Norbert Arntz: über die Angriffe auf Papst Franziskus

„Wer bringt diesen Mann nur zum Schweigen?“
Angriffe auf den Papst haben mit Kritik nichts mehr gemein

(eine gekürzte Fassung ist im ITP-Rundbrief Nr. 45 erschienen)

von Norbert Arntz, 2016

Die offenkundig nicht nur mehrdeutige Frage „Wer bringt diesen Mann nur zum Schweigen?“ stellt unverhohlen das sich selbst als kirchentreu bezeichnende katholische Internet-Portal „Katholisches.info“.1 Fragestellung und dazugehöriger Artikel vom 2. August 2016 sprechen exemplarisch aus, was in manchen rechtskatholischen und politisch rechts stehenden Kreisen seit geraumer Zeit in einer Art anschwellendem Bocksgesang gesagt und gedacht wird: „Das arrogante Pontifikat“ (Fox News) – „Ein primitiver Antikapitalist“ – „Populist – intellektuell keine erste Wahl“ – (DIE WELT) – „Marxist auf dem Stuhl des Petrus“ – „Loose cannon – Die Kanone ist los“ (FAZ) „Das Chaos wird zum Prinzip erhoben“ (Spaemann) – „Der Islamversteher“ (Rhein-Post) – „Ist der Papst dumm?“ – „Der Papst schadet seiner Kirche“ (FOCUS)

Kritik ist von diesem Papst geradezu erwünscht. Aber die in diesen Artikeln sich spiegelnde Motivation ist Attacke, Angriff. In dem Geraune und Geschrei lassen sich drei Grundzüge erkennen:

  1. Die Traditionalisten (ich will sie lieber dogmatische „Reaktionäre“ nennen, denn ohne Tradition gäbe es Kirche nicht) verteidigen päpstliches Lehramt und Unfehlbarkeit nur solange, als es mit ihrer Meinung übereinstimmt. Sobald der Papst Gesten und Worte verwendet, die sie nicht mehr teilen, entpuppen sie sich als heftige Papstkritiker, die das päpstliche Lehramt relativieren.
  2. Zugleich denunzieren sie die angeblich falsche Demut des Papstes und halten sich selbst für die Inhaber der katholischen Wahrheit, die den angeblich fehlgeleiteten Papst zum Schweigen bringen müssen.
  3. Schließlich verfechten sie ein Gesellschaftsbild als christlich-abendländisch, das vom „Gott des Geldes “ dominiert wird, und predigen zugleich einen Glauben, der die „böse, sündige“ Welt verachtet.

Jacques Schuster, Chefkommentator der WELT, schreibt (25. 9. 2015): „Es hat in der Geschichte der Menschheit Demokratie niemals ohne den freien Markt gegeben. Demokratie und Markt gehören zusammen. Wer der Demokratie den freien Markt raubt, entzieht dem Menschen nicht nur das Recht auf freie Entfaltung und Eigeninitiative, er nimmt ihm auf lange Sicht auch die Freiheit selbst“.2

Und der Publizist Alexander Kissler ergänzt im FOCUS: „Mindestens naiv, wenn nicht töricht [ist] sodann die päpstliche These, Kriege gäbe es, ‚weil es Waffenproduzenten gibt‘. Als ob nicht mit bloßen Händen und Steinen schon Kriege geführt worden wären, als ob nicht Benzinkanister, Knüppel, Speer beinahe ausgereicht hätten, um den Völkermord der Hutu an den Tutsi ins Werk zu setzen. Etc. pp. Ein unreflektierter Antikapitalismus führt den Papst in die Irre.“3

Besonders scharf werden die Angriffe nach der fliegenden Pressekonferenz beim Rückflug vom Weltjugendtag in Krakau. Auf die Frage einer Journalistin, warum er bei seinen Reaktionen auf Gewaltaten immer von Terroristen, aber nie vom Islam spreche, antwortet der Papst:

„Es gefällt mir nicht, von islamischer Gewalt zu sprechen, denn jeden Tag, wenn ich die Zeitungen durchblättere, sehe ich Gewalt, hier in Italien: Der eine bringt seine Verlobte um, ein anderer bringt die Schwiegermutter um… Und das sind gewalttätige getaufte Katholiken! Es sind gewalttätige Katholiken … Wenn ich von islamischer Gewalt spräche, müsste ich auch von katholischer Gewalt sprechen. Nicht alle Muslime sind gewalttätig; nicht alle Katholiken sind gewalttätig. […] Ich glaube, dass es in fast allen Religionen immer eine kleine fundamentalistische Gruppierung gibt. […] Und auch wenn der Fundamentalismus so weit geht zu töten – man kann aber mit der Zunge töten, und das sagt der Apostel Jakobus und nicht ich, und auch mit dem Messer – glaube ich, dass es nicht richtig ist, den Islam mit Gewalt gleichzusetzen. Das ist nicht richtig, und es ist nicht wahr!“4

Der italienische Theologe Massimo Faggioli, der in Nordamerika lehrt, hat eine erhellende Deutung zu dem hier nur angedeuteten Konflikt publiziert. Darin erwähnt er Zusammenhänge, die in den üblichen Kommentaren kaum zur Sprache kommen. Wir legen diesen Text vor und hoffen damit, auch die Angriffe gegen den Papst ins „rechte“ Licht zu rücken. Im Folgenden werde ich seinen Beitrag „Francis, ISIS, and the crisis of Church and state“ vom 8. August 2016 (in eigener Übersetzung) vorlegen.

Massimo Faggioli im Wortlaut:

Franziskus, der „Islamische Staat“ und die Krise des Verhältnisses von Staat und Kirchen5

Die Weigerung von Papst Franziskus, die Terrorkampagne des „Islamischen Staates“ als vom Islam verursachten Religionskrieg zu etikettieren, ruft immer noch Kontroversen hervor. Die Tatsache, dass die Debatte weiter geht, ist einerseits ein Zeichen dafür, welche Bedeutung man der Meinung des Bischofs von Rom in der politischen Weltgemeinschaft einräumt. Andererseits weist die Debatte zugleich darauf hin, wie unsicher die Politik nichtstaatliche Akteure behandelt, wie z.B. die Religionen.

Die Debatte ist ebenfalls ein wichtiger Indikator für die gegenwärtige Lage der Beziehungen zwischen Kirche und Politik in der westlichen Welt. Zwischen Franziskus und einem Teil der westlichen Kommentarwelt, die zwar die Kirche (aber nicht sich selbst) in diesen theologischen Krieg hineinziehen möchte, findet ein Namensgebungsspiel statt, bei dem viele Widersprüche aufgedeckt werden.

Der erste Widerspruch: die westliche „Intelligentsia“, die jetzt darauf besteht, dass Franziskus eine theologische Erklärung zum Krieg abgeben soll, setzt sich zumeist aus Atheisten, säkularen Politikern und Vordenkern zusammen. Sie halten die Religion nur dann für relevant, wenn sie für den Kampf gegen den Islam politisch zweckdienlich ist. Hier geht es um eine aktualisierte Version von Stellvertreterkrieg.

Der zweite Widerspruch: diese theologisch-kriegstreiberische Intelligentsia ist in der Regel sehr schnell bereit, bei sozialen und politischen Fragen im Inland den Einfluss der Kirche für illegitim zu erklären, insbesondere wenn sie zugunsten der Armen spricht (wo etwa das Sicherheitsnetz für die Armen beseitigt wird) und zugunsten der Barmherzigkeit (wo gesellschaftliche Probleme durch massive Verhaftung „gelöst“ wurden).

