Norbert Arntz: Zur Umkehr von Kirche und Papstamt

Die Überraschung von Aparecida 2007:
Leitfaden für die Konversion von Kirche und Papstamt

von Norbert Arntz

10 Jahre nach der V. Generalversammlung der Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik erweist sich, wie zukunftsträchtig die damalige Versammlung war.

Der Gedanke der „pastoralen Umkehr“ durchzieht die Gespräche in Aparecida vom ersten Tag an, so dass es nicht verwundert, wenn in stets neuen Wendungen auch im Schlussdokument davon die Rede ist.

Da wird anerkannt, dass der heilige Geist nicht an kirchliches Handeln gebunden ist:

Durch das Wehen des Heiligen Geistes und auf anderen nur Gott bekannten Wegen kann die Gnade Christi noch immer auf ganz verschiedene Weise alle erreichen, die er erlöst hat, weit über die kirchliche Gemeinschaft hinaus.“ (Nr. 236)

Da wird gefordert, dass alle kirchlich Verantwortlichen stets neu empfindsam werden für die „Zeichen der Zeit“:

Die persönliche Umkehr weckt die Fähigkeit, alles dafür zu tun, dass das Reich des Lebens errichtet werde. Wir alle – Bischöfe, Priester, Ständige Diakone, Ordensmänner und Ordensfrauen, Frauen und Männer im Laienstand – sind gemeinsam aufgerufen, pastoral immer neu umzukehren, indem wir auf die Zeichen der Zeit, durch die Gott sich offenbart, aufmerksam hören und erkennen, „was der Geist den Gemeinden sagt“ (Offb 2,29). (Nr. 366)

Da wird ein Mentalitätswandel bei den Amtsträgern eingeklagt:

Seitens der Hirten bedarf es dazu einer größeren geistigen Offenheit, damit sie verstehen und akzeptieren können, was die Laien, die durch ihre Taufe und Firmung Jünger und Missionare Jesu Christi sind, in der Kirche sind und tun. Anders gesagt, der Laie muss im Geist der Gemeinschaft und Partizipation sehr geachtet werden.“ (Nr. 213)

Da wird ein selbstkritischer Blick auf die Kirche angemahnt:

Durch die Kirche muss ein Ruck gehen, damit sie nicht mehr aus Bequemlichkeit, Apathie und Lethargie das Leid der Armen auf dem Kontinent unbeachtet lässt. […] Wir setzen auf ein neues Pfingsten, das uns aus Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit und Anbiederung an die Umgebung befreit.“ (Nr. 362)

Die pastorale Umkehr soll die „samaritanische Kirche“ möglich machen:

Damit unser gemeinsames Zuhause ein Kontinent der Hoffnung, der Liebe, des Lebens und des Friedens sein kann, müssen wir als barmherzige Samariter die Not der Armen und der Leidenden sehen sowie „gerechte Strukturen“ schaffen, „ohne die eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft nicht möglich ist“.“ (Nr. 537)

Der Leiter der Redaktionskommission für das Dokument von Aparecida war der Erzbischof von Buenos Aires, Kardinal Jorge Mario Bergoglio. Gleich am zweiten Tag hatte die Versammlung ihn für diese Aufgabe gewählt. Sie hatte erkannt, dass diesem Bischof an einer umfassenden und freimütigen Mitwirkung aller lag. Er regte die Versammlung dazu an, keinen der vorliegenden Arbeitstexte als Basisdokument zu verwenden, sondern spontan die unterschiedlichen Erfahrungen zusammenzutragen, zu reflektieren und niederzuschreiben. Aus dieser Methode, hoffte er, würden allmählich Gemeinsamkeiten erwachsen. Der Austausch in den thematischen Kommissionen würde eine eigene Dynamik entwickeln. Die Reaktionen der Teilnehmenden bestätigten seine Erwartungen: Die Arbeitsgruppen boten Raum für Meinungsverschiedenheiten und Konsenssuche. An diesem Gesprächsklima hatte Bergoglio erheblichen Anteil. Und aus dem Gesprächsklima ging ein Dokument hervor, an dem viele Autoren mitschrieben. Bergoglio als Leiter der Reaktionskommission fügte am Ende das ganze Werk „harmonisch“ zusammen.

Bergoglio selbst schilderte später, wie er die Versammlung erlebt hatte1:

Das Schlussdokument ist ein lehramtliches Dokument der lateinamerikanischen Kirche. […] Wir haben das Dokument in einem echten Klima brüderlicher Zusammenarbeit verfasst. Gegenseitiger Respekt bestimmte die Arbeit; sie bewegte sich von unten nach oben, und nicht umgekehrt. Um dieses Klima zu verstehen, muss man die drei Kernpunkte beachten, die drei „Säulen“ von Aparecida.

Also zunächst einmal dieses „von unten nach oben“. Zum ersten Mal geht eine Generalversammlung nicht von einem zuvor erarbeiteten Basistext aus, sondern von einem offenen Dialog[…].Wir wollten alles, was von unten, vom Volk Gottes kam, berücksichtigen, aber daraus keine Zusammenfassung machen, sondern ein harmonisches Ganzes. Die Harmonie bewirkt der Heilige Geist. Nur er kann Verschiedenheit, Vielfalt, Pluralität wecken und gleichzeitig Einheit bewirken.

Die zweite Säule besteht darin, dass sich eine Versammlung des lateinamerikanischen Episkopats zum ersten Mal an einem Marienwallfahrtsort einfindet.[…] Mit den einfachen Leuten die Eucharistie feiern ist etwas Anderes, als sie abgeschieden unter uns Bischöfen allein zu feiern. Das gab uns das lebendige Gefühl, zu unseren Leuten zu gehören, das Gefühl einer Kirche, die als Volk Gottes auf dem Wege ist, das Gefühl, als Bischöfe im Dienste des Volkes Gottes zu stehen. Außerdem fanden die Arbeitssitzungen in den Katakomben unterhalb der Wallfahrtskirche statt. Dort hörten wir, wie die Gläubigen beteten und sangen.

Die dritte Säule besteht darin, dass das Dokument von Aparecida nicht bei sich selbst stehen bleibt, keinen Abschluss darstellt, kein letzter Schritt ist. Sondern das letzte Kapitel macht offen für die Sendung, die Mission, die Verkündigung und das Zeugnis der Jünger. Um im Glauben treu zu bleiben, muss man aufbrechen. Durch den Aufbruch erweist man die Treue, das ist der Kerngedanke der Sendung, und das ist es, was Aparecida letztlich sagt.

Seit 2013 ist Jorge Mario Bergoglio nicht mehr Bischof von Buenos Aires, sondern Bischof von Rom und Papst Franziskus. Er führt die Kirche zum Evangelium zurück, will aus der Freude am Evangelium (Evangelii Gaudium) die Mission der Kirche neu entdecken lassen und mit ihr im Dienst „am gemeinsamen Haus“ (Ökumene) die Gottheit des Lebens bezeugen. Dem „Heidentum der Gleichgültigkeit“, das den Menschen aus der Mitte verdrängt und das Geld an seine Stelle setzt, widersteht er mit dem Konzept von „Barmherzigkeit“. Diese kündigt „eine neue Welt an, in der niemandem das Lebensnotwendige vorenthalten wird, sondern die Güter der Erde und der Arbeit an alle gleichermaßen verteilt sind.“

1 30giorni Nr. 11/2007: http://www.30giorni.it/articoli_id_16503_l2.htm#