Das Konzil von Nizäa als Moment der Konstantinischen Wende und Begründung einer idolatriekompatiblen Orthodoxie. In memoriam Papst Franziskus

Anfang 2025 ist in 2. Auflage das Buch von Urs Eigenmann/Kuno Füssel/Franz J. Hinkelammert (Hg.) erschienen: Der himmlische Kern des Irdischen. Das Christentum als pauperozentrischer Humanismus der Praxis, Luzern 22025. In ihm behandelt Urs Eigenmann die Wende vom messianisch-biblischen Christentum zur staatsreligiösen, platonisierten Orthodoxie im Konzil von Nizäa und der konstantinischen Wende. Das Buch kann im ITP bestellt werden. Hier veröffentlichen wir den neusten Text von Dr. Urs Eigenmann in einer überarbeiteten Version in momoria Papst Franziskus:

1 Die Heilige Schrift als Seele der Theologie und die Bibel als norma normans non normata

Gemäss dem Vatikanum II muss die Heilige Schrift die Seele der gesamten Theologie sein (vgl. OT 16), was für die römisch-katholische Theologie «eine nahezu revolutionierende Bedeutung hat» (Joseph Ratzinger). Wenn daraus folgt, dass das Lehramt nicht über dem Wort Gottes steht (vgl. DV 10), rezipierte das Konzil damit das sola scriptura Prinzip der Reformation des 16. Jahrhunderts. Heute ist die Bibel in der Ökumene als normierende Norm (norma normans non normata) anerkannt. Wissenschaftstheoretisch formuliert, muss die Theologie dem kategorialen theoretischen Rahmen der Bibel verpflichtet sein; denn auch für die Theologie gilt: «Wir können nur die Wirklichkeit wahrnehmen, die uns durch die benutzten theoretischen Kategorien erscheint» (Franz Hinkelammert) und «die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann» (Albert Einstein). Vor diesem Hintergrund verstehen sich die folgenden Überlegungen angesichts des 1700-Jahrgedenkens an das Konzil von Nizäa 325 und des Todes von Papst Franziskus.

2 Justins Logosrezeption als vorkonstantische Wende zur Platonisierung des Christentums

Justin der Märtyrer (gest. um 165) identifizierte als bedeutendster Apologet des Christentums Jesus Christus mit dem göttlichen Logos der mittelplatonischen Philosophie. Für deren führenden Vertreter Philo von Alexandrien war der Logos die eigentliche Offenbarung Gottes. Indem Justin Jesus Christus mit diesem Logos identifizierte, reflektierte er nicht mehr den tödlich ausgegangenen Konflikt zwischen dem Reich-Gottes-Zeugen Jesus und der Pax Romana. Stattdessen spekulierte er über Jesu Geburt aus einer Jungfrau und seine Präexistenz. Mit der Logoschristologie wollte Justin das Christentum anschlussfähig an die hegemoniale Philosophie seiner Zeit ausweisen. In Folge der aktiven Koppelung (Ludwik Fleck) des christlichen Denkens an eine griechische Philosophie wurde nicht mehr der historisch-tödliche Konflikt zwischen Jesus und der Pax Romana reflektiert. Die Konfliktlinie wurde hin zu folgenden Spekulationen verschoben: Christologisch-intrapersonal über das Menschliche und Göttliche in Jesus Christus; trinitätstheologisch-interpersonal über die Relationen von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist; gnadentheologisch über das Verhältnis von Gott und Mensch unter Absehung vom Gegensatz zwischen dem Reich Gottes und dem Antireich; ekklesiologisch ad intra über das Verhältnis von Laien und Klerus sowie von Orthodoxie und Häresie und ad extra über das Verhältnis zu den Juden und zur Welt. Justins Logosrezeption war als Platonisierung des christlichen Denkens (Franz Hinkelammert) die zentrale Weichenstellung in der Geschichte des Christentums. Sie war im zweiten Jahrhundert die theologisch-philosophische Wende, die danach mit dem verbürgerlichten Christentum (Eduardo Hoornaert) der Alexandriner Klemens und Origenes im dritten Jahrhundert die konstantinische im vierten ermöglichte. Methodologisch formuliert, stellte Justins Logosrezeption eine Verkehrung des Christentums in eine offenbarte Lehre dar (Friedrich Loofs). Sie bedeutete eine Veränderung der theoretischen Denkweise durch die Verdrängung des historischen Denkens durch das spekulative (Jon Sobrino). Sie bestand im Austausch des kategorialen theoretischen Rahmens (Urs Eigenmann) und kann als Denkstilumwandlung oder -veränderung (Ludwik Fleck) bezeichnet werden. Der jüdisch-biblisch-historische kategoriale Rahmen im Dienst einer messianischen Nachfolgepraxis wurde ersetzt durch den griechisch-philosophisch-spekulativen kategorialen Rahmen im Dienst einer dogmatischen Lehre. Griechische Philosophie avancierte zur domina theologiae (Urs Eigenmann). Über die Logosrezeption hinaus stellte Justin als erster Häresiologe und erster Antijudaist entscheidende Weichen für die künftige Entwicklung des Christentums und dessen Theologie.

