Franziskus: „Der Kapitalismus kennt Philanthropie, aber keine Gemeinschaft“

Aus der Ansprache von Papst Franziskus zu „Wirtschaft in Gemeinschaft“ am 4. Februar 2017

(Übersetzung aus dem Italienischen: Norbert Arntz, Münster/Kleve)

Rund 1.000 Vertreter der Initiative „Wirtschaft in Gemeinschaft“, die von der katholischen Fokolar-Bewegung vor 25 Jahren initiiert wurde, nahmen an einem Treffen mit dem Papst in der vatikanischen Audienzhalle teil. Bevor der Papst seine Rede hielt, stellten einige Unternehmen, Wirtschaftsstudenten und Start-Up-Engagierte ihre Projekte vor und berichteten von den Früchten ihres Engagements. (RV)

Wirtschaft und Gemeinschaft. Zwei Worte, welche die zeitgenössische Kultur voneinander trennt und oft für Gegensätze hält. Zwei Worte, die Sie aber miteinander verbunden haben, indem Sie die Herausforderung annahmen, die vor 25 Jahren Chiara Lubich in Brasilien formulierte, als sie angesichts der skandalösen Ungleichheit in der Stadt Sao Paulo die Unternehmer aufforderte, Agenten der Gemeinschaft zu werden. Sie forderte dazu auf, kreativ und kompetent zu sein, aber nicht nur das.

Die Unternehmer unter Ihnen verstehen sich als Agenten der Gemeinschaft. Indem Sie in die Wirtschaft den guten Samen der Gemeinschaft einbringen, haben Sie für das Selbstverständnis und die Praxis des Unternehmens einen tiefgreifenden Wandel eingeleitet. Das Unternehmen trägt nicht nur dazu bei, die Gemeinschaft zwischen den Menschen nicht zu verhindern, sondern kann Gemeinschaft sogar aufbauen und fördern. Mit Ihrem Leben stellen Sie unter Beweis, dass Wirtschaft und Gemeinschaft attraktiver werden, wenn sie aufeinander einwirken. Natürlich wird die Wirtschaft schöner, aber noch schöner wird die Gemeinschaft, denn die geistige Gemeinschaft der Herzen erweitert sich, wenn sie zur umfassenden Gemeinschaft von Gütern, Fähigkeiten und Profiten wird. Im Nachdenken über Ihr Engagement würde ich heute gerne drei Dinge sagen.

Das erste betrifft das Geld. Es ist höchst wichtig, dass die Gemeinwirtschaft ihr Zentrum in der Gemeinschaft der Profite hat. Die Gemeinwirtschaft ist zugleich über die Gewinngemeinschaft hinaus der Ausdruck eines gemeinschaftlichen Lebens. Ich habe oft vom Geld als einem Götzen gesprochen. Die Bibel sagt uns das auf unterschiedliche Weise. Es überrascht nicht, dass im Johannesevangelium Jesus bei seinem ersten öffentlichen Auftreten die Händler aus dem Tempel vertreibt (vgl Joh 2,13-21). Man kann das neue Reich Gottes, das Jesus bringt, nicht verstehen, wenn man sich nicht von den Götzen befreit, unter denen das Geld einer der mächtigsten ist. Warum sind es dann ausgerechnet die Kaufleute, die Jesus vertreibt? Geld ist wichtig, vor allem, wenn man es nicht hat und wenn davon die Ernährung, die Schule, die Zukunft der Kinder abhängt. Aber es wird zum Götzen, wenn es zum Selbstzweck wird. Habgier ist nicht zufällig eine Todsünde; sie ist die Sünde des Götzendienstes, wenn die Anhäufung von Geld selbst das ultimative Ziel des eigenen Handelns wird. Und es war Jesus, wirklich er selbst, der das Geld als „Herrn“ bezeichnete: „Niemand kann zwei Herren dienen, zwei Arbeitgebern“. Es sind zwei: Gott oder Geld, der Anti-Gott, der Götze. Das hat Jesus gesagt. Es geht um eine Entscheidung auf gleicher Ebene. Denken Sie darüber nach ..

