„Militarisierung und Aufrüstung sind ein Komplex, dem zu begegnen verlernt wurde“

Eine Diskussion über Antimilitarismus, Pazifismus, die Legitimität von revolutionärer Gewalt und die Rolle von Christ*innen im Kampf für eine andere Welt

Mit: Cristina Yurena Zerr und Jakob Frühmann, Autor*innen des Buches Brot und Gesetze brechen, Christlicher Antimilitarismus aus der Anklagebank (Mandelbaum-Verlag, Wien 2021) und Benedikt Kern und Julia Lis vom Institut für Theologie und Politik. Veröffentlicht am 11.03.2023.

Antimilitaristischer ziviler Ungehorsam von Christ*innen, die in das Militärgelände Büchel eingedrungen sind.
Antimilitaristischer ziviler Ungehorsam von Christ*innen, die in den Militärstützepunkt Büchel eingedrungen sind.

Benedikt Kern: In eurem Buch „Brot und Gesetze brechen“ bezieht ihr euch auf die antimilitaristische Praxis von Christ*innen in der Pflugschar- und Catholic Worker-Bewegung. Diese Aktionen der Besetzung von Militärstützpunkten bis hin zu Sabotageaktionen und deren Erklärung vor Gerichten werden in eurem Buch auch als mystische Praxis und Bekenntnis beschrieben. Wie stehen hier aus eurer Sicht Mystik und Politik im Verhältnis zueinander? Steckt nicht in christlich-friedensbewegten Interventionen die Tendenz, dass es viel um Bekenntnis geht und wenig um Sabotage, die wirklich eine Unterbrechung des militaristischen Normalzustandes ist?

Jakob Frühmann: Ja, das stimmt teilweise. Wir haben uns auch die Frage nach der Effektivität solcher Aktionen, die teilweise starke Symbolkraft haben, aber nur sehr kleine materielle oder politische Auswirkungen, gestellt. Gleichzeitig ist es vielleicht auch wichtig, bei aller Verwegenheit und revolutionärer Sehnsucht bescheiden oder demütig zu bleiben und festzustellen: Radikal Position zu beziehen ist ein Anfang und schon schwer genug. Wer von uns traut sich auf eine Militärbasis einzubrechen? Was, wenn alle Christ:innen dieser Welt auch nur einen Bruchteil der christlichen Ethik ernst und ein paar Wochen Knast aufgrund ihres antimilitaristischen Zeugnisses auf sich nähmen?

Mystisches Denken schließt immer auch einen Hauch von Ahnung ein, wie es denn sein könnte und vielleicht auch sein sollte“

Schließlich befruchtet die Mystik das Politische immer auch durch ihre transzendierende Kraft. Damit ist gemeint: Sie verweist nicht nur über den Status Quo hinaus, sondern hinterfragt die Verhältnisse in ihren Grundfesten und Gesamtarchitektur. Insofern führt mystisches Denken immer auch einen Hauch von Ahnung ein, wie es denn sein könnte und vielleicht auch sein sollte. Das mag manchmal vage, abstrakt sein und im Symbolischen verweilen, während das Politische sich mit harter Realität abmüht, aber der Blick, die Methodik, unsere Fragen und vielleicht auch unsere Praxis werden so geweitet.

Cristina Yurena Zerr: Die sogenannten Anti-Draft-Aktionen der späten 60er und frühen 70er in den USA, wo in hunderten Aktionen zehntausende Einberufungsakte als Zeichen gegen den Krieg sabotiert wurden, sind für mich ein starkes Beispiel, wie Sabotage mit Bekenntnis einhergehen kann. Einerseits wurde das Kriegstreiben tatsächlich gestört, indem etliche Soldaten nicht eingezogen werden konnten, andererseits entfachten die Aktionen – gerade wegen des öffentlichen Bekenntnisses der Aktivist*innen, und der breiten Aufmerksamkeit, die sie dafür bekamen – eine Auseinandersetzung mit dem Krieg und der eigenen Kompliz*innenschaft.1

Eine Sabotageaktion schüttet Sand ins Getriebe und stört den Normalzustand. Dem wird meistens mit Repression geantwortet, Zäune werden höher gebaut, das Gewaltmonopol verstärkt. Ein öffentliches Zeugnis welches zum Beispiel zum Gerichtsprozess führt, wie es in der Tradition der Pflugschar-Aktionen der Fall ist, eröffnet aber zusätzlich einen Ort der Auseinandersetzung, der zur Störung des Normalzustandes auf Bewusstseinsebene führen kann, indem z.B. eine Richterin sich mit deren Zeugnissen auseinandersetzen muss.