3 Methodologische Zwischenreflexion

Nach diesem Hinweis auf die Justinsche Logosrezeption und vor den Ausführungen zum Konzil von Nizäa soll eine Zwischenreflexion aufzeigen, von welchen vier methodologischen Voraussetzungen die folgenden Überlegungen ausgehen: Erstens terminustheoretisch im Anschluss an Aristoteles davon, dass das Wort «Gott» nicht eindeutig univok, sondern mehrdeutig aequivok ist. Zweitens zeichentheoretisch im Sinn von Roland Barthes davon, dass «Gott» als Signifikant (s) im Sinn von Bedeutendes nicht ausschliesslich einem Signifikat (S) im Sinne von Bedeutetes zugeordnet ist. Drittens hermeneutisch nicht von der Korrespondenz von Termini, sondern von Relationen (Clodovis Boff) bzw. von einer kritischen Interrelation (Edward Schillebeeckx). Jeder Terminus und jeder Text steht in einem textlich-historischen Kontext einer Gesellschaftsformation als dem komplex strukturierten Ganzen der Instanzen Ökonomie, Politik und Ideologie (Louis Althusser). Diese Kontextualität gilt für die Textproduktion als Verfassen eines Textes und die Textrezeption als Lesen eines Textes. Diese Hermeneutik hebt sich ab von jener der Horizontverschmelzung (Hans Georg Gadamer), die von der Kontextualität von Textproduktion und -rezeption absieht. Viertens wissenschaftstheoretisch von der grundlegenden Bedeutung des die Wahrnehmung, das Denken und das Handeln (Pierre Bourdieu) leitenden kategorialen theoretischen Rahmens. Spätestens seit Justins Logosrezeption müssen zwei kategoriale theoretische Rahmen unterschieden werden: Der biblische, historisch-wirklichkeitsbezogene und der platonische, abstrakt-ideenspekulativorientierte. Die beiden sind unvereinbar.

4 Das Konzil von Nizäa als Imperialisierung des platonisierten Christentums und dessen Thermidor

Die Reich-Gottes-Bewegung (John Dominic Crossan) wurde im Imperium Romanum als atheistische und staatgefährdende zeitweise blutig verfolgt und war eine unerlaubte religio illicita. Galerius stellte 311 die Verfolgung der Christen ein. Das Christentum wurde eine erlaubte religio licita. Den entscheidenden Sieg über seinen Rivalen Maxentius in der Schlacht an der Milvischen Brücke im Jahr 312 errang Konstantin seines Erachtens im Zeichen des Kreuzes und des Christusmonogramms. Standen diese ursprünglich für den vom Imperium als Rebell Gekreuzigten, wurden sie jetzt zu Zeichen, in denen der Imperator seine Macht festigte. Der Exponen

