Franziskus: ein Papst mit radikalen Utopien?

Ist der Tod von Papst Franziskus und die Nachfolge in einer kirchlichen Institution für Revolutionäre von Interesse? Überlegungen von  unserem brasilianischen Freund  Allan da Silva Coelho

In den sozialen Netzwerken wurden einige Portale der revolutionären Linken, die ihre Solidarität mit dem verstorbenen Papst zum Ausdruck brachten, von ihren Lesern unter Druck gesetzt, „die andere Seite“ zu zeigen und die Spaltung der Meinungen deutlich zu machen. Für Teile der Linken war Franziskus ein Verbündeter. Für andere war er eine Gefahr, weil er die Legitimation einer Gesellschaftsordnung repräsentierte, die es gar nicht mehr geben sollte… Allerdings ist eine Diskussion darüber, wie Kirchen oder Religionen sein sollten, nicht der beste Ausgangspunkt für eine dialektische, historische und materialistische Analyse. Ich möchte Elemente zur Diskussion stellen, inwiefern das Erbe von Franziskus zum revolutionären Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter für die Überwindung des Kapitalismus im Hinblick auf den Sozialismus beiträgt oder nicht.

Dazu werde ich einige Elemente des historischen Kontexts hervorheben, um anschließend Denkanstöße zu seiner Beziehung zu unserem Bereich des Klassenkampfes zu geben: die Rezeption Franziskus‘ durch die politischen Kräfte, sein Versuch, innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche zu handeln, sowie die Grenzen und Beiträge seines Programms.

Verpflichtung zur Transformation oder Neupositionierung einer gescheiterten Institution?

Papst Franziskus hat während seines Pontifikats verschiedene Dialoginitiativen angeregt und gefördert. Als eines von vielen Beispielen sei hier die Weltbegegnung der sozialen Bewegungen hervorgehoben, zu der Franziskus Bewegungen aus über 60 Ländern zu Diskussionstagen und Versuchen zur Ausarbeitung gemeinsamer Interventionen eingeladen hat. Das zweite Treffen fand 2015 in Santa Cruz de la Sierra, Bolivien, unter der Regierung von Evo Morales statt.

Seine Rede war aufgrund des Kontextes bemerkenswert, aber sie ist eine Variation seiner Dokumente Evangelli Gaudium (2013) und Laudato Si (2015). Franziskus lud alle, die nach Gerechtigkeit dürsten, zum Dialog ein: Er bekräftigt, dass die Realität der Ungerechtigkeit, in der wir leben, nur überwunden werden kann, indem wir uns der Resignation widersetzen und aktiv Widerstand leisten „gegen das idolatrische System, das ausgrenzt, erniedrigt und tötet“. Die Wirtschaft muss in den Dienst der Völker gestellt werden, indem sie diese auf dem Weg des Friedens und der Gerechtigkeit vereint und Mutter Erde verteidigt. Dazu muss die Wirtschaft der Ausgrenzung und Ungleichheit abgelehnt werden, die im Dienste der anonymen Macht des Götzen Geld steht, vertreten durch Konzerne, Gläubiger, „Freihandelsabkommen“ und „Austeritätsmaßnahmen, die immer den Arbeitern und Armen den Gürtel enger schnallen“.

Für uns, die lateinamerikanische Linke, ist diese Rede geläufig und könnte von vielen unserer guten Genossen und Genossinnen aus den verschiedenen Kampfzusammenhängen gehalten werden. Doch wer hier spricht, ist der Papst, das Oberhaupt einer der traditionsreichsten Institutionen. Er fährt fort:

„Erkennen wir wirklich, dass die Dinge in einer Welt, in der es so viele landlose Bauern, so viele obdachlose Familien, so viele Arbeitnehmer ohne Rechte, so viele in ihrer Würde verletzte Menschen gibt, nicht gut stehen? (…) Es gibt ein unsichtbares Band, das alle Formen der Ausgrenzung miteinander verbindet. Sie stehen nicht isoliert da, sondern sind durch einen unsichtbaren Faden miteinander verbunden. (…) Ich frage mich, ob wir in der Lage sind, zu erkennen, dass diese destruktiven Realitäten einem System entsprechen, das global geworden ist. Erkennen wir, dass dieses System die Logik des Profits um jeden Preis durchgesetzt hat, ohne an soziale Ausgrenzung oder die Zerstörung der Natur zu denken?“ [1]

Die Reflexion mündet in einer Aufforderung, die Angst zu überwinden und auf strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft hinzuarbeiten. Die Kritik an sozialer Ungerechtigkeit in Verbindung mit ökologischer Ungerechtigkeit ist jedoch von einer starken antikapitalistischen Perspektive durchdrungen. Der Papst fährt fort:

„Und hinter so viel Leid, so viel Tod und Zerstörung riecht man das, was Basilius von Caesarea „den Mist des Teufels“ nannte: Es herrscht die ungezügelte Gier nach Geld. (…) Wenn das Kapital zum Götzen wird und die Entscheidungen der Menschen bestimmt, wenn die Gier nach Geld das gesamte sozioökonomische System beherrscht, ruiniert es die Gesellschaft, verdammt den Menschen, macht ihn zum Sklaven, zerstört die Brüderlichkeit unter den Menschen, bringt Völker gegeneinander und gefährdet sogar, wie wir sehen, unser gemeinsames Haus, die Schwester und Mutter Erde.“

Anschließend fordert er die Ausgebeuteten auf, mutig den Prozess der Transformation vom Lokalen zum Globalen anzunehmen. Er ermutigt zum Engagement im Kampf für Rechte, macht deutlich, wie lohnenswert dieser Kampf ist, und wünscht sich, dass „der Schrei der Ausgegrenzten in Lateinamerika und auf der ganzen Welt gehört wird“. Franziskus sagt:

„Ihr, die Demütigsten, die Ausgebeuteten, die Armen und Ausgeschlossenen, könnt und tut viel. Ich wage zu sagen, dass die Zukunft der Menschheit zu einem großen Teil in euren Händen liegt, in eurer Fähigkeit, euch zu organisieren und kreative Alternativen in der täglichen Suche nach Arbeit, Obdach und Land zu fördern, und auch in eurer Beteiligung als Protagonisten an den großen Veränderungsprozessen, den nationalen, regionalen und globalen Veränderungen. Seid nicht schüchtern!“

Die Zusammenfassung des Programms ist nicht schlecht und bringt einen wichtigen Teil unserer Ziele zum Ausdruck. Man könnte sagen, dass selbst ein Teil der Linken hier oder anderswo nicht mehr so viel Kraft hat, diese grundlegende Logik zu verteidigen, und stattdessen moderate und für die herrschende Ordnung und den Wahlkampf besser verdauliche Diskurse bevorzugt. Wieder einmal ist es der Papst, der sagt:

„Keine Familie ohne Dach über dem Kopf, kein Bauer ohne Land, kein Arbeiter ohne Rechte, kein Volk ohne Souveränität, kein Mensch ohne Würde, kein Kind ohne Kindheit, kein Jugendlicher ohne Zukunft, kein alter Mensch ohne ein ehrwürdiges Alter. Setzt euren Kampf fort und bitte, passt gut auf Mutter Erde auf.“

Hier haben wir ein Beispiel für Bergoglios Interventionen in seinen Initiativen, und wir könnten noch weitere anführen. Es scheint schwierig, die Hypothese aufrechtzuerhalten, dass Franziskus nur eine Neupositionierung der in der Krise befindlichen katholischen Institution darstellt, die ihre Relevanz im Dienste der Konzerne und des Großkapitals erhalten will, indem sie die Aufmerksamkeit der Arbeiter mobilisiert, um sie zu zerstreuen… Diese Hypothese zu verwerfen bedeutet nicht zwangsläufig, dass der argentinische Jesuit, der Papst ist, ein revolutionäres Transformationsprogramm hat, das mit dem der radikalen Linken identisch ist. Er bleibt Papst, gewählt von einem Kollegium von Kardinälen mit stark konservativen Tendenzen. Deshalb ist die Analyse etwas komplexer.

Welche Dialektik zwischen Symbolen und Praxis?

Traditionell ist die katholische Kirche darauf spezialisiert, die Welt der Symbole für ihren institutionellen Selbstaufbau zu mobilisieren. Bergoglio hat jedoch genau dieses Feld der Symbole bearbeitet, um bestimmte festgefahrene Positionen zu verschieben und auf die Institution selbst einzuwirken.

Eine kleine Liste von Beispielen, die leicht durch weitere ergänzt werden kann, beginnt mit der Wahl seines Namens Francisco als Verweis auf den beliebtesten Heiligen der christlichen Geschichte. Der Franz von Assisi, sei es als historische Figur oder als Ikone der Populärkultur, drückt radikale Kritik aus, macht sich arm wie die Armen, lebt mit ihnen und verteidigt die zentrale Bedeutung der christlichen Mission gegenüber den Ausgegrenzten. Hinzu kommen sein Paradigma des Dialogs mit Atheisten und anderen Religionen, seine Beziehung zur Natur, seine Berufung zur Freude als Lebensform und seine Kraft als Zeuge. Bergoglio kommt aus einem Leben der Nähe und hat sich für ein einfaches Leben entschieden, indem er in einfachen Häusern lebt, mit dem Bus fährt und immer die gleichen einfachen Schuhe trägt. Wenn er sich in gewisser Weise einem gewissen Pauperismus verschrieben hat, so ist dies nicht nur eine Kritik an der bürgerlichen Lebensweise eines Großteils des Klerus und der Christen, sondern auch eine Kritik am Warenfetischismus. Im Internet finden sich leicht (ohne Manipulation durch KI) Fotos des früheren Papstes Benedikt XVI. mit Prada-Taschen, exklusiven Schuhen und Luxusautos, die ihm von großen Unternehmen geschenkt wurden. Franziskus hat all das in Geld für die internationale Solidarität zwischen den Völkern umgewandelt.