Als in Wien vier Aktivist*innen wegen einer Protestaktion gegen Rheinmetall / MAN vor Gericht standen, besuchte ich an einem Tag die Verhandlungen. Da die Angeklagten die Aussage verweigerten, war im Prozess zu keinem Zeitpunkt die Rede von der Beteiligung an Kriegsverbrechen durch den Rüstungskonzern Rheinmetall. Ich finde die Aktion trotzdem absolut unterstützenswert und sage damit nicht, dass es nicht legitim ist, die Aussage zu verweigern – aber durch das fehlende öffentliche Bekenntnis, konnte es in diesem Gerichtssaal nicht zu einem Raum der Auseinandersetzung und Politisierung kommen.

Wir brauchen beides: Sabotage und Bekenntnis“

Beim Bekenntnis geht es für mich letztendlich um den Aufruf zur Umkehr – also einen radikalen Wandel hin zur Befreiung, zum Guten, begonnen bei uns selbst. Durch das Vorleben dieser Umkehr wird ein Raum eröffnet, der andere berühren, wachrütteln und selbst zur Umkehr bewegen kann. Wir brauchen also beides: Sabotage und Bekenntnis.

Wichtig ist es mir dennoch zu benennen, dass Sabotage eine wichtige, aber nicht die einzige Möglichkeit ist, wirkungsvollen, gewaltkritischen Widerstand zu leisten. Unser Buch fokussiert zwar darauf, aber wir brauchen eine breite Vielfalt von Widerstandsformen, die sich einander ergänzen und nicht hierarchisch zueinander stehen.

Benedikt Kern: Sabotage und Bekenntnis machen zwei wichtige Dimensionen befreiender Praxis aus, sie beziehen sich auf die Unterbrechung des Normalzustands und zugleich wird durch das Bekenntnis auf der ideologischen Ebene interveniert, die den Normalzustand ermöglicht und reproduziert. Für Christ*innen darf aus unserer Sicht aber auf keinen Fall ein Überlegenheitsgestus aus dem Bekenntnis folgen, der sich auf ein Mehr an Mystik bezieht, das anderen fehlt. Bekenntnis kann nur eine Konfrontation mit den Logiken beispielsweise des gewaltförmigen, kapitalistisch-militärischen Komplexes sein, der durch eine stichhaltige Analyse verstanden und davon ausgehend ideologisch angegriffen werden kann. Befreiungstheologisch verstanden sollte Praxis immer kollektiv sein und ist darauf angewiesen, dass sie praktisch und strategisch mit Nicht-Christ*innen Hand in Hand geht in den Befreiungskämpfen. Ich denke, dass gerade in der Bekenntnisfrage von Christ*innen immer eine Form gewählt werden sollte, die an die bestehenden Kämpfe der antimilitaristischen Bewegung anknüpft oder sich zu ihnen in ein Verhältnis setzt.

Julia Lis: Der Wandel auf Ebene des Bewusstseins ist zum einen sicher notwendig um die herrschende ideologische Hegemonie zu durchbrechen. Wir sollten ihm zum anderen aber auch nicht zu viel zutrauen: Richter*innen, Polizist*innen, Soldat*innen handeln ja nicht nur aus eigener persönlicher Überzeugung, wie sie handeln, sondern auch, weil sie eine bestimmte Funktion innerhalb des bestehenden Systems einnehmen und darin immer auch strukturellen Zwängen unterworfen sind. Wir müssen daher gerade auch als Christ*innen dafür Sorge tragen, dass unsere Aktionen nicht im moralischen Appell an Einzelakteur*innen stecken bleiben, sondern immer auch die strukturelle Ebene in den Blick nehmen.

Cristina Yurena Zerr: Ja, da stimme ich mit dir überein. Es war nicht meine Absicht, dem moralischen Appell zu viel Wert beizumessen. Ein Anstoß zum Bewusstseinswandel beim Gegenüber kann Auswirkung einer bestimmten Aktion sein, aber nicht ihr Ziel. Ein Beispiel dafür ist der Widerstand von Franz Jägerstätter gegen das NS-Regime, in dem er sich weigerte, der Wehrmacht beizutreten und darum hingerichtet wurde.

Ich glaube nicht, dass er die Absicht hatte, irgendjemanden von seiner Entscheidung zu überzeugen. Es ging um die radikale Befolgung seines Gewissens. Und damit hat er viele Menschen bewegt und inspiriert, so wurde er immer wieder zum Bezugspunkt der Kriegsdienstverweigerung oder im Kampf um den Zivildienst, also in der (wenn auch kleinen) Veränderung militaristischer Strukturen. Er hätte aber genauso gut vergessen werden können, wie wohl viele Menschen, von denen wir heute nicht wissen, dass sie ihr Leben gaben, weil sie nicht mit der Gewalt der Herrschenden kooperiert haben.

