisierung und Normalisierung von Gewalt im alltäglichen Leben und in den internationalen Beziehungen. Ihre destruktivste, nihilistischste und lebensfeindlichste Ausprägung ist heute im kolonial-zionistischen Projekt Israels gegen das palästinensische Volk zu finden. Basierend auf den Prinzipien des „auserwählten Volks“ und des „gelobten Landes“ verursacht es Morde und hunderttausende Landbesetzungen durch israelische Siedler im Westjordanland sowie den Völkermord im Gazastreifen mit der Ermordung von über 63.000 Menschen, davon 70% Frauen und Kinder, und der Zerstörung von 90% der Gebäude, verwendet Hunger als Kriegswaffe, worunter insbesondere die Kinder zu leiden haben, mit zahlreichen Todesopfern, und führt ethnische Säuberungen durch Zwangsumsiedlungen aller Menschen des Gebiets durch, um den Bau eines Technologie- und Tourismuszentrums im Sinne von Trump zu ermöglichen. All dies geschieht unter den Augen einer gelähmten UNO und anderer internationaler Organisationen, der mitschuldigen Tatenlosigkeit Europas und der meisten Länder der Welt, einschließlich der arabischen Länder, der bedingungslosen Unterstützung der Vereinigten Staaten und des Schweigens der meisten religiösen Führer der Welt, mit der ehrenwerten Ausnahme der lateinischen und orthodoxen Patriarchen, welche die Invasion von Gaza-Stadt scharf verurteilt haben.
II. An diesem Punkt drängt sich die Frage auf: Ist der Zusammenbruch, der durch die Anhäufung von Mega-Problemen und den damit verbundenen Herrschaftssystemen in der heutigen Welt verursacht wird, unumkehrbar? Gibt es eine Alternative zum Zusammenbruch oder müssen wir in ihm leben, ohne einen Ausweg zu finden?
Wir dürfen nicht in Fatalismus und Verzweiflung verfallen, sondern müssen – zumindest bruchstückhaft – nach Lösungen und Wegen der Hoffnung suchen. Ich glaube, dass es Hoffnungsschimmer gibt, denen wir als Reaktion auf den Zusammenbruch zum Leuchten verhelfen müssten.
Hier sind einige Beispiele: Bewegungen zur Bekämpfung von Armut; das Aufbrechen partizipativer Demokratieformen jenseits der repräsentativen Demokratie; alternative Wirtschaftspraktiken zugunsten des Gemeinwohls; Bewegungen alternativer Globalisierungsformen, die sich gegen die hegemoniale Globalisierung artikulieren; ein neues Ökologie-Verständnis, das ein ganzheitliches öko-humanes Paradigma und eine Ethik der Sorge für das gemeinsame Haus anstrebt; feministische Bewegungen, die sich für die Gleichstellung und -behandlung von Frauen, für Geschlechter-Gerechtigkeit sowie für die Anerkennung der Rechte von LGBTIQ+-Gemeinschaften als Menschenrechte einsetzen; Wertschätzung des kulturellen Pluriversums und des symmetrischen Dialogs zwischen Weltanschauungen, Kulturen und Wissensformen; Mobilisierung der Bevölkerung zugunsten der Entkolonialisierung und der Unabhängigkeit des palästinensischen Volkes sowie gegen Völkermord, ethnische Säuberungen und Zwangsvertreibung der Bewohnerschaft des Gazastreifens.
III. Wir fragen uns darüber hinaus: Welche Rolle kann und sollte das radikale Christentum spielen, um nach dem Verlust so vieler utopischer Energien dazu beizutragen, aus dem lähmenden Zusammenbruch herauszufinden?
Ich beginne mit der Feststellung, dass das Christentum entweder radikal oder kein Christentum ist. Als radikal verstehe ich die Rückkehr zu den Wurzeln, zum Evangelium, zu den Ursprüngen des Seins, Lebens und Zusammenlebens von christlichen Gruppen. Es waren radikale Christenmenschen, die das Christentum aus den vielen Krisen, die es im Laufe seiner Geschichte durchmachen musste, gerettet haben, und sie retten es auch heute.
