Der Aufstand in Chiapas

Von  Norbert Arntz

“Unsere politisch-militärischen Aktionen”, erklärt die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) während des Aufstandes am 6. Januar, “haben das Ziel, dem mexikanischen Volk und aller Welt die elenden Bedingungen bekannt zu machen, unter denen Millionen von Mexikanern, insbesondere die Indigenas, leben und sterben. Zugleich geben wir damit unseren Willen zur Kenntnis, für unsere elementaren Rechte zu kämpfen, und zwar mit dem einzigen Mittel, das uns die Regierungsautoritäten noch gelassen haben, mit dem bewaffneten Kampf. Bisher haben wir auf friedliche Weise alle legalen Mittel und Wege auszuschöpfen versucht, aber ohne Ergebnis. In den vergangenen zehn Jahren sind mehr als 150 000 Schwestern und Brüder an heilbaren Krankheiten gestorben. Die Wirtschafts- und Sozialpläne der verschiedenen Regierungsebenen hatten nicht das Ziel, unsere Probleme wirklich zu lösen. […] Deshalb sind wir davon überzeugt: So kann es nicht weitergehen. Schluß mit dem unnützen Sterben! Besser ist es, darum zu kämpfen, daß sich etwas ändert. Wenn wir dabei den Tod finden, sterben wir nicht unbeachtet und still, sondern würdevoll wie unsere Vorfahren.” […] Das EZLN unterscheidet sich wesentlich von früheren Aufstandsbewegungen in Lateinamerika und gewinnt dadurch einen eigenen Charakter. Einerseits stellt es sich ausdrücklich in die indianische Tradition; andererseits greift es die nationale Tradition von Emiliano Zapata auf, dem stärksten Symbol der mexikanischen Revolution von 1911. Schließlich verbindet es diese Traditionen mit den Forderungen der Moderne. Würde, Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie und Frieden sind die fünf Grundforderungen der Zapatisten.

Würde:

Armut und Elend fördern eher Verzweifelung und Resignation als Organisation und Aufstand. Aber bei der zapatistischen Bewegung handelt es sich um eine durchdachte organisierte Auflehung von Bauern und Indigenas verschiedener Völker. Frauen, Männer und Jugendliche trafen gemeinsam – in der “comunidad” der Dorfgemeinde – die Entscheidung, für die Anerkennung ihrer Würde zu kämpfen und diese Würde als Ursprung für Freiheit und Leben zu betrachten. […]

Gerechtigkeit:

[…] Bei den Verhandlungen in der Kathedrale von San Cristobal de las Casas begründete einer der Delegierten des Geheimen Revolutionsrates der Indigena, Juan, ein Indio aus dem Volk der Tojolobal, die Kriegshandlungen: “Über so viele Jahrhunderte haben wir gelitten … Vor allem brauchen wir unser eigenes Land.” Die indianischen Völker verstehen sich als Töchter und Söhne der Erde. Ohne die Mutter Erde gibt es für sie kein Leben. Land haben heißt frei leben können, Lebens -Mittel haben, Leben gestalten. “Wann immer wir das Land besetzten, vertrieben sie uns mit Gewalt. Denn die Großgrundbesitzer haben sich stets organisiert, um zu unterdrücken, auszubeuten und zu töten. Die Arbeitgeber zahlen Hungerlöhne, manchmal entlohnen sie uns nur mit einem Schnaps. Sie haben jene Indigenas, die ihre Rechte beanspruchten, ‘verschwinden’ oder ins Gefängnis stecken lassen. Weil die Ungerechtigkeit nicht mehr zu ertragen ist, haben wir zu den Waffen gegriffen. Wir hatten keine andere Wahl. Viele Jugendliche, 14- und 15jährige, sind dabei, weil sie von Kind auf das Elend, die Demütigungen, das Unrecht erlitten haben. Ob sie im Kampf sterben oder nicht, das ist ihnen nicht so wichtig, weil sie wissen, wenn sie nicht kämpfen, sterben sie an Unterernährung, an Cholera oder an anderen heilbaren Krankheiten.” […] Freiheit: In seiner Eröffnungsrede zu Beginn der Friedensverhandlungen erklärt Marcos: “Warum müssen wir sterben und töten, nur damit ein paar wenige, aber ehrliche Worte nicht überhört werden? … Wir setzen unser Leben nicht leichtfertig aufs Spiel. Wir wollen keine Macht, nicht einmal die einer Stadtverwaltung … Das einzige, was wir verlangen: Daß man uns nicht umbringt, daß wir leben können wie die anderen in diesem Land.” […]

Demokratie:

[…] Die zapatistische Bewegung hält der Moderne den Spiegel vor, indem sie zu praktizieren fordert, was die Moderne von Beginn an selbst reklamiert hat: Den Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung und Ausbeutung in feudalen Restbeständen auf dem Lande; die Demokratisierung unter Rückgriff auf ursprüngliche Forderungen der liberalen Tradition; die Gleichberechtigungsfrage zwischen Männern und Frauen mit Verweis auf die gleichen Rechte der Frauen auf dem Lande; die nationale Eigenständigkeit in Gegnerschaft gegen das Freihandelsabkommen mit Nordamerika. Zugleich demonstriert die zapatistische Bewegung, was sie mit Bewegungen anderenorts in Lateinamerika gemeinsam hat: die Ablehnung einer Einheitspartei als Führungskraft der Veränderung (“Avantgardismus”); die Erwartungen an eine starke Zivilgesellschaft; die Wiedererrichtung einer Demokratie mit Pluralismus, Mitbestimmung in allen Bereichen und fairen Wahlen. […]

Frieden:

Die bewaffnete Rebellion ist nicht militaristisch orientiert. Der Subkommandant Marcos erklärt: “In Wahrheit erkennen wir, daß der bewaffnete Kampf nur Teil eines umfassenderen und komplizierteren Prozesses sein kann. Wir sind uns darüber im klaren, daß die unbewaffneten nationalen Organisationen gespürt haben, daß unsere bewaffnete Erhebung nur auf die Verachtung zurückzuführen ist, der wir ausgesetzt sind. Der bewaffnete Kampf ist in unseren Augen – anders als bei der früheren Guerilla -nicht der einzige Weg, nicht die alleinige, allmächtige Wahrheit. Wir haben vielmehr den bewaffneten Kampf von Anfang an als Bestandteil einer Reihe von Auseinandersetzungen und Prozessen betrachtet, die auf Veränderung dringen. Einmal ist diese, ein anderes Mal jene Form des Kampfes wichtiger. Aber was uns niemand abstreiten kann: Man ließ uns keine andere Wahl. Die Verzweifelung war bis zu einem Grad gestiegen, daß wir sie nicht mehr ertragen wollten und daß uns die nationalen und internationalen Belange gleichgültig wurden.”