Andere symbolische Aspekte haben eine explizitere politische Dimension. Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt als Papst trug er einfache Kleidung und bat das Volk um seinen Segen. Seine ersten Reisen waren bewusst so gewählt, dass er Flüchtlinge/Einwanderer auf der Insel Lampedusa im Mittelmeer und Arbeitslose auf Sardinien besuchte. Er traf sich häufig mit Obdachlosen, Häftlingen, LGBTQIA+-Gruppen und Transfrauen. Er empfing Gustavo Gutierrez in Rom, telefonierte mit Pater Júlio Lancelotti, besuchte das Grab von Dom Samuel Ruiz in San Cristóbal de Las Casas (2016) und sprach Dom Oscar Romero, den Märtyrer von El Salvador, der nun offiziell heilig ist, selig [2]. Hervorzuheben sind auch die Bitte um Vergebung und Wiedereinsetzung in das Priesteramt von Pater Ernesto Cardenal, Dichter und Minister der sandinistischen Revolution, sowie die offenen und direkten Gespräche mit jungen Menschen, sei es in einer Disney-Serie oder in Online-Treffen mit Studenten, ohne vorherige Moderation. Franziskus stimmt nicht immer zu oder versteht, was junge Menschen vorschlagen, aber er möchte sie in seiner Nähe haben.

Diese Gesten blieben in einem Kontext des wachsenden Faschismus und der Leugnung angesichts der Konvergenz verschiedener Krisen wie der wirtschaftlichen, klimatischen, sozialen und der Migrationskrise nicht unbemerkt. Die konservativen katholischen Kreise reagierten hart. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war die Opposition gegen den Papst in der römischen Kurie selbst offen und aktiv. Auch die extreme Rechte aus verschiedenen Teilen der Welt griff Franziskus an, sei es als Anti-Papst oder als Kommunist. Hat sich die wütende Rechte verwirrt?

Nach seinem Tod stritten die verschiedenen Lesarten der Konservativen über Variationen einer Erzählung, die versucht, das transformative Potenzial dieser zwölf Jahre und einen Monat kleinzureden. Der oppositionellste Teil wirft Franziskus Extremismus vor, die Kirche zu polarisieren und Chaos in der institutionellen Ordnung zu stiften. Die Gemäßigteren versuchen, die Reformen von Franziskus als Fortsetzung eines von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. begonnenen Projekts zu interpretieren und damit sein kritisches Potenzial gegenüber der Gesellschaft zu reduzieren. Tatsächlich hat Franziskus eine Rolle als Reformer der kirchlichen Institution übernommen, auch wenn seine Handlungen aus lateinamerikanischer Sicht wie die Grundlagen der kirchlichen Erfahrung erscheinen, die hier seit den 1960er Jahren gemacht wurde.

Auf unserer Seite der Barrikaden des Volkskampfes?

All diese Elemente interessieren uns nicht an sich, sondern aufgrund ihres Beitrags zur Praxis der Befreiung. Der undogmatische Marxismus bietet keine fertigen Wahrheiten, die wir in unserer Analyse anwenden können. Er bietet eine Methode, die eine Reihe von Prinzipien miteinander verbindet. So sind eine Idee, eine Darstellung oder ein Symbol nicht in ihrem „Wesen“ entfremdend oder revolutionär, sondern durch die Art und Weise, wie sie sich zu einem bestimmten sozialen Ganzen verbinden. Dieser Grundsatz gilt auch für die Religion, die als soziales Phänomen nicht an sich, in einem Idealmodell, verstanden wird, sondern anhand der Rolle, die sie in den sozialen Widersprüchen jeder Epoche und jedes spezifischen Ortes spielt. Es handelt sich also um eine historische Analyse, die die Widersprüche und ihren direkten Bezug zur materiellen Grundlage des konkreten Lebens berücksichtigt.

Ausgehend von diesen Widersprüchen denkt Marx über die Religion seiner Zeit nach. Michael Löwy schlägt ebenfalls vor, die utopischen und ideologischen Elemente bestimmter religiöser Ausdrucksformen zu betrachten, in dem Sinne, dass in einem bestimmten konkreten historischen Kontext eine stark konservative Religion wie das Christentum unserer Zeit als revolutionäre Kraft auftreten kann.

