Charlie Hebdo

Wer kann schon die Trauer zurückgebliebener Liebenden einholen, wie kann man solidarisch sein mit den Ermordeten, wie angemessen die Zurückweisung dieser Morde ausdrücken?
In Paris und vielen anderen Orten haben es am Sonntag hunderttausende Menschen versucht. Solidarität, Verteidigung der Freiheit, der Meinungsfreiheit, Verteidigung der europäischen Werte. All dies gibt es, und die Menschen berufen sich zu Recht darauf. Und zu Unrecht zugleich. Charlie Hebdo hat sich auf radikale Meinungsfreiheit berufen und ist dafür ermordet worden. Die Satire-Zeitschrift hat darin die Freiheitsforderung der bürgerlichen Revolution aufgerufen, die ihr Echo in den Rufen und Plakaten auf der place de la République findet, in einem seltsam ungleichzeitigen Pathos, das so gar nicht zur Geschichte dieser Revolution, zur Wirklichkeit ihrer Ideen, Ideologien, und noch weniger zur realen Geschichte dieses Europas passt. Im Namen der Freiheit, der Vernunft oder der Menschenrechte sind einige der größten Massaker der Menschheitsgeschichte verübt worden: Kolonialismus, Imperialismus und Faschismus waren keine Geburt der Religionen. Kolonialismus, Imperialismus und Faschismus haben vielmehr die Gewaltgeschichte der Religionen durch ihre eigene abgelöst. Salman Rushdi schrieb zu den Anschlägen: “Religion, a mediaeval form of unreason, when combined with modern weaponry becomes a real threat to our freedoms.“ In seinem biografisch nachvollziehbarem Satz spiegelt sich unsere ganze Dramatik: Ein immer noch unirritierter Superioritätsgedanke unserer Gegenwart, eine ungebrochene Vernunftvorstellung, die auf die eigene Wirklichkeit nicht passen mag. Ein Pathos, das weder die Dialektik der Aufklärung umgreift noch die Tatsache, dass der fanatische Islamismus kein „Problem von außen“ ist. Man musss nur auf die Herkunftsländer der IS-Kämpfer in Syrien schauen, um erkennen zu können, dass wir diese Kämpfer exportieren, wie so vieles anderes auch.
Auch wenn Jürgen Habermas nicht unbedingt zu meinen Referenzautoren gehört, so nimmt doch seine Hypothese von der normativ entkernten Moderne, die in zunehmender Weise ihre eigenen Fundamentalismen hervorbringe, immer dramatischere Züge in der Wirklichkeit an. Da stimme ich ihm zu. Aber er hatte wohl seinen eigenen Satz nicht richtig verstanden: Die Moderne bringt ihre eigenen Fundamentalismen hervor. Solange wir das nicht begreifen, und Fundamentalismus und Fanatismus zu einem ausschließlichen Religionsphänomen machen, wird es wohl so weitergehen wie gehabt. Nutzen wir vorab die Phrase „Moderne“ und fragen, welche Verheißung haben denn die „europäischen“ Werte für die Menschen? Oder vielleicht weniger theologisch: welche Zukunft? Wie also wird unsere bekundete Solidarität, unser Kampf für Meinungsfreiheit, für wirkliche Freiheit und Menschenrechte aussehen? Die Trauer der zurückgebliebenen Liebenden können wir nicht einholen.

Michael Ramminger