Der Schrei nach Gerechtigkeit – Oder: Die WM in Südafrika

Zur Zeit findet zum ersten Mal eine Fußballweltmeisterschaft auf dem Afrikanischen Kontinent statt. Viele Menschen erhoffen sich davon, dass sich nicht nur die Berichterstattung über den Kontinent verändert, sondern dass dieses Großereignis auch soziale Verbesserungen für die Menschen mit sich bringt. Roswith Gerloff hat uns dazu einen Kommentar zur Verfügung gestellt, den sie ursprünglich für www.die-kirche.de geschrieben hat. Herzlichen Dank.

Südafrika ist reich – reich im Sinne der Vielfalt an Menschen, Landschaften, Sprachen, Kulturen, Religionen, in der Tier- und Pflanzenwelt. Südafrika ist aber auch verarmt, weil die Apartheidpolitik einer weißen Oberschicht diese Vielfalt verachtete und zu zerstören suchte. Desmond Tutu, südafrikanischer anglikanischer Bischof und Friedensnobelpreisträger, hat kürzlich vom immer noch spürbaren „Unheil“ dieses Erbes gesprochen, das die Mehrheit der Bürger zu Gefangenen im eigenen Land macht. Und der verstorbene südafrikanische Widerstandstheologe Wolfram Kistner hat Südafrika mit dem Volk Israel verglichen, das von Fron und Ungerechtigkeit befreit durch die Wüste wandert, aber „Ägypten“ noch immer in Herzen und Hirnen trägt – die „Fleischtöpfe“ so wie fortdauernde Gewalttätigkeit, Korruption und Ausgrenzung.

Die Fußballweltmeisterschaft 2010, die ab 11. Juni nicht nur Afrika, sondern die Völker der Erde in Atem halten wird, ist ein Symbol solchen ungelösten Widerspruchs. 20 Jahre nach der Freilassung Nelson Mandelas und 16 Jahre nach den ersten freien Wahlen (und der Verabschiedung einer der liberalsten Verfassungen der Erde), erfüllt sich für viele Afrikaner ein Traum. Endlich berichten die Medien nicht nur von Konflikten, Elend, HIV/Aids und Gewaltverbrechen, sondern rücken Stolz, Teamgeist, körperliche Ertüchtigung, das Zusammenspiel aller Hautfarben, Gewinnchancen, Gastfreundschaft und vor allem Begeisterung ins Scheinwerferlicht.

Die Jungen kicken den Ball und sogar Großmütter in den Dörfern üben sich in der Meisterschaft. Entgegen jeder Warnung sind rechtzeitig zehn Stadien – davon die Hälfte Neubauten – fertiggestellt, Straßen gebaut, Transportsysteme erweitert, kostenlose Tickets an die Bauarbeiter verteilt. Die Touristenbranche rüstet sich für den Empfang von bis zu einer halben Million von Besuchern.

In Zahlen: Das vorgesehene Budget der WM beläuft sich auf 3.5 Milliarden, das, wie die Regierung hofft, das wirtschaftliche Wachstum ankurbelt, neue Arbeitsplätze schafft, technologische Errungenschaften fördert und die Infrastruktur verbessert. Davon belaufen sich die Kosten für Renovierung und Neubauten auf etwa ein Drittel, davon allein 300 Millionen für das Soccer City Stadium, Schauplatz des Endspiels. 200 Millionen sind für die Sicherheit, den Kauf von Helikoptern, Wasserwerfern und Notzellen und die Gehälter von 41000 Polizisten, einschließlich Armee und Interpol, veranschlagt. Über 3 Millionen wurden ausgegeben, um Notunterkünfte einzurichten, um Platz zu schaffen und den internationalen Gästen ein „sauberes“ Gelände zu präsentieren. Doch streikten schon im letzten Jahr 70000 Baurarbeiter, weil viele nur 5 Dollar in der Woche verdienten.

Schon jetzt sind aber ungelernte Arbeiter erneut arbeitslos. Nach den strengen FIFA-Regeln können kleine Unternehmer nicht in der Nähe von Stadien und Parks ihr Gewerbe betreiben, dürfen die „Shebeen“, die Ausschankstätten in den Townships, nicht für sich werben. Die offizielle Politik orientiert sich weniger an der demokratischen Teilhabe aller, sondern am internationalen Werbe-Image. Während eine weiße extremistische Bedrohung unwahrscheinlich ist, gefährden organisiertes Verbrechen, Menschenhandel, Drogen, Umweltschäden, Verkauf junger Frauen in die Prostitution und die erhöhte Infektionsgefahr das Fest. Auch kann erneut Fremdenhass entstehen, wenn Illegale aus ärmeren Ländern bleiben und Ressourcen des Landes beanspruchen.

Wem also gehört die WM? Wer zieht den eigentlichen Nutzen? Die Benachteiligten, Arbeitslosen, Kranken und Ungeschulten? Oder die FIFA und eine kleine aber mächtige Elite, weiß und schwarz, die Menschen in Townships und ländlichen Bezirken ausgrenzt und benachteiligt? Ist es gerecht, Unsummen zu verschleudern, welche die allgemeine Lebensqualität nicht verbessern und die Kluft zwischen Arm und Reich noch vertiefen? Was geschieht mit den neuen Megabauten, die vielleicht nur halb genutzt zu „weißen Elefanten“ werden?

