Zum „Islam der Befreiung“ – Ein Gespräch

Benedikt Kern (l.) uns Kacem Gharbi (r.), Rom 2015
Benedikt Kern (l.) und Kacem Gharbi (r.), Rom 2015

Der „Islam der Befreiung“ hat Gerechtigkeit und Gleichheit zum Grundsatz

Ein Gespräch mit dem muslimischen Philosophen und Befreiungstheologen Kacem Gharbi (Tunis)
Eine gekürzte Fassung des Gesprächs wurde auch von der Zeitschrift Südlink „Ernährungssouveränität“ Nr. 177 veröffentlicht. http://www.inkota.de/material/suedlink-inkota-brief/177-ernaehrungssouveraenitaet/

Kacem Gharbi (*1968 in Tunis) ist Philosoph und einer der profiliertesten muslimischen Befreiungstheologen Tunesiens undsetzt sich mit den Spielarten des politischen Islam auseinander. Während der Ben Ali-Diktatur war er in den 1990ern acht Jahre lang politischer Gefangener. In seiner Dissertationsschrift beschäftigte er sich mit dem christlichen lateinamerikanischen Philosophen und Befreiungstheologen Enrique Dussel. Heute arbeitet er in einer interdisziplinären Forschungsgruppe der Universität Tunis zu alternativen Ökonomiemodellen.

Benedikt Kern (ITP): Das Institut für Theologie und Politik (ITP) in Münster stellt seit fast 25 Jahren eine Schnittstelle zwischen der Befreiungstheologie und sozialen Bewegungen im europäischen Kontext dar. D.h. dass wir versuchen, unsere befreiungstheologische Reflexion in Zusammenhang bringen mit politischen Aufbrüchen an der Basis, um die Solidaritätsbewegung mit Geflüchteten, das Kirchenasyl und die Krisenproteste gegen die europäische Austeritätspolitik zu nennen. Du setzt dich seit Jahren mit der muslimischen Befreiungstheologie auseinander und bist einer ihrer (noch) marginalisierten Vertreter in Tunesien. Was steckt hinter dem Begriff „Islam der Befreiung“, was charakterisiert die muslimische Befreiungstheologie aus deiner Perspektive?

Kacem Gharbi: Zunächst ist der Islam eine Religion, die auf eine Offenbarung gegründet ist und die Gerechtigkeit zum Ziel hat. Der „Islam der Befreiung“ ist ein Islam, der es geschafft hat, eine Selbstkritik an seiner Geschichte zu vollziehen, um die eigenen religiösen und ethischen Fundamente wiederzufinden.

Im Gegensatz dazu ist der traditionelle Islam eine erobernde Religion, die imperialistisch ausgerichtet ist und sich damit auseinandersetzt, wie die Welt regierbar ist. Dabei ignoriert dieser Islam seine Verbrechen, die im Namen der Religion stattfinden. In diesem fundamentalistischen Gesicht des Islam findet man nicht die Menschlichkeit, die ich in den koranischen Texten gefunden habe. Hierbei ist es wichtig zu unterscheiden zwischen den Korantexten aus Mekka, die Mahmoud Taha die Texte des „grundlegenden Islam“ nennt, und jenen aus Medina, die er als die Texte des „Islam der Umstände“ bezeichnet. Die gesellschaftliche Anwendung der religiösen, ethischen und politischen Grundsätze fand in den medinischen Schriften auf dem Hintergrund der entstehenden Herrschaft eines islamischen Reiches statt – sie sind somit eine Verfremdung der fundamentalen Ziele des Islam durch Sklaverei, Eroberung, Frauenverachtung und Steuertyrannei. Denn die ursprüngliche Ausrichtung ist befreiend und nur vor dem historischen Hintergrund der damaligen arabischen Welt zu verstehen.

Der „Islam der Befreiung“ hat Freiheit und soziale Gerechtigkeit zum Grundsatz. Wenn wir uns beispielsweise Sure 109 ansehen, stellen wir fest, dass die Religionsfreiheit, die die Heiligkeit jedes menschlichen Lebens anerkennt, konstitutiv für den Islam ist. Die Gerechtigkeit wird u.a. in Sure 8 als der wahre Glaube bezeichnet. Das hier entworfene Menschenbild hat konkrete Auswirkungen auf gesellschaftliche Verhältnisse, die dem widersprechen. Um ein Leben in Freiheit und Gerechtigkeit zu errichten, bietet der Koran Inspiration und Handlungsimpulse. Und um diese herauszustellen bedarf es der Hermeneutik, d.h. Verstehensweise, einer befreienden Theologie.

