Tagesseminar am 17.11.2001 von 10-16 Uhr im Institut für Theologie und Politik
Ricarda Koschick
Seit Ende letzten Jahres trifft sich im ITP eine Arbeitsgruppe Religionsunterricht,die sich mit Problemen desaströser Bildungspolitik und spezifischen Fragen von Religionsunterricht beschäftigt. Dieser Test ist das Protokoll des ersten Treffens.Den gemeinsamen Auseinandersetzungen zur Situation des Religionsunterrichts wurden folgende Thesen vorangestellt, die sich am besten mit dem Verb “sich um etwas herumdrücken“ einfangen lassen bzw. mit der Wendung “das Schielen nach was Anderem“:
Der RU drückt sich um das Christentum herum und schielt ins vermeintliche Leben.
Schaue ich mir die Gesamtschullehrpläne und Schulbücher an, so entdecke ich vielleicht noch in der Unterstufe (das heißt 5 und 6) Themen wie “ Abraham“ “David“ oder die Gleichnisse, aber spätestens in der Mittelstufe treffe ich auf Drogen, Liebe und Freundschaft, etc. – Themen, die eher einem Sozialkundeunterricht zugeordnet werden sollten.
Ich meine aber immer noch, dass katholischer oder evangelischer Religionsunterricht auch nach der Unterstufe und nicht erst in der Oberstufe nicht um biblische Bezüge herumkommt.
Was bedeutet es für eine Schriftreligion, und das ist das Christentum, wenn ihr die biblischen Schriften abhanden kommen?
Der RU drückt sich um die Bibel herum und schielt auf literarische und andere Texte.
Nehme ich beispielsweise das kürzlich auf dem Büchermarkt erschienene “Spurenlesen“ für den 5 und 6 Jahrgang unter die Lupe, dann entdecke ich auf den ersten Blick wichtige und richtige Themen: Abraham – Verheißung und Bund, Exodus- Weg in die Freiheit oder Starke Frauen: Rut und andere Geschichten. Zentrale biblische Inhalte meine ich erwarten zu können. Die Enttäuschung ist groß, wenn ich mit diesem Lehrbuch arbeiten will:
Die Reihe “Starke Frauen: Rut und andere Geschichten“ beginnt mit einem Auszug aus einem Jugendroman von Judith Kerr, dann ein Zeitungssauschnitt über ein “Vertriebenenschicksal“, dann endlich Rut – und dieser zentrale biblische Text dann in Auszügen, in denen der soziohistorische Kontext mit seiner den Konflikt bestimmenden Länderfeindschaft, weggekürzt wurde. Ich frage mich, was die Schüler und Schülerinnen eigentlich verstehen sollen.
– nur, dass Rut eine starke Frau war?
– nur, dass Rut fleißig war?
Wo bleibt die Arbeit, auch die methodische am biblischen Text?
Hätten wir nicht genug zu tun, wirtschaftliche, soziale und soziale
Bedingungen in verstehbare Sprache herunter zu buchstabieren?
Der RU drückt sich um den radikalen christlichen Gott herum und schielt nach anderen Göttern
In verschiedenen Didaktiken heißt es immer wieder, man müsse zunächst einmal die Sprache der Religionen lernen, um das Christentum zu verstehen. So finde ich Versatzstücke verschiedener Religionen und sehr anschauliches Material.
Was ich aber nicht oder nur am Rand finde: das Christentum mit seinem eigenen, der den Götzenanbetern den Kampf ansagt, den Gott, der aus der Unterdrückung hinausführt. Im Sinne einer großen Beleibigkeit können sich Schüler und Schülerinnen dann aussuchen, welche Religion der angebotenen bzw. welche angebotene Interpretation ihnen zusagt. Wer setzt die Kriterien für die Wahl? Wo sind die Begründungen, die allgemein (auch im Deutschunterricht) nicht mehr gefordert scheinen?
Der Religionsunterricht drückt sich um die “Religion des Geldes/des Kapitals herum und schielt nach der sogenannten Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen und meint damit Cliquen, Mode, usw.
Diese Lebenswelt ist von den Verhältnissen bestimmt, sie werden da hineingeboren und werden wie die Erwachsenen von der Religion des Geldes bestimmt. Sie haben zunächst keine Wahl, gezielt wird ihr Marktwert erhoben und erzogen. Und die Rede von der ausgeprägten Individualisierung, die in Schule und vor allem in traditionellen Unterrichtsformen immer kritisiert wird, zeigt sich meines Erachtens eher als ein hohes Maß an Angepasstsein an verschiedene Dogmen des Marktes.
Ein ermordeter Jesus am Kreuz passt da nicht; ist die Botschaft, dass Zerstörung nicht hingenommen wird und Machtstruktur nicht auch gleich Sachzwang bedeutet nur eine Leerformel? Könnte nicht das “sich herum drücken“ und “das Schielen“ in eine Alphabetisierung in Religion und in eine Alphabetisierung in christlicher Botschaft münden? Traue ich das dem Religionsunterricht zu?