Ist seine Aktion weniger wert oder radikal, weil sie ‚nur‘ eine Gewissensentscheidung ist und – zumindest öffentlich – keine strukturelle Kritik oder organisierten Widerstand leistet? Ich denke nicht – sondern eben, dass beides notwendig ist, und sich nicht immer in einer Aktion vereint.

Benedikt Kern: Akteure des (christlichen) Pazifismus standen mit denen der Befreiungstheologie, beispielsweise in Lateinamerika in den 1970er und 1980er Jahren, immer wieder in einer gegenseitig kritischen Auseinandersetzung mit Blick auf die „Befreiungskämpfe von unten“ (z.B. Briefwechsel zwischen Berrigan und Cardenal). Wie würdet ihr heute dazu Stellung beziehen, auch mit Blick auf Befreiungskämpfe, die u.a. militärisch geführt werden, wie z.B. von der kurdischen oder der zapatistischen Bewegung?

Jakob Frühmann: Zunächst sind die zwei angesprochenen Bewegungen unter anderem deswegen Hoffnungsprojekte der Linken, weil sie mit ihrem Widerstand das gute Leben für alle zu ermöglichen suchen und damit auch gegen Kapitalismus, Umweltzerstörung und Unterdrückung antreten. Diese ideologische Position und all die daraus folgenden Konsequenzen – die Staatskritik, ein radikal anderes Verständnis von Demokratie, die Intersektionalität von Kämpfen – all das sind wesentliche Unterschiede zum militärischen Widerstand angesichts des Krieges in der Ukraine. Dass sowohl der zapatistische Aufstand als auch die Widerstandsbewegung in Rojava auch mit Waffengewalt realisiert wurden (wobei die Zapatistas seit den ersten Tagen des Aufstandes 1994 keinen Gebrauch mehr davon gemacht haben), ist natürlich ein Brocken, an dem wir zu kauen haben und letzten Endes auch dazu führt, über Privilegien der Gewaltfreiheit nachdenken zu müssen.

Die Gewalt und Brutalität eines postkolonialen und neoliberalen Systems ist weniger greifbar, als die Gewalt einer Waffe in der Hand eines zapatistischen Befreiungskämpfers.“

Cristina Yurena Zerr: Der Briefwechsel von Berrigan und Cardenal – zwei Personen, die sich auf unterschiedlichen Wegen für einen gerechten Frieden eingesetzt haben – zeigt uns, dass es möglich ist, an den Leiden und Kämpfen anderer teilzuhaben und solidarisch zueinanderzustehen, obwohl man nicht bedingungslos mit den Mitteln des Kampfes übereinstimmt. Wie Berrigan glaube auch ich an „die völlige Unfähigkeit der Gewalt, etwas zum Besseren zu verändern“2 – auch wenn es aus kurzfristiger Sicht möglich oder gar effektiver erscheint, mit Waffengewalt zum Ziel zu gelangen. Das befreite Nicaragua, für welches Cardenal kämpfte, ist gescheitert.

Ich denke aber auch, dass wir nicht diese Art von militärischen Kämpfen verurteilen können, ohne auf die strukturelle Gewalt aufmerksam zu machen, die diese erst hervorbringt. Martin Luther King hielt 1968 eine Rede, in der er über die unverhältnismäßige Verurteilung der Aufstände der schwarzen Bevölkerung im Kampf für Gleichberechtigung spricht: „Es reicht nicht aus, wenn ich heute Abend vor euch stehe und die Ausschreitungen verurteile. Es wäre für mich moralisch unverantwortlich, dies zu tun, ohne gleichzeitig die kontingenten, unerträglichen Bedingungen zu verurteilen, die in unserer Gesellschaft bestehen.“3 In Bezug auf den Widerstand in Rojava bedeutet das etwa, dass ich in erster Linie auf die Gewalt und Unterdrückung aufmerksam machen muss, die zu einem militärischen Widerstand der kurdischen Bewegung führen.

Ich bin generell aber auch vorsichtig, Stellung zu beziehen, zu etwas, was so fern von meiner Realität liegt. Vielmehr denke ich, dass wir mit der Analyse unserer eigenen Verstrickungen in Gewaltverhältnisse beginnen müssen: Der Reichtum Europas (von dem ich profitiere) baut auf dem Kolonialismus, das heißt der Unterwerfung und Ausbeutung anderer Regionen, wie zum Beispiel die der Zapatistas, auf. Das Problem, welches zu einer Verschiebung des Gewaltdiskurses führt: Die Gewalt und Brutalität eines postkolonialen und neoliberalen Systems ist weniger greifbar, als die Gewalt einer Waffe in der Hand eines zapatistischen Befreiungskämpfers.