B.K.: Aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie wissen wir, dass eine befreiende Lesart des Christentums aus den konkreten Fragen von Christinnen und Christen, die sich in Befereiungsbewegungen engagieren, entstanden ist. Auch wir im ITP haben in unterschiedlicher Weise die Erfahrung gemacht, dass die Frage danach, wie Gott und Welt, Theologie und Politik zusammenhängen, uns zur Befreiungstheologie geführt hat. Wie bist du zur Befreiungstheologie gekommen?

K.G.: Mein Weg zur Befreiungstheologie war durch zwei Zugänge geprägt: einen theoretischen und den der politischen Praxis.

Zum Theoretischen: Ich habe mich 20 Jahre lang, ohne es artikulieren zu können, für Befreiungs­theologie interessiert. Meine Interesse speiste sich aus der Lektüre lateinamerikanischer Literatur und aus Erzählungen über linke Priester (über die ich viele Artikel gelesen habe). Mich hat das Verhältnis zwischen Sozialwissenschaften und Politik auf der einen und Religion auf der anderen Seite interessiert. Dieses Verhältnis war zentral für viele aus meiner Generation beim Interesse an Theologie. Politisch-theologisch wurden nur leider unterschiedliche Schlüsse aus diesem Verhältnis gezogen, was im Erstarken der reaktionären politisch-religiösen Kräfte deutlich wird.

Zur Praxis: Prägend waren für mich die Ereignisse in Algerien in den 1990ern, angesichts derer wir die Frage gestellt haben: Warum sind wir an diesem Punkt unendlicher Gewalt angelangt? Wie rechtfertigen wir aus einem politischen und religiösen Blickpunkt heraus den Tod von 300 000 Menschen? Die Antwort darauf lag für mich schließlich auf der Hand: Ich muss meine religiösen und politischen Überzeugungen auf den Prüfstand stellen.

Damit begann Ende der 1990er mein Weg mit der Theologie der Befreiung, die zum Ansatzpunkt meiner Analyse geworden ist, um zur Überwindung des Tötens und der Ungerechtigkeit zu gelangen.

B.K.: Welche Rolle spielte dabei die Zeit deiner politischen Gefangenschaft?

K.G.: In den acht Jahren und zwei Monaten im Gefängnis wurde mir nur die Lektüre des Koran gestattet. Das habe ich getan und mir ist dabei der gewaltige Widerspruch bewusst geworden zwischen dem, was ich lese und dem, was ich in den Nachrichten sehe. Doch auch der Widerspruch zwischen dem, was ich lese und wie ich traditionell im Glauben erzogen wurde. Dabei wurde mir klar, dass eine neue Hermeneutik notwendig ist, um den Koran zu lesen, zu verstehen und zu vermitteln.

B.K.: Für uns ist ein wichtiger Punkt, dass wir nicht allein Politik machen, nicht allein unsere theologischen Ideen entwickeln, sondern kollektiv. Warst du am Anfang mit deiner Erkenntnis eines befreienden Islam alleine?

K.G.: Ja. Leider hatte habe in meinen Mitgefangenen keine Gesprächspartner gefunden (in diesen Fragen). Sie sahen sich als Opfer, was ihnen keine Selbstkritik ermöglichte. Es ging allen vor allem um den Widerstand, nicht so sehr um ein kritisches Verhältnis zu sich und den sozialen und religiösen Bedingungen. Ich persönlich musste zwar, wie sie, der Repression des Staates widerstehen, doch ich kam nicht daran vorbei, mir Fragen zu stellen hinsichtlich unserer Situation, der Situation in Algerien, hinsichtlich unserer eigenen Geschichte.

B.K.: Wie kamst du dann zur akademischen Auseinandersetzung mit der Befreiungstheologie?