Wenn das Christentum im Zuge des gegenwärtigen Zusammenbruch nicht in die soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Bedeutungslosigkeit verfallen und seinen Sinn verlieren will, wenn es im Bereich des Wissens und der Transformation der Welt historisch bedeutsam, kritisch und relevant sein will, wenn es die befreiende Dimension bewahren will, die seine Anfänge geprägt hat, wenn es in der Finsternis der Gegenwart eine Botschaft der Hoffnung vermitteln und sich in diesen dystopischen Zeiten der Utopie verpflichten will, muss es die folgenden Merkmale aufweisen:
– eine befreiende Kraft sein für die schwächsten Menschen, für armgemachte Kollektive und unterdrückte Völker;
– antihegemonial sein, d.h. sich kritisch gegenüber Imperialismus und Neoimperialismus verhalten;
– solidarisch globalisierend wirken im Sinne der Inklusion aller, die von der neoliberalen Globalisierung ausgeschlossen werden, und im Sinne einer globalen Tischgemeinschaft, in der Unterschiede von Rang und sozialer Klasse verschwinden;
– feministisch sein im Sinne des Respekts vor den vielfältigen affektiv-sexuellen Identitäten jenseits von Heteronormativität und sexueller Binarität; kritisch gegen Sexismus, LGBTIQ+-Phobie und hegemoniale Männlichkeit; entschieden gegen alle Formen von Gewalt gegen Frauen in Gesellschaft und Religionen, seien sie sexueller, symbolischer, religiöser, ethnischer, beruflicher, rechtlicher oder welcher Art auch immer; entschieden für Geschlechter-Gerechtigkeit, Gleichstellung und geschwisterliche Gemeinschaft.
– ökologisch sein im Sinne der entschlossenen Verteidigung der Würde und Rechte der Erde zugleich mit der Verteidigung der Würde und Rechte aller Menschen;
– engagiert sein für einen Frieden auf der Grundlage von Gerechtigkeit. Bislang ist nur eine Theologie des gerechten Krieges entwickelt worden, die Herrschaftssysteme legitimiert hat. Es ist an der Zeit, eine Theologie des gerechten Friedens zu entwickeln;
– unmissverständlich demokratische Umgangsformen pflegen innerhalb der eigenen Institutionen;
– interethnisch wirken im Sinne des respektvollen und gleichrangigen Dialogs mit indigenen und anderen kulturellen Identitäten;
– ein vom Kommerz befreites Christentum der Unentgeltlichkeit (Gratuität) verwirklichen;
– ein Christentum sein, welches das religiöse Pluriversum sowie die Vielfalt des Wissens und der Lebensformen sowohl in seinem eigenen Inneren als auch in der Gesellschaft anerkennt sowie den Dialog zwischen ihnen fördert;
– ein Christentum sein, das die Menschenrechte und die gleiche Würde aller Menschen schützt, insbesondere derjenigen, deren Rechte am stärksten bedroht sind;
– ein anti-idolatorisches Christentum sein, das die gottgleiche Verehrung des Geldes anprangert, weil es zu einem Gott geworden ist, dem man huldigt;
– ein undogmatisches Christentum, das sich nicht an unhaltbaren Gewissheiten klammert, sondern sich fragend, suchend und offen für Zweifel gibt;
– ein gastfreundliches, samaritanisches Christentum für Migrant:innen, Flüchtlingen und Vertriebenen;
– ein dekolonialisiertes und dekolonisierendes Christentum, das seine okzidentale Kultur anderen Kulturen nicht überstülpt;
– ein Christentum, das sich verbündet mit den sozialen Bewegungen und mit der alternativen ökosozialistischen Linke.
Wenn das radikale Christentum dazu beitragen will, den gegenwärtigen Zusammenbruch zu überwinden und Licht in die Finsternis zu bringen, in der wir leben, muss es ein vielfarbiges Christentum sein, in dem sich das Rot der Gerechtigkeit mit dem Grün der Ökologie und der Hoffnung, den Regenbogenfarben der LGTBIQ+, dem Violett des Feminismus und dem Weiß des Friedens verbindet.
Um uns der komplexen und turbulenten Realität anzunähern, die ich zu skizzieren versuchte, haben wir zu diesem Kongress Expert:innen aus Politikwissenschaft, Informationswissenschaft, Befreiungstheologie und Ökofeminismus eingeladen. Sie werden einige der wichtigsten Krisen unserer Welt gründlich analysieren und Vorschläge für ein befreiendes, ökologisches und ökofeministisches Christentum unterbreiten — im Sinne der politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Revolution, die Papst Franziskus als Reaktion auf diese Krisen in Gang setzte. Hören wir ihnen zu.
(Übersetzung von Norbert Arntz/Norbert Mette)