Nora Ziegler, eine Antimilitaristin aus Großbritannien, formuliert es provokant: „Das gewöhnliche Leben von privilegierten Menschen ist eher gewaltvoll und ihr Widerstand ist eher gewaltfrei. Das gewöhnliche Leben von exkludierten Menschen ist eher gewaltfrei und ihr Widerstand eher gewaltvoll.“

Wir brauchen „Differenzierung im Gewaltbegriff, um strukturelle Gewalt, staatliche repressive Gewalt und revolutionäre Gegengewalt besser zueinander in ein Verhältnis setzen zu können“

Julia Lis: An zwei Stellen hätte ich einen Einspruch zu formulieren bzw. weiteren Diskussionsbedarf: Ich bin nicht damit einverstanden zu sagen, dass das Befreiungsprojekt in Nicaragua daran gescheitert ist, dass im Befreiungskampf der bewaffnete Kampf eine Rolle spielte. Ich denke, die Dinge sind da komplexer und wir sollten sie nicht auf die Feststellung reduzieren, dass bewaffneter Kampf meist zum Scheitern und pazifistische Methoden zum Erfolg führen. In einer Welt von solch immenser Ungerechtigkeit, struktureller, imperialer und repressiver Gewalt ist zudem das Scheitern die Regel, eine gelingende Erfahrung von Befreiung die Ausnahme. Das sollte uns nicht entmutigen, uns aber in unserem Urteil vorsichtiger werden lassen. Außerdem wäre zu fragen, ob man Gewalt zu schnell mit bewaffnetem Kampf gleichsetzen sollte oder ob nicht eine stärkere Differenzierung im Gewaltbegriff nottut, um strukturelle Gewalt, staatliche repressive Gewalt und revolutionäre Gegengewalt besser zueinander in ein Verhältnis setzen zu können.

Cristina Yurena Zerr: Dass das Befreiungsprojekt Nicaragua gescheitert ist, war eine Feststellung ohne nähere Analyse, was die Gründe dafür sind. Diese sind sicherlich vielseitig und komplex.

Dass das Scheitern von Befreiungsbewegungen keine Ausnahme ist – egal mit welchen Mitteln, sie erkämpft werden – sehe ich genauso. Es geht mir auch nicht darum darzustellen, dass gewaltfreier Widerstand zu mehr Erfolg führt, und doch sehe ich ihn als den einzigen Weg. In einem für mich sehr prägenden Brief von Thomas Merton an den jungen Aktivisten Jim Forest, der damals voller Verzweiflung und entmutigt über seine Opposition gegen den Vietnamkrieg war, antwortet ihm Merton 1966: „Verlasse dich nicht auf die Hoffnung auf Ergebnisse. Wenn du die Art von Arbeit verrichtest, die du übernommen hast, im Wesentlichen ein apostolisches Werk, musst du dich vielleicht der Tatsache stellen, dass deine Arbeit scheinbar wertlos ist und sogar überhaupt kein Ergebnis erzielt, wenn nicht sogar vielleicht Ergebnisse, die dem entgegenstehen, was du erwartest. Wenn man sich an diese Idee gewöhnt, beginnt man sich mehr und mehr nicht auf die Ergebnisse zu konzentrieren, sondern auf den Wert, die Richtigkeit, die Wahrheit der Arbeit selbst.“4

Das ist eine große Herausforderung, und heißt natürlich nicht, dass wir nicht hoffen können, müssen, dürfen, dass unsere Aktionen Auswirkungen haben. Aber in dem Maße, in dem wir uns an den Erfolg klammern, verlieren wir unsere Fähigkeit zur Ausdauer, und damit auch den Sinn in unserem Schaffen.

Die Unfähigkeit, die strukturelle Gewalt eines Systems zu erkennen, halte ich für sehr gefährlich.“

Zur Frage der Gewaltdefinition: Ich möchte nochmal betonen, dass ich unter gewaltfreien oder gewaltkritischen Widerstand (denn in einer von Gewalt durchdrungenen Gesellschaft, können wir uns der Abwesenheit von Gewalt nur annähern) nicht bloß die Abwesenheit von einem bewaffneten Kampf meine, sondern grundlegend einen Weg, der jegliche strukturelle und direkte Gewalt ablehnt. Ein Brechen mit Gewaltlogiken, die alle unsere Lebensbereiche betrifft: die Wirtschaft, Politik, das Justizsystem, unseren Bezug zur Natur und anderen Lebewesen, welche auf unterschiedlichen Bewertungen von Leben aufbauen.