Wenn der Kapitalismus einzig das Gewinnstreben zu seinem Zweck macht, droht er, zu einer götzendienerischen Struktur, zu einer Form von Gottesdienst zu werden. Die „Glücksgöttin“ wird immer mehr die neue Gottheit eines bestimmten Finanzsystems und des gesamten Casino-Systems, das Millionen von Familien auf der ganzen Welt zerstört. Mit Recht lehnen Sie sich dagegen auf. Dieser Götzendienst ist ein Ersatz für das ewige Leben. Die einzelnen Produkte (wie Autos, Telefone …) altern und gehen kaputt, aber wenn ich Geld oder Kredit habe, kann ich sofort andere kaufen und mich damit in der Illusion wiegen, den Tod zu besiegen. Erst in diesem Zusammenhang können wir den ethischen und spirituellen Wert Ihrer Entscheidung verstehen, gemeinsam über die Gewinne zu verfügen. Das Geld nicht zum Götzen zu machen, geschieht am besten und konkretesten dadurch, dass man es teilt, dass man es mit anderen teilt, vor allem mit den Armen, oder mit jungen Leuten, damit sie studieren und Arbeit finden können. So besiegt man die Versuchung zum Götzendienst durch Gemeinschaft. Wenn Sie ihre Gewinne miteinander teilen und spenden, vollziehen Sie einen Akt tiefer Spiritualität, durch Ihr Tun sagen Sie dem Geld: Du bist für mich kein Gott, kein Herr, kein Arbeitgeber! Vergessen Sie nicht jene tiefe philosophische und theologische Erkenntnis, die unsere Großmütter sagen ließ: „Der Teufel findet Einlass durchs Portemonnaie“. Vergessen Sie das nicht!

Das zweite, was ich sagen möchte, bezieht sich auf die Armut, ein zentrales Thema in ihrer Bewegung. Derzeit gibt es öffentlich und privat viele Initiativen, die Armut zu bekämpfen. Einerseits ist dies eine Zunahme an Humanität. In der Bibel wurde den Armen, den Waisen, den Witwen, dem „Abfall“ der damaligen Gesellschaft, durch den Zehnten und die Getreide-Nachlese geholfen. Aber die meisten Menschen blieben arm, weil diese Subventionen nicht reichten, um alle zu ernähren und zu pflegen. Es gab viel zu viele „Verworfene“ der Gesellschaft. Heute haben wir andere Formen gefunden, die Armen zu ernähren, zu bilden und zu behandeln. Einige Samenkörner der Bibel sind in Institutionen aufgegangen, die wirksamer helfen als jene der Antike. Diese Solidarität ist auch eine Begründung für die Besteuerung, aber sie wird häufig durch Steuerhinterziehung und Steuerbetrug verweigert. Solches Verhalten ist nicht nur illegal, sondern verweigert sich dem Grundgesetz des Lebens, der gegenseitigen Hilfe.

Aber ich kann gar nicht oft genug darüber sprechen, dass der Kapitalismus immer noch „Verworfenes Leben“ produziert, um es dann zu kurieren. Das ethische Hauptproblem dieses Kapitalismus besteht darin, Menschen erst zu verwerfen, und sie dann so zu verstecken, dass sie unsichtbar werden. Eine Zivilisation erweist ihre Misere daran, dass sie ihre Armen absichtlich übersieht, die sie zuerst verwirft und dann versteckt.

Flugzeuge kontaminieren die Atmosphäre, aber ein kleiner Teil der Ticketeinnahmen dient dazu, Bäume zu pflanzen. Die Casino-Gesellschaft finanziert Kampagnen, um die pathologischen Spieler zu kurieren, die sie geschaffen hat. Und an dem Tag, an dem die Rüstungsfirmen Hospitäler finanzieren, um die durch Bomben verstümmelten Kinder zu heilen, hat dieses System seinen Höhepunkt erreicht. Das ist Heuchelei!