Diese Überlegungen sind wichtig, um die Kritik der Religion im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus zu denken, denn schließlich interessiert uns Religion nicht als abstraktes Objekt, sondern aufgrund der Notwendigkeit der unterdrückten Klasse, für ihre materiellen Lebensbedingungen zu kämpfen und den Kapitalismus zu überwinden. Nun ist anzumerken, dass Analysen über Religion nicht gleichbedeutend sind mit der Untersuchung kirchlicher Institutionen wie der Kirchen in der modernen Welt und sich auch von der Untersuchung einer päpstlichen Regierung wie im Fall von Papst Franziskus unterscheiden. Das heißt, Religion, Kirche, Pontifikat und Theologie sind, obwohl sie im selben Bereich des sozialen Phänomens, das wir heute als Religion bezeichnen, miteinander verbunden sind, nicht dasselbe.

Im Allgemeinen ist es die utopische Dimension der Religionen, die das Entstehen von fragenden Tendenzen ermöglicht, die auf eine Transformation der Gesellschaft abzielen. Michael Löwy hebt in seinen Studien hervor, dass die Beziehung zwischen der katholischen Ethik und dem Kapitalismus durch eine ständige Spannung mit „einem für die Entwicklung des Kapitalismus weitaus ungünstigeren – wenn nicht gar feindlichen – Umfeld als den calvinistischen und methodistischen Sekten“ gekennzeichnet ist [3]. Verschiedene Aspekte, wie eine Theologie, die Profit, Zinsen und Wucher als Sünden verurteilt, schufen einen Kontext kultureller Antipathie, eine Art „negative Affinität“ [4]. Diese Abneigung oder grundsätzliche Ablehnung verhindert jedoch nicht, dass sich katholische Institutionen real an das kapitalistische System anpassen und sogar bestimmte Praktiken tolerieren oder bestimmte theologische Interpretationen überdenken.

In diesem Sinne ist es nicht völlig ungewöhnlich, wenn wir in der Regierung von Papst Franziskus antikapitalistische Elemente finden, da das Feld der antikapitalistischen Ideen breiter ist als der marxistische Ansatz. Löwy, Deménil und Renault charakterisieren den Antikapitalismus von Marx in seiner Kritik an fünf grundlegenden Themen: die Ungerechtigkeit der Ausbeutung, den Verlust der Freiheit durch Entfremdung, die käufliche Quantifizierung, die Irrationalität und die moderne Barbarei [5].

Dieselben Elemente finden sich auch bei Bergoglio. Er schlägt vor, das System anhand seiner Opfer zu analysieren, was tiefe moralische Empörung hervorruft: Es gibt eine tiefe Ungerechtigkeit, die die Unterdrückten immer stärker trifft. Die Irrationalität des Systems ist nicht in der Lage, die Probleme zu lösen, die es selbst verursacht. In Laudato Si stellt er beispielsweise fest:

„In diesem Zusammenhang muss immer daran erinnert werden, dass „der Schutz der Umwelt nicht allein auf der Grundlage einer finanziellen Kosten-Nutzen-Rechnung gewährleistet werden kann. Die Umwelt ist eines der Güter, die die Marktmechanismen nicht angemessen schützen oder fördern können“. Ich wiederhole noch einmal, dass eine magische Vorstellung vom Markt vermieden werden muss, die dazu neigt zu glauben, dass Probleme allein durch das Wachstum der Gewinne von Unternehmen oder Einzelpersonen gelöst werden können. Ist es realistisch zu erwarten, dass diejenigen, die von Gewinnmaximierung besessen sind, sich Gedanken über die Auswirkungen machen, die sie für die nächsten Generationen hinterlassen? Im Rahmen des Gewinnstrebens gibt es keinen Platz für Überlegungen über die Rhythmen der Natur, ihre Zeiten der Degradation und Regeneration und die Komplexität der Ökosysteme, die durch menschliches Eingreifen schwerwiegend verändert werden können. Wenn von Biodiversität die Rede ist, denkt man höchstens an sie als Reservoir wirtschaftlicher Ressourcen, das ausgebeutet werden könnte, aber der tatsächliche Wert der Dinge, ihre Bedeutung für die Menschen und Kulturen, die Interessen und Bedürfnisse der Armen werden nicht ernsthaft berücksichtigt“ (LS, 190, Hervorhebung von uns).