Konzil von Nicäa (325): Kaiser Konstantin entrollt den Text des Nicäno-Konstantinopolitanum, wie es auf dem ersten Konzil von Konstantinopel (381) umformuliert wurde

t des Imperiums eignete sich das Zeichen von dessen Opfer an. Mehr Verkehrung geht nicht. Das Mailänderprotokoll von Konstantin und Licinius sagte den ChristInnen 313 die freie Ausübung ihrer Religion zu. Danach trieb Konstantin die Christianisierung des Reiches entscheidend durch die Sonntagsgesetze von 321 voran. In problematischer Weise übernahm das Christentum den Platz und die Funktion der römischen Staatsreligion. Das Gedächtnis des von der Pax Romana Verworfenen stand jetzt im Dienst der religiösen Stabilisierung des Imperiums. Der zentrale Ort christlicher Präsenz war nicht mehr die messianische Nachfolgepraxis, sondern der religiöse Kult (Franz Schupp). Die Verkultung des Glaubens war eine Abkehr von Jesus, der das Heil entsakralisiert hatte (Joseph Moingt) und widersprach dem Reich-Gottes-Verständnis, das mit keinem Element einer traditionellen Religion wie Bekenntnis, Kult, priesterliche Vermittlung oder Trennungen von sakral/profan bzw. rein/unrein verbunden war. Der in der Gerichtsrede des Matthäus (vgl. Mt 25,31-44) bezeugte viktimozentrische Humanismus der Praxis (Urs Eigenmann) wurde zur Reichsreligion verkehrt. Wenden wir uns nach dieser historischen Skizze dem Konzil von Nizäa zu, das «als erstes ökumenisches Konzil zu welthistorischer Bedeutung» (Hartwin Brandt) gelangte. Nach Justin und den alexandrinischen Theologen Klemens und Origenes kam es zum «trinitätstheologischen Streit des vierten Jahrhunderts» (Charles Pietri/Christoph Markschies). Zentrale Akteure waren auf der einen Seite der Presbyter Arius, der die «Wesensgleichheit und Wesensgleichrangigkeit zwischen Gottvater und Gottessohn» bestritt und auf der anderen Seite zunächst Bischof Alexander von Alexandrien und ab 328 dessen Nachfolger Athanasius, die sie bejahten. Angesichts «der Schärfe der Auseinandersetzung» (Charles Pietri/Christoph Markschies) berief Kaiser Konstantin 325 das Konzil von Nizäa ein. Als Bischof aller Untertanen eröffnete er es und promulgierte seine Beschlüsse zu Reichsgesetzen (Josef Wohlmuth). Mehr Einheit von Imperium und Kirche geht nicht. «Die Christianisierung des Imperiums war in Wirklichkeit eine Imperialisierung des Christentums» und dessen «Thermidor» (Franz Hinkelammert).