Die größte Herausforderung ist die Landfrage, weil in Vorbereitung auf die WM Menschen mehr als unter der Apartheid aus ihren Wohnstätten vertrieben, ihrer Rechte beraubt und in Notbehelfen (shackle settlements) nahe der Autobahnen untergebracht worden sind. Der britische Zeitung „Guardian“ berichtete im April von Blikkiesdorp, einer Notsiedlung im Kap, in die Tausende in unzureichende Unterkünfte verfrachtet wurden, ohne Zugang zu sauberem Wasser, Hygiene, Müllabfuhr, und Straßen.

Thulani Ndlazi vom „Church Land Program“ in Kwa Zulu-Natal spricht vom Versagen der Regierung, die den Rückkauf von Land für die Einheimischen stoppt und Menschenrechtsverletzungen skrupelloser Großgrundbesitzer nicht ahndet. In Babanango auf dem Lande hat sich im April ein ökumenisches soziales Netzwerk gebildet und einen „Nicht-Freiheits-Tag“ deklariert, um gegen die wachsende Verarmung, Unterentwicklung und Enteignung zugunsten von Touristenattraktionen und Reservaten zu protestieren. Dorthin und nach Blikkiesdorp sollten Gäste der WM gebeten werden, um das reale Leben zu sehen, das noch immer von Klasse, Hautfarbe, Geschlecht und Adresse bestimmt wird.

Auf dem Spiel steht das Uranliegen der Bibel – die Gerechtigkeit Gottes für alle Geschöpfe. Tinyiko Maluleke, Präsident des Südafrikanischen Kirchenrates, hat im März in einer Rede vor Mitgliedskirchen, ökumenischen Schwesterorganisationen und Journalisten das Verhältnis von Macht und Ohnmacht angesprochen und sich dabei auf Paulus berufen: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ In einer Situation, sagte er, in der nach der politischen Wende die Kirchen weitgehend einen Rückzug antraten, sich um ihre eigenen Interessen drehten und so den Einfluss auf die Veränderung der Gesellschaft verloren, müssen sich Christen auf ihre ureigenste Berufung besinnen. Sie dürfen weder schweigen noch Erfüllungsgehilfe der offiziellen Politik sein, sondern müssen prophetisch handeln. Abhanden gekommen sei ihnen die Leidenschaft, weil sie die Substanz verloren; sie gebärden sich wie Fußballklubs, die das Fußballspielen verlernt haben. Nelson Mandela sprach von der „Rekonstruktion“, der Wiederherstellung, nicht nur der Wirtschaft, sondern der Seele der Menschen, die nach Gerechtigkeit schreien. Nicht Stadien müssen gefüllt, sondern Geist und Sinn eines Volkes erneuert werden.

Der ANC, Regierungspartei und einst Instrument der Befreiung, wird aufgefordert, die Säuberungsaktivitäten nach den Regeln der FIFA zu beenden „Wir rufen die Regierung, Kommunen, regionale und nationale Instanzen auf, die Armen nicht weiter zu quälen und sie aus dem Blickwinkel der Stadien zu entfernen“, sagt Dr. Maluleke vom Südafrikanischen Kirchenrat. Die WM dürfe nicht nur ein Fest für die FIFA-Familie und die Reichen sein, sondern müsse ein spürbares Erbe hinterlassen, „für die Armen und auch für verletzbare Menschen aus anderen afrikanischen Ländern.“

Ein junger Freund, Mitglied einer charismatischen Gemeinde, machte für die Zeit nach der WM einen Vorschlag: bei künftigen Spielen Videoeinblendungen zu bringen, die den Fans die Realität Südafrikas vor Augen führen: Straßenkinder, „Shackle“-Bewohner, Obdachlose, Aidsopfer – und so die Sportbegeisterten zu barmherzigen Samaritern zu machen.

Wie überall, auch in Deutschland, geht es um soziale Gerechtigkeit. Noch kann die WM ein Zeichen des Widerstandes gegen Ausgrenzung und Verarmung werden, wenn es gelingt, gemeinsam den erhofften Aufschwung zu fördern. Vier Wochen lang wird Südafrika, das sonst oft mit negativen Schlagzeilen in der Welt präsent ist, die Vielfalt seines Landes zeigen und die wiedergewonnene Würde seiner Menschen feiern.

Roswith Gerloff, Pfarrerin im Ruhestand, frühere Dozentin für Schwarze Theologie, gründete u.a. das „Centre for Black and White Christian Partnership“ in Birmingham. Sie hat im Oktober 2009 am vom ITP mitorganisierten Kongress „Crossroads“ mitgewirkt. Zum dazu gerade erschienene Buch „Gerechtigkeit und Pfingsten“ trug sie einen Artikel über die Entstehung pentekostaler Kirchen bei.