K.G.: Auschlaggebend waren zwei Treffen: mit François Houtard, einem belgischen katholischen Befreiungstheologen und Soziologen, der seit langem in Ecuador lebt und mit meinem Doktorvater an der Universität von Tunis. Ich denke es sind diese beiden Personen, die mir wirklich geholfen haben, auf diesem Weg hin zur Befreiungstheologie. Die Beschäftigung mit Enrique Dussel und der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung im Rahmen meiner Dissertation hat meinen eigenen Blick auf den „Islam der Befreiung“ geschärft.

B.K.: Kommen wir noch einmal auf den „Islam der Befreiung“ zurück. Wie hat er sich entwickelt und wer waren seine befreiungstheologischen VordenkerInnen?

K.G.: Zu erst sind Namen zu nennen wie Mahmoud Taha (Sudan), Ali Shariati (Iran) und Hassan Hanofi (Ägypten), die einen wichtigen Beitrag zum Projekt der Befreiung geleistet haben. Sie haben es geschafft, durch die Anwendung der marxistischen Analyse den religiösen Erzählungen neue Perspektiven zu geben. Als Beispiel ist die Geschichte von Kain und Abel zu nennen. In einer befreiungstheologschen Perspektive wird ihr Konflikt nicht mehr auf der persönlichen oder familiären Ebene verstanden, sondern als Konflikt zwischen einem Landwirt und einem Schafhirten. Beide Protagonisten bezeichnen jeweils eine Gesellschaftsform: Der Landwirt Kain die Klassengesellschaft und Abel als Hirte die klassenlose Gesellschaft. Beide stehen sich gegenüber. In der Geschichte siegt zunächst die Klassengesellschaft. Der klassenlosen Gesellschaftsform zum letztlichen Sieg zu verhelfen, steht deshalb noch aus.

Ebenfalls wichtige Autorinnen sind Fatima Mernissi (Marokko) und Zahra Ali (franco-Iranerin), die die Perspektive eines feministischen Islam stark gemacht haben.

Diese und viele weitere Figuren haben in der Entwicklung einer islamischen Theologiedazu beigetragen, dass ein befreiender Islam entstanden ist. Auf uns wartet eine immens große Arbeit der Aufwertung dieser Perspektive und ihrer Übersetzung und Aktualisierung.

B.K.: Der Befreiungstheologie ging es von Anfang an darum, ihr theoretisches Projekt als Teil eines umfassenden Befreiungsprojektes zu sehen, als Arbeit innerhalb einer größeren Befreiungsbewegung. Wie lässt sich ausgehend von dem bislang von dir gesagten reformulieren, für welches gesellschaftliche Projekt der „Islam der Befreiung„ steht?

K.G.: Es geht, ausgehend von den koranischen Quellen, um eine Gesellschaft, in der Menschen soziale Rechte haben, in der alle ein Recht auf ihr Denken und ihren Glauben haben, in der es einen gegenseitigen Respekt gibt. Dies ist eine Gesellschaft der Freiheit und Verantwortung. Was das bedeutet, sehen wir schon in der koranischen Erzählung vom Dialog zwischen Gott und Satan: Gott akzeptiert Satan in seinem Handeln. Doch er überträgt ihm die Verantwortung für sein Tun. Gott hätte natürlich die Möglichkeit das Handeln des Satan zu verbieten, doch er hat ihm das Recht gegeben, seinen Weg frei zu wählen – und die Konsequenzen seiner Entscheidungen zu tragen. Diese positive Dialektik zwischen Freiheit und Verantwortung ist das Fundament einer freien Gesellschaft. Wenn wir von diesen beiden Aspekten sprechen, reden wir von einer gegenseitigen solidarischen Verantwortung. Der Prophet sagt hierzu, dass niemand ein_e Glaubende_r sei, wenn ihr_sein Nachbar_in nichts zu essen habe. Dies ist ein Appell für Gerechtigkeit und Gleichheit, die wir in den zentralen Texten des Koran finden. Die Leute hätten das Wasser, das Feuer und das Salz gemeinsam, so der Prophet. Das heißt, dass die Quellen des Lebens und der gemeinsamen Organisierung des Lebens gleich geteilt werden müssen.