Diesen Thesen stimmten die Teilnehmer so zu, dass man von einem Konsens sprechen kann, der als Ausgangspunkt die weiteren Problemanzeigen in Bezug auf einen heutigen kritischen Religionsunterricht bestimmte. Folgende Problemfelder wurden ermittelt und “brennen auf den Nägeln“:
Die Lebenswelt de Schüler und Schülerinnen:
Der Versuch, die Lebenswelt von Schülern und Schülerinnen sowohl in ihrem Umfeld (Familie, Beruf) als auch in ihrer ideologischen Prägung (Konsumdruck, Schicksalsergebenheit) und ihrer religiösen Verfasstheit (religiös abgeschottet oder Religionsstundenreligiös) her zu beschreiben, wirft die Frage danach auf, inwieweit Schüler und Schülerinnen in der Lage sind, eine ideologiekritische Selbsteinschätzung ihrer selbst zu geben bzw ihr eigenes Problem zu sehen.
Der Beginn der Auseinandersetzung zwischen RL und Schülern und Schülerinnen sollte zunächst eine “Erkundungsreise“ sein, in der die Schüler und Schülerinnen Gelegenheit zur Selbstdarstellung haben. Sie sollen Möglichkeiten bekommen, über sich Auskunft zu geben, ihre Lebenswelt zu benennen.
Feststellen lässt sich, dass die Schule heute immer mehr als Lebenswelt von Schülern und Schülerinnen gesehen wird. Der Religionsunterricht gerät darin aber oft zu einer Alibiveranstaltung, wenn das Thema “Drogen“ beispielsweise allgemein verhandelt wird, die konkreten Fälle an einer Schule beispielsweise nicht als wichtig angesehen werden. Oder zum Thema “Islam“ nur Ideologie angeboten wird (5 Säulen etc.), aber nicht, was real hier und heute ist (Beispiel: Israel). Notwendig ist ein Unterricht, der es ernst meint mit dem, was er sagt und auf Wirklichkeit reagiert.
Im Sinne einer Konfrontation würde das auch bedeuten, dass die defätitistsche Haltung von Schülern und Schülerinnen, gleichermaßen natürlich auch die von Erwachsenen, durchlöchert wird. Es wird immer so getan, als gäbe es zwei unabhängig voneinander existierende Lebenswelten, die der Jugendlichen und die der Erwachsenen, aber letztlich ist es eine, in der alle unter der Proklamation der Zwangsläufigkeiten und der vermeintlichen Sachzwänge des Marktes stehen. Denn unabhängig vom Alter, wird sowohl ein Grundschüler als auch ein ein 35-jähriger Bäckermeister, gefragt nach ihrer Zugehörigkeit, sich zunächst als Deutscher und Dülmener beschreiben, der Kind seiner Eltern ist und gut Fußball spielt. Neben dem christlichen Gott kennt er noch ein paar andere Götter und Gebete seien für ihn überflüssig, weil sie nichts brächten. Floskelhafte Auskünfte, die ebenso beliebig wie wenig anstössig sind. Religiöse Identitäten sind heute selten, wenn dann versteckt.
Widersprüche gibt es zahlreiche und die sichtbar zu machen, könnte Ziel einer konfrontativen Didaktik des Religionsunterricht sein. Wenn es um Überlegungen geht, wie man beispielsweise nach dem Verlust eines Arbeitsplatzes damit umgehen kann, gab es die Beobachtung, dass Schüler und Schülerinnen diese Widersprüche nicht mitgehen und eher von dem Lehrer/der Lehrerin dann Hilfe einfordern mit dem Hinweis, dass sie es ja besser wissen. Diese Strategie der Schüler und Schülerinnen als Projektion zu entlarven, ist notwendig. Denn sie erkennen zwar, aber tun selbst nichts und verlangen von ihrem Gegenüber, dass er Rettung bringt. Kollegen neigen dazu, sich dann dieser Schuldstrategie zu überantworten und selbst hilflos zurückzubleiben.
Dennoch müssen Schüler und Schülerinnen eingeladen werden in andere, alternative Welten. Der Religionslehrer/in kann keine alternativen Arbeitsplätze schaffen, aber über Alternativen reden und über mögliche Alternativen nachdenken, dazu gibt es die Zeit im RU. Modelle können zu Ende gedacht werden, Zukünfte können antizipiert werden, Verantwortung für eine Entscheidung müssen Schüler und Schülerinnen selbst übernehmen. Das kann unter Umständen dann auch bedeuten, eine Antwort auf eine Frage zu verweigern, weil mögliche Alternativen in die Verantwortung des Lehrers gelegt werden. Andererseits kann es auch wieder gut und richtig sein, von sich zu erzählen: Hoffnungs- und Beispielgeschichten oder sich auch mal auf dem “heißen Stuhl“ befragen zu lassen.