Die Unfähigkeit, die strukturelle Gewalt eines Systems zu erkennen, halte ich für sehr gefährlich. Ich führe zum Beispiel oft Diskussionen mit Menschen, welche argumentieren, dass die Protestaktionen der Pflugscharbewegung – das unautorisierte Eindringen in eine Militärbasis – ein Akt der Gewalt sei, und dabei kein Wort über die Atomwaffen verlieren. Ich denke, es ist nachvollziehbar, dass Menschen nicht mit dieser Art des zivilen Ungehorsams einverstanden sind, aber dass sie unfähig sind, die immense Gewalt der Existenz einer Massenvernichtungswaffe zu sehen, und sich an dem kaputten Zaun festfahren, zeigt auf bestürzende Weise, wie strukturelle und institutionalisierte Gewalt – in diesem Fall die Militarisierung unserer Gesellschaften – normalisiert und verinnerlicht ist.

Jakob Frühmann: Ich finde es schwierig dem Gedankenexperiment zu begegnen, was ich in einer verhängnisvollen Lage des Angriffs machen würde. Dass wir uns verteidigen dürfen, sollen, können, ist klar. Aber zu welchem Preis? Mit welchen Mitteln? Wie kann ich hier aus der Ferne Urteil fällen? Ist das aus einer solch privilegierten und bequemen Position nicht zu einfach?

Benedikt Kern: Natürlich ist ein Gedankenexperiment zur Verteidigungssituation abstrakt schwer machbar. Was uns im ITP aber aus einer befreiungstheologischen Perspektive notwendig und richtig erscheint, ist eine Analyse der Verhältnisse vorzunehmen von einem parteilichen Standpunkt aus – nämlich dem, der eine Umwerfung der Gewaltverhältnisse und eine emanzipatorischen Praxis hierfür stark macht. Dabei ist die Perspektive der von Gewalt Betroffenen natürlich wichtig. In der Befreiungstheologie sind die Unterdrückten, die Armen, der Ort der Erkenntnis. Zugleich bedeutet das aber auch, die Betroffenen haben nicht automatisch Recht in der Beurteilung ihrer Situation und der daraus abgeleiteten Handlungsoptionen. Vielmehr geht es darum, aus dieser Perspektive Ideologiekritik zu treiben, um davon dann ausgehend Interventionen in den Gewaltverhältnissen in Angriff zu nehmen. Das ist dann keine Praxis von oben herab aus dem Elfenbeinturm, sondern dann geht es ans Eingemachte unserer Existenz.

Cristina, du sagst du seist vorsichtig, Stellung zu beziehen gegenüber bewaffnetem Widerstand wie zum Beispiel in Kurdistan. Ich denke, von außen geht es auch nicht um ein moralisches Urteil. Wichtig erscheint mir aber die Unterscheidung, ob Widerstand und Selbstverteidigung in emanzipatorische Prozesse eingebunden sind und diese schützen – gerade wenn eine Gegenmacht zum herrschenden Status quo massiv unter Druck gerät. Zugleich ersetzt eine revolutionäre Gewalt von unten natürlich nicht einfach die notwendigen revolutionären Prozesse in der gesellschaftlichen Organisierung und Subjektwerdung – aber es kann historische Momente geben, wo genau diese Prozesse geschützt werden müssen.

Es ist ihr Krieg, nicht unser Krieg. Mit ihm ist im Sinne eines guten Lebens nichts zu gewinnen, deswegen dürfen wir uns nicht zur Kriegspartei machen lassen.“

Ich denke die Frage der Selbstverteidigung gilt es auch zu konkretisieren: Auf welches Individuum oder Kollektiv bezieht sich das jeweils? Heute wird die Frage nach der Legitimität von Selbstverteidigung vielfach auf den Krieg in der Ukraine bezogen und in linken wie christlichen Kreisen aufs Heftigste debattiert. Konkret dazu ist es, so denke ich, wichtig zunächst erst einmal festzuhalten, dass imperiale Kriege im Interesse der Herrschenden geführt werden und aus einer emanzipatorischen, linken, ja auch christlichen Position heraus eine Beteiligung an diesen inter-imperialen Konflikten nicht sinnvoll sein kann. Es ist ihr Krieg, nicht unser Krieg. Mit ihm ist im Sinne eines guten Lebens nichts zu gewinnen, deswegen dürfen wir uns nicht zur Kriegspartei machen lassen. Dann geht es darum, etwas gegen diesen Krieg zu unternehmen, seine Logiken anzugreifen und wenn nichts anderes mehr geht, ihn zu unterlaufen. Praxen der zivilen Verteidigung, der massenhaften Verweigerung einer Kriegsbeteiligung, der Wehrkraftzersetzung und des Internationalismus müssen dann erprobt und angewandt werden. Eine Verweigerung bedeutet dann eben im Zweifelsfall, wenn die Umstände es ermöglichen, zu fliehen. Die Geschichte des Exils hat aus diesem Grund in der Linken immer auch eine wichtige Rolle gespielt.