Die Kritik an der magischen Vorstellung vom Markt mit seinen Mechanismen der Gewinnmaximierung ist eine Anklage gegen jede Ideologie, die den Kapitalismus stützt, auch wenn der Begriff „Kapitalismus“ in der Enzyklika nicht vorkommt. Der Aspekt der Quantifizierung (aus kommerziell-finanzieller Perspektive) wird mit der Ablehnung der Werte des Individualismus, der Umkehrung des Lebenszwecks, der Unterdrückung durch Schulden, der Falschheit der Meritokratie, des unbegrenzten Fortschritts, des Konsums, des Wettbewerbs usw. in Verbindung gebracht. In der Enzyklika Fratelli Tutti finden wir beispielsweise folgende Passage:

„Der Markt allein löst nicht alles, auch wenn man uns manchmal dieses Dogma des Neoliberalismus glauben machen will. Es handelt sich um eine armselige, sich wiederholende Denkweise, die angesichts jeder Herausforderung immer die gleichen Rezepte vorschlägt. Der Neoliberalismus reproduziert sich immer gleich, indem er auf die magische Theorie des „Spillover“ oder „trickle-down“ – ohne sie zu benennen – als einzigen Weg zur Lösung sozialer Probleme zurückgreift. Er erkennt nicht, dass die vermeintliche Umverteilung die Ungleichheit nicht beseitigt, sondern vielmehr Quelle neuer Formen der Gewalt ist, die das soziale Gefüge bedrohen. (…) Finanzspekulationen, deren grundlegendes Ziel die Gier nach schnellem Gewinn ist, richten weiterhin Schaden an. (…) Das Ende der Geschichte verlief nicht wie vorhergesagt, da die dogmatischen Rezepte der vorherrschenden Wirtschaftstheorie gezeigt haben, dass sie selbst nicht unfehlbar sind. Die Schwäche der globalen Systeme angesichts der Pandemie hat gezeigt, dass nicht alles mit der freien Marktwirtschaft gelöst werden kann und dass wir nicht nur eine gesunde Politik wiederherstellen müssen, die nicht den Diktaten der Finanzwelt unterworfen ist, sondern „die Würde des Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen müssen und auf dieser Säule die alternativen sozialen Strukturen aufbauen müssen, die wir brauchen“ (FT, 168).

Auch wenn Bergoglio nicht aus der Tradition der Befreiungstheologie stammt (er kommt aus einer spezifischen lateinamerikanischen Theologie, die als Theologie des Volkes bekannt ist), teilt er in mehreren Passagen Überlegungen, in denen er ausgehend von der Anprangerung der Idolatrie Kritik am Warenfetischismus und Kapitalismus, an der Verdinglichung, der Verabsolutierung des Marktes und der Vergötterung der kapitalistischen Wirtschaft äußert. Das macht ihn nicht zu einem Marxisten, bringt ihn aber tatsächlich näher an das Lager der antikapitalistischen Kritiker. Uns scheint, dass diese Elemente mehr als den traditionellen (manchmal reaktionären) katholischen Antikapitalismus anzeigen und auf den notwendigen Übergang zu einem anderen wirtschaftlichen und politischen System hinweisen, wie beispielsweise einen utopischen Antikapitalismus [6].

Was tun mit einem System, das tötet? Franziskus schlägt vor, den Schwerpunkt seiner Mission auf außerhalb der Institution zu legen: in die Gesellschaft. Ein kleines, aber nicht weniger wichtiges Zeichen ist der Dialogprozess zwischen dem Heiligen Stuhl und den Netzwerken europäischer marxistischer Aktivisten, der von Transform! und dem Vatikan organisiert wird. Seit 2014 wurden verschiedene gemeinsame Aktivitäten durchgeführt, darunter eine gemeinsame „Sommerschule“ mit Schwerpunkt auf gemeinsamen Problemen Europas wie Migration, Armut und Ökologie. Michael Löwy ist Mitglied dieses Prozesses, der sogar ein Treffen mit dem Papst selbst umfasste [7]. In diesem Pontifikat ist der Marxismus nicht mehr ein „Anathema“, sondern ein „offizieller“ Gast.

Ohne Illusionen zu pflegen, sollte man nicht erwarten, dass diese Dialoge ohne Widersprüche verlaufen. Interessant ist jedoch, dass Marxisten sowohl aus ideologischer Sicht als auch hinsichtlich der Verpflichtungen an verschiedenen konkreten Fronten oft mehr von den Dokumenten des lateinamerikanischen Papstes verlangen als von denen der römischen Kurie oder der beteiligten katholischen Bewegungen.

Solche Widersprüche sind in einer Institution wie der Kirche, die stark dazu neigt, sich dem Status quo anzupassen, durchaus positiv. Es bleibt jedoch eine interessante Frage, warum im Laufe der Geschichte (in der die Institution verschiedene soziale Konfigurationen durchlaufen hat) immer wieder Reformen, Prophezeiungen und Widerstände auftauchten, sei es in Form von radikaler Armut oder in Gestalt von Persönlichkeiten wie Franz von Assisi, Martin Luther, Bartolomé de Las Casas oder Dom Helder Câmara. Trotz dieses Aufblitzens im Namen der Gerechtigkeit war in der modernen Welt eine progressive Sichtweise im Katholizismus nie vorherrschend, nicht einmal in der Blütezeit der Befreiungstheologie.