Wenn die Wirtschaft in Gemeinschaft ihrem Charisma treu sein will, darf sie nicht nur die Opfer kurieren, sondern muss ein System aufbauen, in dem es immer weniger , ja möglichst keine Opfer mehr gibt. Solange die Wirtschaft immer noch ein einziges Opfer produziert, solange immer noch ein einziger Mensch verworfen wird, ist die Gemeinschaft noch nicht verwirklicht, kann das Fest universaler Geschwisterlichkeit nicht begangen werden.

Deshalb müssen wir versuchen, die Spielregeln des wirtschaftlich-sozialen Systems zu ändern. Den barmherzigen Samariter des Evangeliums zu imitieren, reicht nicht. Natürlich, sobald ein Unternehmer oder irgendein anderer Mensch zum Opfer wird, ist man gefordert, zu helfen, und vielleicht auch, wie der barmherzige Samariter, den Markt (das Hotel) für geschwisterliches Handeln einzusetzen.

Ich weiß, dass Sie das seit 25 Jahren zu tun versuchen. Vor allem aber muss man handeln, bevor der Mensch unter die Räuber fällt, indem man die Strukturen der Sünde bekämpft, die Menschen zu Räubern und Opfern machen. Ein Unternehmer, der nur ein barmherziger Samariter ist, tut seine Pflicht nur zur Hälfte, kuriert die Opfer von heute, aber reduziert nicht die von morgen. Die Wirtschaft in Gemeinschaft muss den barmherzigen Vater des Gleichnisses vom verlorenen Sohn nachahmen und zu Hause auf die Kinder, die Arbeiter und Angestellten warten, die Unrecht getan haben, sie umarmen, mit ihnen und für sie ein Fest feiern – statt sich durch die vom älteren Sohn und vielen anderen eingeklagte angebliche Meritokratie blockieren zu lassen, die ihre Verdienste geltend machen, um Barmherzigkeit zu verweigern. Ein Unternehmer in Gemeinschaft ist dazu berufen, alles dafür zu tun, dass auch jene, die sich verfehlt und das Haus verlassen haben, mit einer Arbeit und einem angemessenen Einkommen rechnen können, statt mit Schweinen zu essen. Kein Kind, kein Mensch, auch nicht die schlimmsten Rebellen, verdienen die Futterschoten der Schweine.

Der dritte Punkt schließlich betrifft die Zukunft. Die vergangenen 25 Jahre Ihrer Geschichte erzählen uns, dass Gemeinschaft und Unternehmen zusammen wirken und wachsen können. Diese Erfahrung ist zur Zeit auf eine kleine Anzahl von Unternehmen beschränkt, nur sehr wenige im Vergleich mit dem Großkapital der Welt. Doch Veränderungen in der Ordnung des Geistes und somit des Lebens hängen nicht an der großen Zahl. Die kleine Herde, die Leuchte, eine Münze, ein Lamm, eine Perle, Salz, Sauerteig: das sind die Bilder des Gottesreichs in den Evangelien. Und die Propheten haben die neue Ära des Heils angekündigt, indem sie ein Kind als Zeichen, als Emmanuel deuteten, und vom treuen „Rest“, von einer kleinen Gruppe, sprachen.