Jakob Frühmann: Die europäischen Reaktionen in Bezug auf die Energiekrise sind ambivalent: Russischem Gas und Öl soll abgeschworen werden. Diese Energiewende wird durch die Rehabilitierung von Nuklearenergie, Kohle und der erneuten Kollaboration mit menschenrechtsverachtenden Regimen wie Saudi Arabien und Öl-Einkäufen dort erkauft. Gleichzeitig erstarken zumindest in Ansätzen auch klimagerechte Bewegungen. In Bezug auf den Antimilitarismus ist eine solche Bewegung nur in die eine Richtung zu bemerken: Es geht um mehr, nicht um weniger Waffen. Warum?

Benedikt Kern: In der kapitalistischen Entwicklung gibt es derzeit eine Verwertungskrise, die eine Modernisierung des Kapitalismus notwendig macht, damit weiterhin Wachstum generiert werden kann. Der Ausbau grüner Technologien und der Transformation des fossilen Kapitalismus mit seinem endlichen Zugriff auf Ressourcen führt deshalb jetzt dazu, dass sich ein grüner Kapitalismus entwickelt – der aufgrund seines Zwangs zur Kapitalakkumulation und des Wachstums aber eben nicht weniger brutale Konsequenzen für die Menschheit und letztlich auch die Natur als Ganze hat. In dieser Neuordnung des Kapitalismus treten imperialistische Interessen gegeneinander auf, die im Krieg in der Ukraine aber auch im Konflikt um Taiwan, in der gewaltsamen Auseinandersetzung um Rohstoffe im Kongo und an anderen Orten der Welt schon jetzt sichtbar sind. Deshalb ist aus Sicht der Herrschenden eine Aufrüstung so plausibel. Das bedeutet, dass Antimilitarismus auch diesen grünen Kapitalismus in Frage stellen muss – und zugleich die Klimagerechtigkeitsbewegung sich nicht darüber freuen kann, wenn etwas weniger Gas verheizt wird. Stattdessen erscheint es uns wichtig, dass eine Graswurzel-Klimapolitik eine Revolutionierung der Produktionsverhältnisse zum Ziel haben sollte. Nur so können wir dieses sich modernisierende, dann in Zukunft grüne Akkumulationsregime überwinden und tatsächlich eine an den Bedürfnissen orientierte Produktion möglich werden, die nur dann auch ökologisch und sozial und damit nicht mehr imperialistisch sein kann.

Antimilitarismus muss auch diesen grünen Kapitalismus in Frage stellen“

Julia Lis: In der Beurteilung der Potentiale der Klimabewegung in der gegenwärtigen Situation wäre ich leider nicht so optimistisch, auch wenn natürlich die Entschlossenheit, die etwa trotz der überaus harten staatlichen Repressionen die Aktivist*innen von „Last Generation“ in ihrem Widerstand an den Tag legen mich ehrlich beeindruckt, auch dort wo ich die Aktionsformen und die politischen Forderungen, die daran geknüpft werden, diskussionswürdig finde und nicht teile.

Was mich aber beunruhigt, ist, dass große Teile der Klimabewegung momentan nicht fähig zu sein scheinen, praktisch und theoretisch mit den Widersprüchen im Übergang vom fossilen zum grünen Kapitalismus umzugehen und sie so zu adressieren, dass deutlich wird, dass ein neues grünes Akkumulationsregime weder die Lage des Planeten noch der Menschheit zum Besseren wendet, sondern die verschiedenen Katastrophenszenarien von Umweltzerstörung und kriegerische Zerstörung weitertreibt.

Die entscheidende Rolle in diesem Herrschaftsprojekt spielt aus unserer Sicht im Moment die Partei der Grünen: Gerade in Zeiten des Ukraine-Krieges wird deutlich, dass sie, um die deutsche und europäische Position zu festigen und auszubauen, bereit sind, kriegerische Konflikte in Kauf zu nehmen, ja auch zu befeuern, insofern das die imperialen Konkurrenten schwächen kann. So ist es in meinen Augen zu erklären mit welcher Selbstverständlichkeit grüne Politiker*innen im Moment kriegerische Positionen einnehmen, also auf Kriegskurs sind.