Wäre es daher nicht wenig unvernünftig, von Bergoglio in Ausübung seines päpstlichen Amtes die Vollendung eines radikalen Programms der revolutionären Linken zu erwarten? Die Frage mag seltsam und aus dem Zusammenhang gerissen erscheinen, doch ein Teil der Kritik an Franziskus rührt von der Erwartung her, dass er nur Bündnisse mit denen eingeht, die identische Projekte wie wir haben. Wir sollten von unseren Bewegungen und Organisationen ein Revolutionsprogramm erwarten, nicht vom Klerus. Ist Franziskus aus Sicht der katholischen Kirche ein revolutionärer Papst? In vielerlei Hinsicht ja. Teilt er unser Gesellschaftsprojekt? Es gibt viele Gemeinsamkeiten und viele Widersprüche oder Gegensätze. Vielleicht ist es am besten, nach Punkten zu suchen, in denen das Handeln von Franziskus (und derer, die sein Erbe weiterführen werden) gemeinsame Fronten bilden kann, um den selbstmörderischen neoliberalen Konsens in Frage zu stellen, die tiefen Widersprüche des Kapitalismus aufzuzeigen, indem man die Opfer des Systems verteidigt und neue Generationen zu Utopien der Transformation inspiriert.

Kurze Bilanz seiner Bemühungen

Bergoglio wurde in einer für die katholische Kirche schwierigen Zeit zum Papst gewählt, in der sich Skandale häufen, sei es Vatileaks, Pädophilie und sexueller Missbrauch oder die Finanzen des Vatikans. Nach seiner Wahl zum Papst wollte er nicht das gleiche Regierungsmodell übernehmen, das alle Macht in seiner Person konzentriert. Hier kommt seine größte Einschränkung zum Ausdruck, die sich aus einem Paradoxon ergibt: eine absolutistische Macht zu reformieren, ohne totalitäre Praktiken zu reproduzieren. Dazu setzte er auf verschiedene Prozesse: die Bildung eines Kardinalsrats (C-9) zur Reform des Vatikans, er ging öffentlich gegen die „Krankheiten“ der römischen Kurie vor, mischte die Logik des Kardinalskollegiums auf, berief immer größere Synoden mit Laien ein (die zuvor Bischöfen vorbehalten waren), förderte Kirchenkonferenzen anstelle von Bischofskonferenzen (wie die CEAMA, Konferenz der Amazonasbischöfe) [8].

Mit jedem Schritt zur Reduzierung der totalitären Macht des Heiligen Stuhls verringerte sich jedoch seine Fähigkeit, der Kirche eine neue Lebensweise aufzuzwingen, die über die Kraft des Zeugnisses hinausging. Er wurde abhängig von der Zustimmung zu seinem Projekt. Unter starkem Druck von außen, unter anderem durch die Finanzierung von Sektoren der extremen Rechten, die den internen Widerstand gegen Franziskus organisierten, reagierten die Bischöfe und der Klerus im Allgemeinen nicht immer loyal auf den vom Papst eingeleiteten Prozess. In diesem Sinne schien Bergoglio mehr auf die Mobilisierung außerhalb der Kirche zu setzen und zu hoffen, dass diese Aktion Ergebnisse innerhalb der Institution bringen würde.

Außerhalb der Kirche war sein Handeln franziskanisch, als Verkündigung der Freude einer christlichen Tradition: die kompromisslose Verteidigung der Migranten, das ökologische Engagement, das den Kampf der Völker und den Kampf für soziale und klimatische Gerechtigkeit verbindet, die Betonung der Präsenz in den Peripherien, eine große ökumenische Bemühung, sogar im Dialog mit dem sunnitischen und schiitischen Islam. In Fratelli Tutti hat er das Thema Politik als Mobilisierung der sozialen Freundschaft angesichts der Errichtung von Mauern der Unnachgiebigkeit thematisiert und die soziale Nachbarschaft als Voraussetzung für die Erneuerung des politischen Handelns hervorgehoben. Dies ist eine klare Gegenposition zur Agenda der extremen Rechten, mit der radikalen Bekräftigung der Menschenrechte zum Schutz aller Lebensformen.