An dieser sozialistischen Perspektive, die eben nicht in den Sowjet-Sozialismus mündet, sondern an einer wirklichen gesellschaftlichen Gerechtigkeit gemessen wird, orientiert sich die muslimisch-befreiungstheologische Vision der kommenden Gesellschaft. Diese Sichtweise verlangt einen epistemologischen und politischen Bruch mit dem Paradigma des aktuellen Kapitalismus und seinen Unrechtsverhältnissen. Dieser Kapitalismus hat den Gott Geld geschaffen, also eine neue Götzenverehrung des Gewinns, des Profits und der Herrschaft. Der Islam ist strikt monotheistisch, deswegen kann die Vielgötterei des Geldes nicht akzeptiert werden.

B.K.: Auch für uns am ITP ist das Aufzeigen der Unvereinbarkeit von Kapitalismus und den Grundprinzipien einer biblisch-christlichen befreienden Tradition, wie wir sie verstehen, ein zentraler Punkt. Du sprichst in deinem Kontext in dieser Hinsicht vom postkapitalistischen Islam. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?

K.G.: Wenn wir uns die Verse des Propheten anschauen, spricht er immer wieder zu „den Leuten“. Der Islam ist also keine Religion der Muslime, sonder „aller Leute“ (John Rawls). Daraus entspringt das Recht auf Gleichheit und Gerechtigkeit, ein nach-kapitalistisches Paradigma.

Dieses Paradigma muss erst geschaffen werden. Egalität und Gerechtigkeit können als Basis formuliert werden, doch die Ausgestaltung dieses postkapitalistischen Islam gilt es noch zu entwerfen und zu definieren. Der Islam der Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit muss noch kommen. Was wir gerade als traditionellen Islam, beim IS oder im neoliberalen Islam sehen, ist dem kapitalistischen Paradigma zuzurechnen.

B.K.: Warum?

K.G.: Diese drei genannten Formen des Islam sind in wesentlichen Punkten im kapitalistischen Denken verhaftet. Ich möchte dies nur kurz anreißen: Die Tyrannei des IS ist auf ein imperialistisches Projekt von Gewaltherrschaft ausgerichtet, deren Ziel auch eine wirtschaftliche Vorherrschaft einschließt. Der neoliberal-traditionelle Islam der Muslimbrüder setzt auf ein islamisches Bankensystem und den Finanzkapitalismus. Der Glaube liberaler Muslime setzt vor allem auf das persönliche Heil des isolierten Individuums.

B.K.: Dein letzter Punkt ist besonders interessant im Hinblick darauf, dass wir in den letzten Jahren im ITP verstärkt die Auswirkungen des neoliberalen Denkens auch auf die Situation des Christentums bedenken und dabei den Trend zur Vereinzelung und Individualisierung als zentrales Problem sehen. Deshalb fragen wir uns, wie man denn Strukturen der Vergemeinschaftung und Solidarität entgegensetzen kann? Wie kann also aus deiner Sicht eine Befreiungstheologie dem, in die Religion integrierten, Neoliberalismus die Stirn bieten?

K.G.: Ich möchte unterstreichen: Nicht in der Religion, sondern in den Gläubigen ist der Neoliberalismus verwurzelt! Deswegen besteht die Rolle befreiender Theologie darin, den Kapitalismus und seine Verwertungslogik zu entlarven und zu delegitimieren (François Houtard). Das heißt, dass somit aufgezeigt werden muss, dass der Islam in seinem Fundament – wenn auch nicht in seiner Geschichte – sozialistisch war.

B.K.: Wie kann der „Islam der Befreiung“ eine Alternative zu den derzeit herrschenden Verhältnissen schaffen?

K.G.: Die Aufgabe des befreienden Islam besteht aus zwei Elementen: erstens aus der Anregung einer theoretischen und akademischen Auseinandersetzung um Gesellschaftskritik und den politischen Islam, der eine prophetische Funktion übernimmt. Zweitens ist es wichtig, sich mit bestehenden sozialen Bewegungen zu verbinden, bzw. diese neu zu gründen und stark zu machen, damit eine Gesellschaftsveränderung von unten politisch schlagkräftig wird.

Der größte Gegenspieler einer befreiten Gesellschaft wird derzeit vom IS und fundamentalistisch-islamistischen Gruppen verkörpert. Militärisch ist der IS besiegbar, jedoch nicht seine Ideologie. Wer sagt uns, dass nicht kurz darauf neue fundamentalistische Aufbrüche geschehen? Deswegen muss man die Ideologie dieses imperialistischen Islam theologisch bekämpfen. Das ist die wahre Herausforderung, die sich uns nun stellt.