5 Das nizänische Credo als personalistische Begrenzung des Glaubens mit einer tragischen Seite

Das Konzil von Nizäa verabschiedete ein Glaubensbekenntnis, im Folgenden Nizänum genannt, dem «der Charakter einer dogmatischen Definition zukommt» (Karl Baus/Eugen Ewig) und das «nizänische Christentum» (Daniel Boyarin) begründete. Im Licht der Bibel als norma normans non normata für den Glaube und die Theologie zeigt sich: Das Nizänum bekennt mit dem «einen Gott, Vater, Allherrscher, Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren» nicht den biblisch bezeugten Gott. Dieser offenbarte angesichts des Elends, der Klagen und des Leids seines Volkes in Ägypten seine solidarische Wo- und seine befreiende und beauftragende Wie-Identität. Er stieg herab, um das Volk der Hand der Ägypter zu entreissen und es in ein schönes Land hinaufzuführen (vgl. Ex 3,7 f.), sandte Mose zum Pharao und trug ihm auf, sein Volk aus Ägypten herauszuführen (vgl. Ex 3,10). Die Namensoffenbarung Jahwes in Ex 3,14 «Ich werde da sein, als der ich da sein werde» (Übersetzung Martin Buber) darf nicht losgelöst von den vorangehenden Versen ontologisierend missverstanden werden. Im Namen des Exodusgottes wurden religiös-bekenntnisbezogene Gebote und ethisch-handlungsrelevante Verpflichtungen formuliert (vgl. Ex 20-22). Der Gott des Nizänums steht nicht auf der Seite der Unterdrückten, Hungernden, Gefangenen, Blinden, Gebeugten, Fremden, Waisen und Witwen (vgl. Ps 146, 7-9). Er ist ein Gott der Philosophen und nicht der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs (Blaise Pascal). Das Nizänum bekennt mit dem «einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, geboren aus dem Vater als Einziggeborener, […] wesensgleich mit dem Vater, […] der Fleisch wurde und Mensch, gelitten hat und auferstanden ist am dritten Tag, aufgestiegen ist und in die Himmel kommt, zu richten Lebende und Tote» nicht den Jesus von Nazaret der Evangelien. Dieser kündigte das nahe gekommene Reich Gottes an, forderte zur Umkehr und zum Glauben an das Evangelium auf (vgl. Mk 1,14 f.), rief JüngerInnen in seine Nachfolge (vgl. Mk 1,16 par), sandte sie aus, das Reich Gottes zu verkünden und Kranke zu heilen (vgl. Lk 9,2) und lud die Seinen ein, zuerst das Reich Gottes und dessen Gerechtigkeit zu suchen (vgl. Mt 6,33). Das Bekenntnis zu einem Gott ohne die mit dem Glauben an den Gott des Exodus verbundenen Verpflichtungen und zu einem Jesus Christus ohne Reich-Gottes-Bezug und Einladung zu seiner Nachfolge ist eine «personalistische Begrenzung des Glaubens» (Jon Sobrino). Es ist «billige Gnade als Gnade ohne Nachfolge» (Dietrich Bonhoeffer). Das hatte zur Folge, dass der christliche Glaube Jahrhunderte hindurch nicht gegen Verhältnisse protestierte, die unvereinbar mit dem Reich Gottes sind. Im Zusammenhang mit der von Papst Alexander VI. in der Bulle Inter Caetera vom 4. Mai 1493 im Namen des orthodoxen Glaubens legitimierten gewaltsamen Ausbreitung des Christentums in den neuen Ländern ist von «Nizäa als Tragödie» bzw. der «’tragischen Seite’ von Nizäa» (Steven Battin) die Rede. «Wenn Nizäa so zentral für die Glaubensidentität ist, warum scheint es dann kein Potential für motivierende Interventionen gegen Gräueltaten in der gesamten christlichen Geschichte und insbesondere gegen die Gräueltaten des Kolonialismus […] [wie] Ausbeutung, Versklavung und physischen und kulturellen Völkermord [zu haben]» (Steven Battin)? Die theologische Problematik des Nizänums zeigt sich auch in Bezug auf das theologische Axiom des Zusammenhangs von Gebetsgesetz (lex orandi) und Glaubensgesetz (lex credendi), wonach die «Regel des Betens die Regel des Glaubens bestimme» (LThK3, Bd. 6, Sp. 871); denn unter der wohl zu unterstellenden Voraussetzung, dass die Konzilsväter von Nizäa das Vaterunser mit der zentralen Bitte um das Kommen des Reiches Gottes gebetet haben, dieses Reich Gottes aber im Nizänum und in allen folgenden Konzilien bis und mit dem Vatikanum I nicht einmal erwähnt wird, entspricht die lex credendi des Nizänums ohne Reich Gottes nicht der lex orandi im Vaterunser mit dem Reich Gottes.

