Israel – Gaza

Israel – Gaza

Michael Ramminger, 17.10.2023

Jetzt wird immer deutlicher, dass das eintritt, was vor einer Woche schon klar war, aber nicht gesagt werden durfte: Den schrecklichen Angriffen der Hamas auf Menschen in Israel folgen die schrecklichen Gegenangriffe der israelischen Armee auf Gaza. Die Spirale der Gewalt soll sich weiterdrehen und sie hat nicht erst letzte Woche begonnen. Sie trifft PalästinenserInnen und Israelis gleichermaßen. Während das Massaker der Hamas in Israel nach einigen Stunden vorbei war, geht das Sterben und Elend in Gaza weiter, und ein Ende ist nicht in Sicht.

Was dort jetzt geschieht, bewegt sich jenseits des Völkerrechts, jenseits von Kriegsrecht. Aber es bewegt sich ebenfalls jenseits der Menschlichkeit. Und jetzt höre ich sie schon, die Stimmen, die uns vorwerfen, die Gräueltaten der Hamas zu verharmlosen, nicht ausreichend zu thematisieren. Was auch immer alles hinter solchen Einwänden steckt: ob das heimliche Einverständnis mit Vergeltungsgedanken, der Versuch im Antisemitismusvorwurf gegen mahnende Stimmen zu verschleiern, dass auch die katastrophale Lage der PalästinenserInnen Teil der deutschen historischen Last des Faschismus sind … Die Reaktion der rechstextremen Kräfte in der israelischen Regierung und im Militär werden kein Problem lösen, sie wird es fortschreiben und verewigen.

„… Es bricht uns das Herz“

„Der sich entfaltende Horror in Israel und Gaza ist eine Eskalation der jahrzehntelangen staatlich sanktionierten Gewalt Israels gegen die Palästinenser. Wir verurteilen die grausamen Aktionen der Hamas gegen israelische Zivilisten. Ebenso verurteilen wir Israels hemmungslose Bombardierung und die Unterbrechung des Zugangs zu allen Grundbedürfnissen, einschließlich Nahrung, Wasser, Strom und medizinischer Versorgung. Angriffe auf palästinensische und israelische Zivilisten sind verabscheuungswürdig,“ so heißt es in einer Erklärung der jüdischen Gruppe Tikkun aus den USA, die sich als „Prophetic Jewish, Interfaith & Secular Voice to Heal and Transform the World“ verstehen. Und weiter schreiben sie: „Wenn wir die gewalttätigen Angriffe und das Schüren von Fremdenfeindlichkeit auf beiden Seiten beobachten, bricht es uns das Herz. Auch wenn es sich anfühlt wie eine Zeit, in der wir uns auf die Seite ‚unseres Volkes‘ stellen müssten, wissen wir, dass dies eine Zeit ist, in der wir zusammenkommen müssen. Dies ist eine Zeit großen Leids für alle, eine Zeit schmerzhafter Gefühle. Nur wenn wir unsere gemeinsamen Ängste und unsere gemeinsamen Tränen anerkennen, werden wir diesen Albtraum überstehen. Es ist ein Kampf, den wir gemeinsam führen müssen.“1

Freund-Feind

Diese Gruppe war nicht die einzige, die in den letzten Tagen auf die Notwendigkeit eines Ausweges verwiesen haben. In der Bundesrepublik war es vor allem die Gruppe „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“2, die sich zu Wort meldete und auf die jahrzehntelange verfehlte Politik Israel gegenüber den PalästinenserInnen aufmerksam machte. Ein Mitglied dieser Gruppe wurde übrigens in Berlin kurzfristig wegen propalästinensischer Propaganda festgenommen.

Das wäre nochmal ein anderes Thema, dass sich nämlich zum dritten Mal in den letzten fünf Jahren hier in der Republik ein Freund-Feind-Denken breitgemacht hat und den öffentlichen Diskurs bestimmt, der äußerst beunruhigend ist. Durfte man während der Corona-Zeit kaum ein maßnahmenkritisches Wort in den Mund nehmen, ohne sich des Verdachts des gemeinschaftsfeindlichen, unsolidarischen Verhaltens auszusetzen, war es wenig später jede kritische und um historische Einordnung des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine bemühte Wortmeldung, die einen auf die Seite der „Hitler-Reinkarnation“ Putins spülte. Heute ist es eben jede kritische Einstellung zur israelischen Regierung, mit der man umstandslos zum Antisemiten wird: Kritik an der Regierung Israels – Israelkritik – Antisemit: so läuft die banale Assoziationskette.

Regierungspolitik kritisieren

Deshalb ist es auch an der Zeit, den unerträglichen, permanenten Antisemitismusvorwürfen entgegenzutreten, die jeder kritischen Stimme gegenüber der israelischen Regierungspolitik um die Ohren gehauen werden. Hinter der angeblichen Wachsamkeit gegenüber jedem Antisemitismus verbirgt sich im Grunde eine einfache Entschuldungsfigur derer, die dieses Argument vorbringen. Die Bundesrepublik Deutschland ist aber auf Grund ihrer historischen Verantwortung auch für die Situation der PalästinenserInnen verantwortlich. Davon lenkt die Antisemitismus-Fokussierung ab. Eine wirkliche Faschismuserinnerung wäre nämlich auch politisch mitverantwortlich für eine friedliche Beilegung des Konflikts zwischen Israel, den PalästinenserInnen und den arabischen Ländern. Es wird weder für Israel, für JüdInnen, für AraberInnen und PalästinenserInnen Frieden geben, solange die Logik der Machtpolitik herrscht. Für alle kann es nur eine gemeinsame Friedenslösung geben. Deshalb darf es momentan auch keine Solidarität mit der israelischen Regierungspolitik geben: 1.000.000 Menschen auf der Flucht, für 2.000.000 Menschen kaum noch Krankenhäuser, Gesundheitsversorgung, Nahrungsmittel und Wasser. Die israelische und die internationale Politik sind in dieser Hinsicht seit 1948 gescheitert3. Bei den Nachdenklicheren in dieser Welt macht sich diese Einsicht breit.

Nie wieder Auschwitz?

Wenn bei uns allerdings der politische Imperativ im Anschluss deutscher Verbrechen immer weiter auf „Nie wieder Auschwitz“ beschränkt wird, und „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ verdrängt werden, dann hätten wir nichts aus der Geschichte gelernt. Und im Moment sieht es so aus.4

Anmerkungen:

1https://www.tikkun.org/statement-of-solidarity-with-israel-palestine/
2https://www.juedische-stimme.de/
3Adam Tooze, Gaza: beyond de-development to disposability and destruction, Chartbook 245, Oct 2014
4Vgl. Amira Hass, „Ihr Deutschen habt schon lange eure Verantwortung verraten …“, in Haaretz: https://www.haaretz.com/opinion/2023-10-16/ty-article-opinion/.premium/germany-you-have-long-since-betrayed-your-responsibility/0000018b-3487-d051-a1cb-3ddfa2cf0000