Wir müssen nicht viele sein, um unser Leben zu ändern; es kommt nur darauf an, dass Salz und Sauerteig nicht ihre Kraft verlieren. Die wichtigste Arbeit besteht darin, den „Wirkstoff“ nicht zu verlieren, der uns motiviert. Das Salz wirkt nicht durch immer größere Mengen – in der Tat, zu viel Salz macht die Pasta salzig – , sondern seine „Kraft“ zu behalten, das heißt seine Qualität. Stets wenn Menschen, Völker und auch die Kirche entschieden hatten, immer mehr von der Welt zu retten, entstanden Machtstrukturen, wurden die Armen übersehen. Lasst uns unsere Wirtschaft in Gemeinschaft wahren, indem wir wie Salz und Sauerteig einfach wirken: eine schwierige Aufgabe, weil sich alles mit der Zeit ändert. Was tun, um den Wirkstoff, „das Enzym der Gemeinschaft“ zu halten? Als es keine Kühlschränke gab, den Sauerteig fürs Brot zu lagern, hat man der Nachbarin etwas von der eigenen Masse geschenkt, und wenn man dann wieder Brot buk, erhielt man eine Handvoll von ihrem Sauerteig, oder von jemand anderem, der es seinerseits geschenkt bekommen hatte. Dies ist Gegenseitigkeit. Gemeinschaft heißt eben nicht nur Teilen, sondern auch die Güter vermehren, neues Brot zu backen, neue Produkte herzustellen, ein neues Gut (großgeschrieben) zu schaffen. Das lebendige Prinzip des Evangeliums bleibt nur aktiv, wenn wir geben, weil es die Liebe ist, und die Liebe ist nur aktiv, wenn man liebt, nicht, wenn man Romane schreibt oder Seifenopern im Fernsehen sieht. Wenn wir eifersüchtig alles nur für uns selbst behalten wollen, schimmelt es und stirbt. Auch das Evangelium kann verschimmeln. Die Wirtschaft in Gemeinschaft wird Zukunft haben, wenn man sie allen weitergibt und nichts nur im eigenen „Hause“ für sich behält. Gebt sie an alle weiter, vor allem an die Armen und die Jugendlichen. Sie gehören zu jenen, die sie am meisten benötigen und am besten wissen, wie man das Geschenk fruchtbar machen kann! Um Leben in Fülle zu finden, müssen wir lernen zu geben, nicht nur die Gewinne der Unternehmen, sondern uns selbst. Das wichtigste Geschenk des Unternehmers ist seine eigene Person; sein Geld, obwohl wichtig, reicht nicht. Das Geld wirkt nur, wenn auch der Mensch sich verschenkt. Die heutige Wirtschaft, die Armen, die jungen Menschen bedürfen zunächst Ihrer Seele, Ihrer respektvollen, demütigen Geschwisterlichkeit, Ihres Lebenswillens und erst dann Ihres Geldes. Der Kapitalismus kennt Philanthropie, aber keine Gemeinschaft. Es ist leicht, einen Teil der Gewinne zu spenden, ohne die Menschen zu umarmen und zu berühren, die diese „Krümel“ erhalten. Stattdessen können sogar fünf Brote und zwei Fische die Menge satt werden lassen, wenn wir unser ganzes Leben miteinander teilen. Wenn man in dieser Logik des Evangeliums nicht alles gibt, gibt man nicht genug.

Das alles machen Sie schon. Aber man kann noch mehr Profite teilen, um den Götzendienst zu bekämpfen, Strukturen ändern, um Menschenopfer und Verworfene zu verhindern; mehr vom eigenen Sauerteig im Brot für alle aufgehen lassen. Das „Nein“ zu einer Wirtschaft, die tötet, wird das „Ja“ zu einer Wirtschaft, die Leben schaffen will, weil sie teilt, auch mit den Armen, und die Erlöse verwendet, um Gemeinschaft zu schaffen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie diesen Weg mit Mut, Demut und Freude weitergehen. „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“ (2 Kor 9,7). Gott liebt es, wenn Sie ihre Gewinne und Fähigkeiten mit Freude geben. Sie tun es schon; aber sie können noch mehr tun. Ich wünsche Ihnen, dass Sie weiterhin Samen, Salz und Sauerteig für eine andere Wirtschaft sind, für die Wirtschaft des Gottesreichs, in dem die Reichen verstehen ihren Reichtum zu teilen und die Armen selig gepriesen werden. Danke.