6 Das Nizänum als Begründung einer idolatriekompatiblen Orthodoxie

Mit dem Aufweis der «personalistischen Begrenzung des Glaubens» als «Tragödie von Nizäa» ist die theologische Analyse des Nizänums noch nicht bis zum innersten Kern vorgestossen. Soll wirklich die Heilige Schrift die Seele der Theologie und die Bibel die norma normans non normata sein, muss ein zentrales Moment des kategorialen theoretischen Rahmens der Bibel in die Reflexion einbezogen werden, das dem griechischen Denken allerdings völlig fremd ist. Gemeint ist der Götzendienst bzw. die Idolatrie. In der Bibel besteht der zentrale Gegensatz zum Glauben an Gott nicht in der Leugnung seiner Existenz. Nicht um Theismus oder Atheismus geht es. Vielmehr steht biblisch in striktem Gegensatz zum Glauben an den Gott des Lebens die Duldung oder Verehrung von Götzen des Todes. «In der Bibel begegnen uns zwei grundlegende Formen der Idolatrie: Idolatrie durch Verkehrung und Idolatrie durch Ersetzung» (Pablo Richard). Idolatrie durch Substitution wird von den Propheten Jesaja und Jeremia beschrieben (vgl. Jes 44,9-19; Jer 10,1-5) und ist in weisheitlichen Texten bezeugt (vgl. Ps 115,4-8; Weish 13-14). Götzendienst durch Ersetzung besteht darin, von Menschen geschnitzte oder gegossene Figuren anzubeten. Idolatrie durch Inversion geschieht in der Anbetung des goldenen Kalbes (vgl. Ex 32). Es ist ein Götzendienst innerhalb des Glaubens an Jahwe. «Das goldene Kalb wird nicht als ein ‘anderer Gott’ dargestellt auch will man mit dieser Statue nicht Jahwe bildhaft darstellen» (Pablo Richard). Es geht nicht um einen «anderen Gott», sondern um «Gott anders». «Das Volk will nicht mehr dem befreienden Gott nachfolgen, es fordert vielmehr, dass er sein Volk in seiner Unterdrückung begleitet» (Pablo Richard). Gott soll sein Volk nicht befreien, sondern in der Unterdrückung trösten. «Die Verehrung eines solchen Tröster-Gottes ist Götzendienst» (Pablo Richard). Im Nizänum geht es um Idolatrie durch Inversion. Wie oben gezeigt, vertritt es eine als «tragische Seite» qualifizierte «personalistische Begrenzung des Glaubens». Wenn als Folge davon kritisiert wird, dass damit Verhältnisse toleriert wurden, die nicht dem Reich Gottes entsprechen (Jon Sobrino) oder eine genozidale Praxis ermöglicht hat (Steven Battin), kann dies nur mit der biblischen Kategorie der Idolatrie durch Inversion theologisch adäquat qualifiziert werden. Die Erkenntnis, dass «das Christentum die vielleicht einzige Weltreligion [ist], deren Orthodoxie sich bestimmt durch die Negation ihrer eigenen Ursprünge» (Franz Hinkelammert) kann theologisch so präzisiert werden, dass diese Negation spätestens seit dem Konzil von Nizäa durch die Formulierung einer idolatriekompatiblen Orthodoxie erfolgte. Vor diesem Hintergrund muss auch die Formulierung im Nizänum, Jesus Christus sei wesensgleich (homoousios) mit dem Vater verstanden werden. Der griechische und nicht biblische Begriff wurde wohl auf Anordnung des ungetauften Kaisers eingefügt. Er ist Moment der personalistischen Begrenzung des Glaubens bzw. der Tragödie von Nizäa. Damit ist er auch Moment von dessen idolatriekompatiblen Orthodoxie. Er steht ausserhalb bzw. gegen den kategorialen theoretischen Rahmen biblischen Denkens und impliziert eine «Göttlichkeit Christi», auf die hin die Erzählungen der Evangelien und die Verkündigung der Apostel nicht ausgerichtet waren (Joseph Moingt/Jon Sobrino). Vor diesem Hintergrund ist das Nizänum der Gründungstext eines lehramtlichen Denkkollektivs mit einem idolatriekompatiblen Denkstil. Zu den verheerenden Folgen von Nizäa gehört für die Juden ihre Diffamierung, wenn in einem Brief des Konzilsvorsitzenden die Rede vom «verhassten Judenpack» ist (Klaus Martin Girardet). Die Ablehnung der Juden wurde zu deren Vernichtung radikalisiert, indem der Kreuzestod Jesu uminterpretiert wurde. War dieser für seine Jüngerinnen und Jünger ein Gründungsmartyrium, das sie ermutigte, Jesus nachzufolgen, wurde sie für das Bündnis von Kirche und Imperium zum Gründungsmord, der begründete, die vermeintlichen Gottesmörder und deren Nachkommen zu ermorden (Franz Hinkelammert). Der christliche Antijudaismus ist eine Folge der Konstantinischen Wende und mitverantwortlich für die Shoah und die bis heute anhaltende Diskriminierung von Jüdinnen und Juden. Erst die Erklärung Nostra aetate des Vatikanum II sagte jeder Form von Antijudaismus ab. Nach dem Konzil von Nizäa gingen die theologischen Debatten weiter. Auf dem von Kaiser Theodosius auf das Jahr 381 einberufenen Ersten Konzil von Konstantinopel wurde in dessen «Symbol der 150 Väter von Konstantinopel» der «göttliche Charakter auch für den Heiligen Geist in Anspruch genommen» (Karl Baus/Eugen Ewig) und damit die Lehre vom dreieinen Gott verbindlich formuliert. Sie gilt als «das entscheidend und unterscheidend Christliche» (Jürgen Werbick) und «als das ’Zentralmysterium des Christentums’, [obwohl] […] die Heilige Schrift des Neuen Testaments ein Dogma oder eine explizite Lehre von der Trinität nicht kennt, auch wenn man in ihr den ‘Wurzelgrund’ für das Dogma suchen muss» (Franz Josef Schierse). Vor diesem Hintergrund wird die Einschätzung verständlich, wonach das christologische (und theologische) Denken spätestens seit dem Konzil von Nizäa darin bestand, «eine theologische Vernunft zu pflegen und auf eine bestimmte Weise zu argumentieren, die im Wesentlichen von den Anforderungen eines Denkens bestimmt ist, das von Mal zu Mal mehr sich selbst zum Gegenstand hat» (Jon Sobrino).