B.K.: Wer sind die AkteurInnen dieses befreienden Islam?

K.G.: Leider ist die muslimische Befreiungstheologie noch ein Phänomen unter islamischen Intellektuellen. Es fehlt eine breite Unterstützung an der Basis der Bevölkerung, gerade auch unter den Verarmten. Deswegen müssen die Intellektuellen, mit denen ich mich theologisch verbunden weiß, sich damit auseinandersetzen, wie wir in Kontakt mit den Unterprivilegierten kommen. Die gleiche Frage stellt sich auch der tunesischen Linken, die es leider nicht schafft, in der einfachen Bevölkerung Unterstützung zu bekommen und zum eigenständigen Handeln anzustiften. Um uns besser zu koordinieren, wird gerade, u.a. vom südafrikanischen Befreiungstheologen Farid Esack, ein internationales Netzwerk für muslimische Befreiungstheologie geknüpft. Wir sind in einer extrem marginalisierten Situation. Doch ich bin Optimist. Wir können eine Bewegung werden. Deswegen ist mir die Zusammenarbeit mit dem ITP in Münster sehr wichtig. Davon können wir nur lernen, wie wir Menschen zusammen bringen können, unsere theologische und politische Option voranbringen und in die Gesellschaft hineinwirken. Auf dieser vom ITP organisierten Reise durch Deutschland und die Schweiz bin ich sehr bestärkt worden, um weiterzumachen, mich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen und unsere Befreiungstheologie anzuschärfen. Wir bräuchten in Tunis auch so eine Struktur wie das ITP, die Theologie und politische Kämpfe verbindet.

B.K.: Du hast schon die Verbindung zum Institut für Theologie und Politik und der christlichen Befreiungstheologie gezogen. Was sind aus deiner Sicht die Parallelen zwischen beiden Ansätzen?

K.G.: Es besteht vor allem eine methodologische Verbindung zur christlichen Befreiungstheologie. Der Kontext, sowie die Religion sind zwar unterschiedlich, doch der Anweg, d.h. die Methode Gesellschaft zu analysieren und die Rolle der Religion für Veränderungsprozesse zu verstehen, ist gleich. Als Muslime oder ChristInnen müssen wir angesichts der Ungerechtigkeit reagieren; vor allem durch unsere Lektüre der heiligen Texte können wir uns der Ungerechtigkeit und Unterdrückung nicht entziehen und die Augen verschließen. Wir müssen der Wirklichkeit begegnen. Unterdrückung und Ungerechtigkeit haben keine Religion, sie sind ein eigenes System, das sich jedoch der Religion bemächtigen kann. Oft ist die Religion die Begründung von Ungerechtigkeit. Deswegen ist eine Theologie der Befreiung notwendig, um Unterdrückungssysteme und ihre religiöse Begründung zu delegitimieren.

B.K.: Wie verhindert eine muslimische Befreiungstheologie von der christlichen Theologie der Befreiung vereinnahmt zu werden?

K.G.: Ich möchte nicht zu tief in die Materie einsteigen, sondern vor allem unterstreichen, dass schon in einem außergewöhnlichen Koran-Vers steht, dass Gott uns unterschiedlich geschaffen hat, da die Differenz eine positive Triebfeder ist. Doch angesichts der globalen Ungerechtigkeit müssen wir zusammen für eine egalitäre Gesellschaft kämpfen – in der Bewahrung aller Unterschiedlichkeit.

B.K.: Was kann die christliche Befreiungstheologie vom „Islam der Befreiung“ lernen?

K.G.: Vielleicht den Gedanken aus dem islamischen Messianismus, dass eine Allianz von jenen notwendig ist, die das Ziel sozialer Gerechtigkeit verfolgen. Es geht darum, dass wir als ChristInnen und Muslime Teil der sozialen Bewegungen sind, um in den Zentren und an den Peripherien das herrschende System zu überwinden. Noch sind wir zarte Keime. Aber wir können wachsen.

Das Interview führte Benedikt Kern, Mitarbeiter am Institut für Theologie und Politik, Münster.

Das Gespräch gibt es hier als PDF.
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