Benedikt Kern: Eine antimilitaristische Position ist wieder notwendiger, als es in den letzten Jahren erscheinen mochte. Sowohl unter Linken als auch unter Christ*innen ist diese Position allerdings mit Blick auf den Krieg in der Ukraine äußerst umkämpft. Woran liegt es aus eurer Perspektive, dass bellizistische Positionen auch im links-liberalen bis linken Milieu einen Aufschwung bekommen haben?

Cristina Yurena Zerr: Zunächst sind wir skeptisch, ob von einem Aufschwung gesprochen werden kann. Der Glaube an die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes war in der Linken immer verbreitet. Viele revolutionäre Bewegungen sind bewaffnet in den Kampf gezogen: in Cuba, Nicaragua, Chiapas, Rojava, die RAF – um nur ein paar zu nennen.

Gleichzeitig sind Militarisierung und Aufrüstung aber auch ein Komplex, dem zu begegnen verlernt wurde: Die Notwendigkeit des Desertierens oder der Wehrdienstverweigerung ist in Deutschland oder Österreich ebenso wenig Thema wie eine grundsätzliche und breite antimilitaristische Haltung. Gewaltfreier Widerstand wird in Zentraleuropa zumeist als ziviler Ungehorsam innerhalb eines mehr oder weniger funktionierenden Rechtsstaates gedacht und praktiziert – die vom Militärkomplex ausgehende Gewalt und Gegenstrategien dazu befinden sich nicht auf der Tagesordnung der liberalen oder radikalen Linken. In einer von Gewaltlogik durchdrungenen Gesellschaft ist es herausfordernd, andere Wege außerhalb des Militarismus zu denken. Es besteht eine Schwierigkeit, Alternativen zu sehen.

Dass Solidarität antinational und oder zumindest transnational bleiben muss, scheint in der Hitze des Gefechts vergessen zu werden.“

Dann – und das ist das eigentlich Fragwürdige – scheinen auch viele Linke auf einfache Lösungen zu schielen, was dann erklärt, warum auf einmal Menschen, die jeder Nationalflagge abschwören würden, plötzlich Ukraine Flaggen aus dem Fenster hängen. Dass Solidarität antinational und oder zumindest transnational bleiben muss, scheint in der Hitze des Gefechts vergessen zu werden.

Schließlicht bleibt vermutlich auch in der Linken eine Faszination für den bewaffneten Kampf und ein damit einhergehendes Verständnis vom „starken Mann“. Vielleicht ist unsere westeuropäische Gesellschaft doch nicht so friedliebend und postheroisch wie wir uns dieser Tage oft erzählen.

Der bewaffnete Kampf von widerständigen Personen und Bewegungen ist, nicht einfach gleichzusetzen mit Kriegen zwischen Staaten, die von Regierungen geführt werden“

Julia Lis: Ich stimme mit dieser doch sehr scharfen Kritik an der Linken nicht überein, ich halte sie für überzogen. Auch hier sollten wir noch einmal deutlich machen: Der bewaffnete Kampf von widerständigen Personen und Bewegungen ist, was auch immer man von ihm als Methode des Befreiungskampfes halten mag, nicht einfach gleichzusetzen mit Kriegen zwischen Staaten, die von Regierungen geführt werden, die sich dabei auf einen militärisch-industriellen Apparat stützen und nach der Logik nationaler Konkurrenz im Kampf um Ressourcen agieren. Das sind zwei grundlegend verschiedene Situationen. Eine Faszination für den bewaffneten Kampf, von der ich mir gar nicht sicher bin, dass sie momentan in der Linken so eine große Rolle spielt, kann also nicht einfach gleichgesetzt werden mit autoritären Machtbestrebungen. Anitmilitarismus ist übrigens in der radikalen Linken durchaus ein Thema, wie etwa die Arbeit der „Informationsstelle Militarisierung“ oder die Kampagne „Rheinmetall entwaffnen“ deutlich machen. Auch die linke Kritik am Sicherheitsdiskurs im Innern der europäischen Gesellschaften wie nach außen, zeigt wie wenig friedliebend diese Gesellschaft, in der Linke agieren müssen, ist.

