Aparecida – Ein Rückblick in befreiungstheologischer Absicht

Aparecida

Ein Rückblick – in befreiungstheologischer Absicht

Einige (wie der neue Erzbischof von São Paulo, Odilo Scherer) hatten über die Medien verbreitet, die Befreiungstheologie sei bereits tot; bei der Bischofsversammlung in Aparecida würde ihr nur noch der Totenschein ausgestellt. Durch die vorangegangene kirchenpolitisch bestimmte Verurteilung der christologischen Werke von Jon Sobrino fühlten sich diese Kreise bestärkt.
Was sich jedoch in Tat und Wahrheit in Aparecida abspielte, war das genaue Gegenteil: Die Befreiungstheologie wurde zum Dauerthema auf den Pressekonferenzen. Kardinal Oscar Rodriguez von Honduras bestätigte, dass es nicht nur vorbereitende Gespräche für die Konferenz mit Befreiungstheologen, u.a. mit Gustavo Gutierrez, gegeben habe, sondern dass die Gruppe „Amerindia“ die Konferenz aktiv begleite und den Mitgliedern der Konferenz ihre Beratung anbiete. Man könne also keinesfalls behaupten, dass Konferenz und Befreiungstheologen in Opposition zueinander stünden. Man müsse vielmehr feststellen, dass sie sich in einem fruchtbaren Dialog miteinander befinden.
Ein theologischer Kongress in der Nähe von Aparecida erweist, wie lebendig die Befreiungstheologie sich darstellt. Das „Zelt der Märtyrer“ – in unmittelbarer Nähe des Konferenzortes von Mitgliedern der Sozialpastoral und Basisgemeinden aus dem ganzen Kontinent mitgetragen – wurde zum Ort basisgemeindlicher Erfahrung: Jeden Tag behandelte man dort Themen wie Arbeitslosigkeit, Gewalt und gesellschaftlichen Ausschluss, las gemeinsam die Bibel und feierte Abend für Abend Eucharistie.

Im Schlussdokument – selbstverständlich ein Spiegelbild der widersprüchlichen Tendenzen in der Versammlung – findet sich die Methode „Sehen – Urteilen – Handeln“ wieder, werden die Themen: Option für die Armen und Ausgeschlossenen, strukturelle Sünde, Utopie vom Reich Gottes und Basisgemeinden als lebendige Kernzellen der Kirche behandelt – allesamt Themen, welche die Befreiungstheologie auf die Tagesordnung der Kirche gebracht hatte. Kurzum: Aparecida – als Dokument und Ereignis – bestätigt, dass die Lateinamerikanische Kirche über Santo Domingo hinweg an die Tradition von Medellín (1968) und Puebla (1979) wieder angeknüpft und ihr eigenes Haupt erhoben hat. Eben deshalb sind stets neue Manipulationsversuche nicht verwunderlich.
Ein gefälschtes Schlussdokument?
Das am 31. Mai beschlossene Schlussdokument wurde am 11. Juni dem Papst zur Approbation vorgelegt und nach der Zustimmung des Papstes am 12. Juli vom Lateinamerikanischen Bischofsrat (CELAM) bei einer Sitzung in Havanna/Cuba veröffentlicht. Vergleicht man den in Aparecida beschlossenen Text mit dem vom CELAM veröffentlichten Text, stellt sich heraus, dass mehr als 200 Veränderungen am Text vorgenommen wurden, ohne dass erkennbar wäre, wer mit welcher Autorisierung welche Veränderungen veranlasst und durchgeführt hat. Aus der Liste der Veränderungen lassen sich drei Typen von Veränderungen registrieren:
1. redaktionelle, stilistische, grammatikalische Veränderungen
2. Änderungen der Platzierung von Abschnitten mit der Folge, dass die Nummerierung fast des gesamten Dokumentes verändert wurde.
3. Inhaltliche Änderungen, die Aussagen des beschlossenen Schlussdokumentes zensieren, ergänzen, abschwächen, verdrehen oder durch andere Aussagen ersetzen.