Der dritte Widerspruch: Zu diesen Kommentatoren gehören Katholiken neo-konservativer und traditionalistischer Überzeugung. Diese haben nicht begriffen bzw. begreifen immer noch nicht, dass die gegenwärtigen (theologischen und anderen) Probleme dadurch entstanden sind, dass sie die amerikanischen Kriege im Irak und in Afghanistan während der letzten fünfzehn Jahre christlich getauft haben.

Der vierte Widerspruch: Franziskus lehnt es ab, die Kirche als Megaphon dafür missbrauchen zu lassen, die theologische Verbindung zwischen dem „Islamischen Staat“ und dem Islam theologisch zu bewerten. Denn die Weigerung des Papstes ist selbst bereits ein Beispiel für das, was die Franzosen „laicité“ nennen: die Unterscheidung zwischen dem, was die Kirche angeht, und dem, was den säkularen Staat angeht.

Das Problem besteht darin, dass die Mitglieder der europäischen und amerikanischen Kommentarwelt die historisch-politische Botschaft in ihrer Tiefe nicht erfassen, mit der Papst Franziskus an das Problem herangeht.

Das erste Element dieser Herangehensweise ist einer der wichtigsten Interpretationsschlüssel, um die heftige Ablehnung des Pontifikats von Franziskus zu verstehen. Bergoglio`s Pontifikat ist nämlich für einige nicht so sehr vom theologischen, sondern vom politischen Standpunkt aus problematisch. Bei ihrer Deutung der politisch-religiösen Lesart der Weltkarte durch Franziskus übersehen die Kritiker, dass die „materialistische“ Interpretation des Krieges durch Franziskus (dass es sich um einen Krieg handelt, in dem es um Geld und Macht geht und nicht um Religion) die Aufmerksamkeit der Kirche für die „Zeichen der Zeit“ spiegelt.

Aber es gibt noch ein weiteres Element, das meiner Meinung nach heute und in der Art und Weise, wie Papst Franziskus damit zu tun hat, besonders interessant ist. Aus meiner Sicht erleben wir das Ende einer Ära.

Es ist üblich geworden, die Kriege und die politischen Unruhen im Nahen Osten (Syrien, Libanon, Ägypten, Türkei, Iran, Jemen und Saudi-Arabien) als das Ende der Welt zu bezeichnen, die durch das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 zwischen Frankreich und Großbritannien geschaffen wurde. Dieses hatte die Landkarte des Nahen Ostens im letzten Jahrhundert bestimmt und diesen Teil der Welt relativ stabil gehalten. Dies ist sicherlich richtig.

Dennoch fehlt jenen etwas, die über Politik sprechen, aber die Geschichte nicht kennen, oder die Geschichte kennen, aber keine Ahnung von Theologie haben. Was zwischen Europa und dem Nahen Osten stattfindet, ist nicht nur das Ende des Sykes-Picot-Abkommens, sondern wahrscheinlich auch das Ende jener Beziehung zwischen Kirche (Religion) und Staat, die im Europa der frühen Moderne geschaffen wurde.

Mit anderen Worten, es ist nicht möglich, die verschiedenen Elemente, die zum gleichen Bild gehören, getrennt zu analysieren: die Krise Europas (nicht nur der Europäischen Union, sondern auch die Krise der europäischen Idee); die Krise der politischen Repräsentation und der Demokratie (siehe das Trump-Phänomen und die autoritären Rückwärtsbewegungen in Osteuropa, der Türkei, Brasilien, Russland und Indien); die Neudefinition der konfessionellen Grenzen zwischen den Kirchen und Religionen (die Beziehungen zwischen den Religionen folgen nicht mehr den Grenzen, die von Katechismen und religiösen Gesetzen gezogen werden).

Die öffentliche Präsenz von Papst Franziskus und der katholischen Kirche in diesem besonderen geopolitischen Moment ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass militante Angehörige des „Islamischen Staates“ gezielt zum ersten Mal einen katholischen Priester in Frankreich ermordet haben.