Innerhalb der Kirche handelte er jesuitisch mit Unterscheidungsvermögen, provozierte Veränderungen und forderte Disziplin: Bestrafung von Finanzbetrug, Bestrafung von Sexualverbrechen, Reduzierung der Macht der römischen Kurie, Erweiterung des Raums für die Beteiligung und Mitentscheidung von Laien. Ein Teil des progressiven Klerus kritisiert Franziskus dafür, dass er bei Strafen extrem hart und autoritär sei. Sogar ein Kardinal wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Dutzende Bischöfe und viele Priester wurden ihres Amtes enthoben. Selbst der komplizierte Besuch in Chile verlief nicht ohne Wendungen: Während Franziskus zunächst die Opfer nicht anhörte und einen Teil des Episkopats verteidigte, erkannte er später seinen Fehler, entschuldigte sich und reorganisierte die institutionellen Maßnahmen auf der Grundlage des Widerstands dieser Opfer [9].

Im Allgemeinen werden gesellschaftliche Themen als Schwachpunkt von Franziskus genannt. Tatsächlich wurden Themen der Sexualmoral von der konservativen Opposition gegen Franziskus immer (erfolgreich) mobilisiert, um ihm Steine in den Weg zu legen und ihm den Ausbau seiner Allianzen zu erschweren. Es ist eine Untertreibung zu sagen, dass Franziskus aus moralischer Sicht konservativ ist. Mit der Änderung der pastoralen Praxis der Kirche schlägt er eine andere Theologie vor, in der Gott alle Menschen annimmt und die fundamentalistische christliche Praxis, die grundlegende Würde aller Menschen zu leugnen, delegitimiert. Abtreibung, reproduktive Rechte und Homosexualität sind Themen, bei denen seine Aussagen im Allgemeinen näher an der traditionellen Lehre liegen. Katholische LGBTQIA+-Bewegungen und theologische Vereinigungen sehen jedoch trotz ihrer Kritik den vom Lateinamerikaner eingeleiteten Prozess positiv.

Weitere Themen, die für Katholiken wichtig sind, sind die institutionelle Erneuerung mit der Abschaffung des Zölibats für Priester, die Ordination verheirateter Männer und natürlich die Ordination von Frauen. Wir alle wissen, dass diese Themen diskutiert wurden, wenn auch nicht ohne Ambivalenzen, denn hält die Ordination von Frauen und verheirateten Männern nicht die Institution in einer klerikalen Logik gefangen, die es zu überwinden gilt? Die vielleicht radikalste Reform wäre, die Bedeutung und Macht des ordinierten Amtes selbst zu reduzieren.

Franziskus hat jedoch Versuche unternommen und ist auch wieder zurückgerudert. Wir können kurz drei Momente hervorheben, in denen er seine Kräfte auf die Mobilisierung der Gemeinschaften und Strukturen für bedeutende Fortschritte gesetzt hat: auf der Amazonas-Synode, auf der Familiensynode und auf der Synode über die Synodalität. Die Wahrheit ist, dass die Prozesse viel interessanter waren als ihre jeweiligen Ergebnisse. Es scheint jedoch, dass der Papst eingeschätzt hat, nicht über genügend Kräfte für die notwendige Transformation zu verfügen. Hatte die objektive Realität, die verändert werden muss, noch keine Verbindung zur subjektiven Realität der katholischen Bevölkerung weltweit? Franziskus hat jedoch mehrfach betont, dass Prozesse wichtiger sind als Ereignisse, in der Hoffnung, dass keine dieser Initiativen in sich selbst endet, sondern als Druck weiterwirkt, der seiner Auffassung nach von der Basis der Gesellschaft ausgehen muss.

Auf der internationalen politischen Bühne agierte er mit seiner ganzen symbolischen Kraft und politischen Schwäche: Er verurteilte die Kriege im Südsudan, in der Demokratischen Republik Kongo, in der Ukraine und in Palästina. Jeden Tag rief Franziskus den Pfarrer einer Gemeinde in Gaza an, um sich nach dem Befinden der Menschen zu erkundigen und seine Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Er trat offen gegen die Trump-Regierung auf und sandte sogar einen Brief an die Bischöfe der USA, der zu einem sehr wichtigen politischen Dokument unserer Zeit wurde [10]. Er verhandelte mit Russland und China und erzielte wichtige Vereinbarungen. Dabei versäumte er es nicht, junge Menschen zu allen Formen des zivilen Ungehorsams aufzurufen, die für den Wandel der Gesellschaft notwendig sind. Er schlägt vor, sich in den COPs zu engagieren, ohne sich jedoch Illusionen zu machen, und setzt auf die Zusammenarbeit mit radikalen Bewegungen und die Mobilisierung der sozialen Basis, der Jugendlichen, der Frauen und der indigenen Bevölkerung.