7 Innere Zerrissenheit des Christentums bis in die Gegenwart hinein

In den ersten Jahrhunderten entwickelte die Reich-Gottes-Bewegung nacheinander zwei unterschiedliche Selbstverständnisse. Zunächst ein skriptural-bibelbezogenes durch die Festlegung des Kanons der biblischen Schriften. Danach mit Beginn auf dem Konzil von Nizäa ein magisterial-dogmatisches. Spätestens seit der Konstantinischen Wende und dem Konzil von Nizäa muss zwischen einem prophetisch-messianischen, am kategorialen Rahmen der Bibel orientierten Christentum und einer lehramtlichen, dem kategorialen Rahmen griechischer Philosophie verpflichteten imperial-idolatriekompatiblen Christenheit unterschieden werden (Urs Eigenmann). Dieser Unterscheidung entsprechen jene von echtem und entstelltem Christentum (Ernst Bloch) bzw. von befreiender und dekorativer Theologie (Franz Hinkelammert). Dass die «Christianisierung des Imperiums in Wirklichkeit eine Imperialisierung des Christentums ist», zeigte sich in einem kaiserlichen Edikt von 333, in dem den Besitzern von Schriften Andersgläubiger die Todesstrafe angedroht wurde (Klaus Martin Girardet). Fünf Jahre nach der Etablierung des Christentums zur Staatsreligion durch Kaiser Theodosius wurde im Jahr 385 in Trier ein Prozess gegen den kirchenkritisch-aszetischen Bischof Priszillian aus Spanien und dessen Anhänger geführt. Sie wurden trotz des Protestes der Bischöfe Martin von Tours und Ambrosius von Mailand wegen Magie zum Tod verurteilt und hingerichtet. Zum ersten Mal wurden Christen nicht mehr von heidnischen Römern exekutiert, sondern jetzt liessen Christen Christen ermorden. Von da an zog sich eine blutige Spur durch die ganze Geschichte aller Konfessionen. Erinnert sie hier nur an zwei von der Kirche Heiliggesprochene. Der Kreuzzugsprediger Bernhard von Clairvaux erklärte: «Ein Ritter Christ […] tötet mit gutem Gewissen, noch ruhiger stirbt er. Wenn er stirbt, nützt er sich selbst; wenn er tötet, nützt er Christus. […] Der Tod, den er verursacht, ist Christi Gewinn; wenn er ihn erleidet, sein eigener.» Der Kontroverstheologe und Jesuit Robert Bellarmin rechtfertigte die Verbrennung von Häretikern. Bis in unsere Gegenwart hinein ist das Christentum zerrissen: In der römisch-katholischen Kirche zeigt sich dies auf höchster hierarchischer Ebene. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. stellte 2007 im ersten Teil von Jesus von Nazareth zunächst fest: «Der zentrale Inhalt des ‘Evangeliums’ lautet: Das Reich Gottes ist nahe.» Dann aber erklärte er: «Jesus verkündet […] ganz einfach Gott […].[[…] Er sagt uns: Gott gibt es.» Ratzinger/Benedikt XVI. nahm damit eine idolatriekompatible «personalistische Begrenzung des Glaubens» vor. Er ging aber noch einen Schritt weiter, indem er der «Regno-Zentrik» eine beunruhigende Nähe zur dritten Versuchung Jesu (vgl. Mt 4,8-10) unterstellte. Er zitierte den Text aus Matthäus aber nicht, sondern paraphrasierte ihn bloss, drehte dabei aber dessen Sinn um. Bei Matthäus bietet der diabolos Jesus «alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht» an. Jesu Antwort: «Weg mit dir, Satan». Für Ratzinger meint das Angebot des Teufels aber «die ganze Erde in einem grossen Reich des Friedens und des Wohlstands vereinigt». Der Name des Teufels mit diesem Angebot von Frieden und Wohlstand ist nicht Satan, sondern Luzifer. Luzifer war in der alten Kirche ein Taufname, ein Kirchenpatron in Cagliari und der Name eines dortigen Bischofs. Spätestens im 10. Jahrhundert ist Luzifer als Teufel im Zusammenhang mit dem Vorwurf, Johannes XII. habe es mit diesem getrieben, die Rede (Daniel-Rops). Zum besseren Verständnis der Unterscheidung: Satan heisst der Teufel der Armen, da dieser für den Erhalt der Welt steht, unter der sie leiden. Luzifer heisst der Teufel der Reichen, da er für eine Veränderung der Welt steht, von der sie profitieren. Demgegenüber erklärte Papst Franziskus in seinem programmatischen apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium von 2013: «Aus der Lektüre der Schrift geht […] klar hervor, dass das Angebot des Evangeliums nicht nur in einer persönlichen Beziehung zu Gott besteht. [… Das Angebot ist das Reich Gottes (vgl. Lk 4,43). […] Suchen wir sein Reich: ‘Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen […]’ (Mt 6,33). Der Plan Jesu besteht darin, das Reich seines Vaters zu errichten; er verlangt von seinen Jüngern: ‘Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe’ (Mt 10,7) (EG 180, Hervorhebungen im Original). In diesem Sinn bedeutet für Franziskus «Evangelisieren […] das Reich Gottes in der Welt gegenwärtig machen» (EG 176). Weiter führte er