Die Art und Weise der öffentlichen Präsenz hat vielmehr damit zu tun, dass katholische Kirche und Nationalstaat sich parallel in einem historischen Prozess modernisiert haben, der im spätmittelalterlichen-frühneuzeitlichen Europa begann und mit dem Westfälischen Frieden im Jahre 1648 am Ende des Jahrhunderts der Religionskriege in Europa eine gewisse Stabilität fand. Das Ende der Religionskriege im siebzehnten Jahrhundert hat den gegenwärtigen politischen Kontext der westlichen Kirchen (vor allem der katholischen Kirche) und die moderne Form des Nationalstaates geschaffen.

Das bedeutet, wer heute ein neues Jahrhundert von Religionskriegen erklärt, würde auf besonders radikale Weise ein jahrhunderte altes System der Beziehungen zwischen Religion/Kirche und Politik/Staat in der westlichen Welt – und nicht nur dort – in Frage stellen. Die Symptome dieser epochalen Krise sind offensichtlich, wenn der Präsident der Französischen Republik, der Wiege der Laizität, ein theologisches Statement abgibt, indem er die Ermordung des katholischen Priesters von Rouen „als Schändung der Französischen Demokratie“ bezeichnet. (Beim Massaker von Charlie Hebdo im Januar 2015 gab Präsident Hollande ein ähnliches Statement ab).

Die Krise des modernen Nationalstaates ist auch eine theologische Krise, selbst wenn die meisten Westler – ob Katholiken oder Nicht-Katholiken, Gläubige oder Nicht-Religiöse – nicht mehr wissen, wie viel Theologie es braucht, um den Nationalstaat und die säkulare Demokratie am Leben zu erhalten.

Franziskus versucht, der Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils und ihrer Sicht von Gemeinwohl, Politik, Demokratie und gesunder Unterscheidung zwischen Kirche und Staat treu zu bleiben. An dieser Front ist Franziskus nicht nur mit Herausforderungen seitens des Islam konfrontiert, sondern ebenso von zwei verschiedenen Fronten innerhalb der westlichen Welt: einerseits von religiös ungebundenen Menschen, die gerne sähen, wenn Franziskus in ihrem Namen einen Religionskrieg erklären würde, und andererseits von postmodernen Katholiken, die die Laizität und den säkularen Nationalstaat für einen Teil des Problems und nicht der Lösung halten.

Franziskus unternimmt nicht nur den Versuch, die tickende Zeitbombe eines theologischen Krieges zu entschärfen (die meisten Enthusiasten scheinen höchstens verbal kämpfen zu wollen). Franziskus ist auch dabei aufzuzeigen, wie viel raison d’Église (Kirchenräson) die Grundlage bildet für die raison d’État (Staatsräson).

Kirche und Staat befinden sich in einer Situation der Krise und des Übergangs: Es ist der lange Übergang, der am Ende der frühmodernen Theologie von der „Kirche als societas perfecta“ im 20. Jahrhundert eingeläutet wurde. Das Ende der Ekklesiologie von der „societas perfecta“ ist eine der Ursachen für die Krise der Legitimität des Nationalstaates als „perfekten Staates“, der in der frühen Neuzeit entstand. Das Problem besteht darin, dass es (noch) keine brauchbare Alternative zum Nationalstaat gibt. Offenbar weiß Franziskus dies besser als andere.

1 http://www.katholisches.info/2016/08/02/wer-bringt-diesen-mann-nur-zum-schweigen-der-papst-der-islam-und-ein-schlag-gegen-die-eucharistie/

2 http://www.welt.de/debatte/kommentare/article146876286/Wenn-sich-der-Papst-ploetzlich-in-Karl-Marx-verwandelt.html

3 http://www.focus.de/politik/deutschland/kisslers-konter/kisslers-konter-darum-schadet-dieser-papst-seiner-kirche_id_5548014.html

4 http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2016/july/documents/papa-francesco_20160731_polonia-conferenza-stampa.html