Neben dem Dialog mit sozialen Bewegungen hat Bergoglio auch andere Fronten für die Erneuerung utopischer Perspektiven für den gesellschaftlichen Wandel vorangetrieben, wie den Globalen Bildungspakt, das weltweite Treffen der Wirtschaft von Franziskus (in Brasilien: Wirtschaft von Franziskus und Clara), die Bewegung Laudato Si, die Seminare Fratelli Tutti … Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, ist die Linie der Intervention in diesem Bereich recht gut positioniert.

Eine Bilanz muss gezogen werden

Es ist gut möglich, dass in einigen Jahren eine Bilanz dieser Zeit, in der ein Lateinamerikaner Papst war, ausgehend von seinen Fehlern, die auf den ersten Blick nicht wenige sind, kohärenter sein wird. Dennoch glaube ich, dass man bereits jetzt sagen kann, dass es sich um einen Meilenstein in der Geschichte des zeitgenössischen Christentums handelt.

Aus ideologischer Sicht hat Franziskus Elemente einer utopischen, transformativen Weltanschauung artikuliert. Aus wirtschaftlicher Sicht hat er eine antikapitalistische Tradition mobilisiert, um das fetischisierte Wirtschaftssystem aus der Tradition der Befreiungstheologie in den Kategorien Opfer und Idolatrie zu kritisieren. Im Kontext des Klassenkampfes stand er auf der Seite des radikalen Humanismus, der Menschenrechte und der sozialen und klimatischen Gerechtigkeit als Partner der Volksbewegungen.

Er setzte auf Prozesse und scheute keine Konflikte, die dabei entstanden. Trotz der Stärke seiner inneren (römische Kurie) und äußeren (extreme Rechte) Opposition plädierte er für die Nähe zu den Leidenden. Er wiederholte immer wieder seinen Wunsch nach einer Institution, in der alle Platz haben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass er auf die Utopie (immer zu träumen) gesetzt hat, auf die Notwendigkeit der Hoffnung angesichts des faschistischen Hasses, auf den Wunsch, mit dem Volk zu gehen, und auf die Aufforderung, sein Leben der Sache der gesellschaftlichen Transformation zu widmen.

Es ist Aufgabe der Revolutionäre, die Berührungspunkte zwischen den politischen Horizonten zu erkennen. Was die Widersprüche seiner Grenzen angeht, so möge uns die Kritik an Bergoglio helfen, unser eigenes Handeln konsequent zu radikalisieren, um eine breite Front zu vereinen, die in der Lage ist, die Welt zu bauen, die wir brauchen. In Anlehnung an Walter Benjamins These I scheint uns die Realität des Lebens zu zeigen, dass es trotz aller gegenteiligen Doktrinen einen weiten Raum für Bündnisse zwischen dem revolutionären historischen Materialismus und einem bestimmten Christentum gibt.

Anmerkungen:

[1] Rede von Papst Franziskus beim II. Weltkongress der Volksbewegungen. Siehe https://www.vatican.va/content/francesco/pt/speeches/2015/july/documents/papa-francesco_20150709_bolivia-movimenti-popolari.html

[2] Allan Coelho, ZWISCHEN ANKLAGEN UND VERWIRRUNG: DER ANTIKAPITALISMUS UND PAPST FRANZISKUS. Revista Caminhos – Revista de Ciências da Religião, Goiânia, Bd. 16, S. 63–81, 2018. Verfügbar unter: https://seer.pucgoias.edu.br/index.php/caminhos/article/view/6374

[3] Michael Löwy, Was ist Befreiungschristentum: Religion und Politik in Lateinamerika. São Paulo: Expressão Popular/Perseu Abramo, 2016, S. 53-54.

[4] Michael Löwy, Was ist Befreiungschristentum, S. 58.

[5] Micheal Löwy, Gérard Duménil, Emmanuel Renault, 100 Worte des Marxismus. São Paulo: Cortez, 2015, S. 14.

[6] Allan Coelho, A Idolatria e o Papa Francisco: radicalidade na crítica ao capitalismo. Estudos de Religião, v. 33, S. 203-230, Jan.-Apr. 2019.

[7] Michael Lowy, Bandiera Rossa, al Vaticano! Siehe: https://blogs.mediapart.fr/michael-lowy/blog/190124/bandiera-rossa-al-vaticano

[8] Allan Coelho, Die transformative Praxis als Pädagogik für neue Subjekte. Revista Eclesiástica Brasileira, 84(327), 2024, S. 209–234. https://doi.org/10.29386/reb.v84i327.5236

[9] Zu diesem Thema siehe die Diskussion in Religión Digital https://www.youtube.com/watch?v=TGn7OxM2CXA

[10] Siehe: https://www.vatican.va/content/francesco/pt/events/event.dir.html/content/vaticanevents/pt/2025/2/11/lettera-vescovi-usa.html