Benedikt Kern: Friedliebend ist diese Gesellschaft insofern nicht, weil sie eine Brutalisierung an den Grenzen und in den „nicht regierbaren Zonen“ mitträgt, statt dem wirklich etwas entgegenzusetzen. Wo sind die Aufstände in Westeuropa, wie sie global vielerorts immer wieder entfachen, die sich – wenn auch manchmal diffus – gegen die globalisierte Normalität der Ausbeutung und Unterdrückung richtet? Diese Aufstände sind natürlich oftmals gewaltsam, weil sie aber auch mit massiver Repression überzogen werden. Links-liberale und Linke und erst recht die meisten Christ*innen nehmen auf diese Rebellionen allerdings viel zu wenig Bezug. Diese Bezugnahme hätte nichts mit einer Glorifizierung von Gewalt zu tun, würde jedoch die Wut auf das System ernst nehmen. Mehr Rebellion wäre auch in den kapitalistischen Zentren bitter notwendig. Das wäre auch diametral gegenläufig zu einer den Krieg unterstützenden Position, die sich mit den geostrategischen Zielen von Regierungen gemein macht.

Jakob Frühmann: Ich stimme euch dahingehend zu, dass die Frage der bewaffneten Gewalt in Bezug auf Befreiungsbewegungen und staatlich geführte Kriege grundsätzlich differenziert zu betrachten ist – das haben wir nicht klar genug benannt.

Und ja, vermutlich kann „friedliebend“ in diesem Kontext bloß unter beinahe zynischen Vorzeichen verstanden werden. Wir wollen in Frieden leben, heißt meist: Wir wollen in Wohlstand und Sicherheit auf repressiven und gewaltvollen Kosten anderer leben, und das möglichst individualisiert, ohne Verschränkung mit kollektiven Dimensionen.

Cristina Yurena Zerr: In vielen privaten Gesprächen, aber auch im öffentlichen Diskus werden meiner Wahrnehmung nach zumeist nur zwei Möglichkeiten diskutiert: (Selbst-)Verteidigung mit Waffen oder Nichts-Tun. Letzteres wird meistens den Menschen, die sich gegen Waffenlieferungen einsetzen, vorgeworfen. Darum erscheint es mir besonders wichtig hinzuweisen, dass es sehr wohl auch nicht-militärische Widerstands- und Verteidigungsformen gibt, die innerhalb der Ukraine und Russland praktiziert werden. Was sind dann aber unsere Möglichkeiten, von außerhalb Widerstand gegen diesen (und andere) Kriege zu leisten? Wie können wir Kriegsgegner*innen in der Ukraine und Russland unterstützen? Wo sind unsere Möglichkeiten als Zivilgesellschaft zu agieren?

Benedikt Kern: Im Ukraine-Krieg ist Deutschland Kriegspartei und eben nicht neutral. Die Kriegslogik hierzulande ist, dass es nur einen Sieg der Ukraine und der NATO geben kann, statt einer Einigung mit Russland. Aus antimilitaristischer Perspektive sagen wir: weder dieses noch jenes Imperium steht für ein gutes Leben. Die alte internationalistische Überzeugung, der Hauptfeind steht im eigenen Land, ist deshalb nach wie vor aktuell. Es kommt also darauf an, dass die Kriegsideologie der Herrschenden entlarvt, kritisiert und delegitimiert werden muss. Das ist die Aufgabe hier all jener, die in die sich aus vernünftigen Gründen der Spirale der Aufrüstung und des Krieges widersetzen. Theologisch gesprochen geht es uns um Freiheit und Egalität statt Wohlstand und Sicherheit.  Bonhoeffer hat dies 1934 auf den Punkt gebracht: „Wie wird Friede? Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den verschiedenen Ländern? d. h. durch die Großbanken, durch das Geld? Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens? Nein, durch dieses alles aus dem einen Grunde nicht, weil hier überall Friede und Sicherheit verwechselt wird. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit.“ Das gilt es stark zu machen. Deswegen sollten Christ*innen Initiativen unterstützen, die Deserteure von beiden Seiten aufnehmen, Aktionen gegen die Kriegsindustrie machen und sich trauen öffentlich zu sagen: Bei diesem Krieg machen wir nicht mit, denn es ist ihr Krieg!

1https://www.nytimes.com/2018/05/19/us/catonsville-nine-anniversary.html

2The total inability of violence to change anything for the better.”

In: https://wagingnonviolence.org/2021/04/daniel-berrigan-fearless-nonviolence-at-100/

3 “It is not enough for me to stand before you tonight and condemn riots. It would be morally irresponsible for me to do that without, at the same time, condemning the contingent, intolerable conditions that exist in our society.” The Other America

4 https://jimandnancyforest.com/2014/10/mertons-letter-to-a-young-activist/