Eine ausführlichere Dokumentation muss später erfolgen. Hier soll nur an einigen Beispielen exemplarisch belegt werden, wie in den beschlossenen Text eingegriffen wurde:

1. Basisgemeinden

Zu den Kirchlichen Basisgemeinden heißt es im beschlossenen Text im Abschnitt Nr. 194.: Das Leben sowie die prophetische und heiligmachende Sendung der Kirchlichen Basisgemeinden in der missionarischen Nachfolge Jesu wollen wir mit Entschiedenheit bestätigen und mit neuen Impulsen ausstatten. Die Basisgemeinden waren nach dem II. Vatikanischen Konzil bedeutsame Gnadengaben des Heiligen Geistes in der Kirche von Lateinamerika und der Karibik. Das Wort Gottes gilt ihnen als Quelle ihrer Spiritualität, die Orientierung durch die Hirten als Leitung, die sie mit der Gemeinschaft der Kirche verbindet…..

Daraus wird im vom CELAM veröffentlichten Text der Abschnitt Nr. 179, und folgende Sätze werden eingefügt: Wenn sie in der Gemeinschaft mit ihrem Bischof bleiben und sich in den Pastoralplan der Diözese eingliedern, werden die kirchlichen Basisgemeinden zu einem Zeichen von Vitalität in der Ortskirche. Wenn sie so gemeinsam mit den Gruppen der Pfarrei, den kirchlichen Vereinen und Bewegungen handeln, können sie dazu beitragen, die Pfarreien lebendiger werden zu lassen und sie zu einer Gemeinschaft von Gemeinschaften machen. Bei ihrem Bemühen, sich den Herausforderungen der heutigen Zeit zu stellen, sollen die kirchlichen Basisgemeinden darauf achten, den kostbaren Schatz der Tradition und des kirchlichen Lehramtes nicht zu verfälschen.

2. Situation der Kirche
Zu Problemen in der Kirche heißt es im beschlossenen Textabschnitt Nr. 109: „Wir beklagen einen gewissen Klerikalismus und Bestrebungen, zu einer Ekklesiologie und Spiritualität zurückzukehren, die der Zeit vor dem II. Vatikanischen Konzil entstammen, Bestrebungen, die die konziliare Erneuerung reduktionistisch deuten und verwenden. Wir beklagen dass es keinen Sinn für Selbstkritik, dass es keinen authentischen Gehorsam und keine dem Evangelium entsprechende Autoritätsausübung gibt, wir beklagen moralistische Haltungen, die die zentrale Bedeutung Jesu Christi abschwächen….

Im vom CELAM veröffentlichten Text wird daraus der Abschnitt Nr. 100 b), man streicht den Hinweis auf den Klerikalismus und auf die Fähigkeit zur Selbstkritik: „Wir beklagen Bestrebungen, zu einer gewissen Art von Ekklesiologie und Spiritualität zurückzukehren, die der Erneuerung durch das II. Vatikanische Konzil widersprechen bzw. die konziliare Erneuerung reduktionistisch deuten und verwenden. Wir beklagen, dass es keinen authentischen Gehorsam und keine dem Evangelium entsprechende Autoritätsausübung gibt; ….

Kardinal Errázuriz von Santiago de Chile, neben Kardinal Re von Rom und Kardinal Majella von Salvador de Bahia in Brasilien einer der drei Präsidenten der Versammlung, hatte in Rundschreiben und öffentlichen Stellungnahmen behauptet, es seien nur unwesentliche Änderungen vorgenommen worden. Den erwähnten Beispielen lässt sich das Gegenteil entnehmen. Die Basisgemeinde-Bewegung ist nicht gewillt, die Unterstellungen hinzunehmen, die der veränderte Text enthält. Aus der brasilianischen Bischofskonferenz melden sich Stimmen, die verlangen, dass das ursprünglich beschlossene Dokument wieder in Kraft gesetzt wird, weil der Umgang mit dem nach dreiwöchigen Beratungen beschlossenen Text einen Angriff auf die Kollegialität der Bischöfe darstelle und die Versammlung der Bischöfe disqualifiziere. Es wird sich zeigen, wohin diese Auseinandersetzung führt.

Norbert Arntz