aus: «Es genügt, in der Heiligen Schrift zu blättern, um zu entdecken, wie der gute himmlische Vater auf den Schrei der Armen hören möchte – ‘Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Lied. Ich bin herabgestiegen, um sie zu befreien […] und jetzt geh! Ich sende dich’ (Ex 3,7-8)» (EG 187). Mit diesen Ausführungen und Zitaten hat Papst Franziskus Theologiegeschichte geschrieben; denn mit ihnen positionierte er sich als wohl erster Papst in der Geschichte 1688 Jahre nach dem Konzil von Nizäa ausdrücklich gegen die von diesem magisterial festgeschriebene «personalistische Begrenzung des Glaubens» als «tragische Seite von Nizäa» und kehrte zurück zu einer skripturalen, am kategorialen theoretischen Rahmen der Bibel orientierten Theologie. Wenn hier von Theologiegeschichte bewusst im Sinn eines grossen Wortes die Rede ist, erscheint dies insofern gerechtfertigt, als unter dem Stichwort «Gott» in den beiden als repräsentativ geltenden Lexika LThK3 und RGG4 die Stelle Ex 3,7-10 nicht einmal erwähnt wird. Dass sich Papst Franziskus der methodologischen Problematik bewusst war, zeigt der Vergleich der «Enzyklika der vier Hände» Lumen Fidei, deren Text er von Benedikt XVI. übernommen hatte (vgl. LF 7), mit seinen Ausführungen in Evangelii Gaudium. Lumen Fidei behauptet, der «Dialog mit der hellenistischen Kultur [gehört] zum Eigentlichen der Schrift» (LF 29) und «[d]ie Begegnung der Botschaft des Evangeliums mit dem philosophischen Denken der Antike […] begünstigte eine fruchtbare Wechselbeziehung zwischen Glaube und Vernunft» (LF 32). Die methodologische Problematik in der Verbindung von biblischem Denken und griechischer Vernunft wird nicht gesehen. Vor diesem Hintergrund sind die Ausführungen von Papst Franziskus in Evangelii Gaudium zu lesen. Darin stellt er fest, dass «das Christentum […] nicht über ein einziges kulturelles Modell [verfügt]» (EG 116) und erklärt: «Es würde der Logik der Inkarnation nicht gerecht, an ein monokulturelles und eintöniges Christentum zu denken» (EG 117). «Wir können nicht verlangen, dass alle Völker aller Kontinente in ihrem Ausdruck des christlichen Glaubens die Modalitäten nachahmen, die die europäischen Völker zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte angenommen haben, denn der Glaube kann nicht in die Grenzen des Verständnisses und der Ausdrucksweise einer besonderen Kultur eingeschlossen werden» (EG 118). Mit diesen methodologischen Reflexionen erweist sich Papst Franziskus als ein Theologe von Format. In den Kirchen der Orthodoxie vertreten mit Kyrill von Moskau und Bartholomaios von Konstantinopel ebenfalls auf höchster hierarchischer Ebene zwei Patriarchen gegensätzliche Positionen angesichts von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Anlässlich eines Jahrestages der Krimannexion zitierte Putin vor laufender Kamera in idolatrischer Weise aus dem Johannesevangelium: «Es gibt keine grössere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt» (Joh 15,13). Demgegenüber bezeichnen in der 2022 veröffentlichten «Erklärung zur Lehre von der ‘Russischen Welt’ (Ruskij Mir)» orthodoxe Theologen die von Putin und Kyrill als Hauptbegründung angeführte Lehre von der «’Russischen-Welt’-Ideologie» als «falsch, abscheulich und unchristlich». Wird sie befolgt, «hört die orthodoxe Kirche auf, die Kirche des Evangeliums Jesu Christi […] zu sein». In christlichen Denominationen der USA stehen sich in Bezug auf Donald Trump die Positionen des Reverend Lorenzo Semell, der Trumps Politik befürwortet, und jene der Bischöfin Mariann Edgar Budde gegenüber, die Trump nach dessen Amtsübernahme ins Gewissen redete. Budde hatte bereits vor der Wahl von Trump dessen Benutzung der «Bibel […] für eine Botschaft, die völlig im Gegensatz zu den Lehren Jesu steht,» als «frevelhaft» bezeichnet. Unter Trump kommt ein «christlicher Nationalismus an die Macht», der massgeblich vom Juristen Russell Vought formuliert wird, dem Direktor der Budgetbehörde (Sebastian Moll). Für den schwarzen Theologe William Barber vertreten die christlichen Nationalisten eine «Perversion des christlichen Glaubens», weil sie «Hass und Gewalt an die Stelle von Nächstenliebe und Mitgefühl» setzen. In diesem Sinn hat Papst Franziskus in einem Brief an die US-amerikanischen Bischöfe unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Buch Exodus «den Beginn eines Programms zur Massenabschiebung» als Krise bezeichnet, die «die Würde vieler Männer, Frauen und ganzer Familien» verletzt. Seines Erachtens dient es dem Gemeinwohl, wenn ein konsequenter Rechtsstaat für die «Schwächsten, Schutzbedürftigsten und Verletzlichsten» eintritt.

Schluss

Wir leben in einer Welt globalisierten Götzendienstes der Verkehrung und der Ersetzung. Die sich idolatrisch auf Gott berufende Pax Americana steht der sich idolatrisch christlich nennenden Pax Russica gegenüber. Beide sind zusammen mit der ganzen übrigen Welt Konkurrenten der kommunistischen Pax Sinica. Alle aber sind eigebunden in die Pax Capitalistica mit einem – gemäss Papst Franziskus – «Fetischismus des Geldes» (EG 55) und einer «Wirtschaft der Ausschliessung, [die] tötet» (EG 53). Angesichts dieser Idolatrien aber schweigt die in Nizäa begründete Orthodoxie, weil ihr kategorialer theoretischer Rahmen die Idolatrie nicht kennt. Das ist die tragische Seite der «welthistorischen Bedeutung» des Konzils von Nizäa. Literaturhinweise: Urs Eigenmann/Kuno Füssel/Franz J. Hinkelammert (Hrsg.), Der himmlische Kern des Irdischen. Das Christentum als pauperozentrischer Humanismus der Praxis, Luzern 2019, 22025; Jon Sobrino, Exkurs Das Christentum in der griechisch-römischen Welt, in: ders., Der Glaube an Jesus Christus. Eine Christologie aus der Perspektive der Opfer, Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Knut Wenzel, Übersetzt von Knut Wenzel, Ostfildern 2008, 363-386; Steven Battin, Nizäa als Symbol des Glaubens und Symbol der Tragödie?, in: Concilium 61 (2025) 95-102. Das Buch ist bestellbar unter: buecher@itpol.de