LIS: Kirchenasyl als Menschenrechtsschutz

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Kirchenasyl als Menschenrechtsschutz
Podiumsstatement am 22. September 2016

Julia Lis (Institut für Theologie und Politik / Netzwerk Kirchenasyl Münster)

Schutz und Solidarität

Das Kirchenasyl wird meist, insbesondere von den Betroffenen und UnterstützerInnen vor allem als eins verstanden: eine sehr konkrete Hilfe im Einzelfall und das ist es immer auch. Es soll dazu dienen, einen Menschen, dem die Abschiebung droht und dessen rechtliche Möglichkeiten dagegen vorzugehen, momentan erschöpft scheinen, vor diese Situation zu schützen, auf Grundlage der Überzeugung, dass diese eine nicht hinnehmbare Verletzung seiner Menschenrechte und damit auch der jedem Menschen zukommenden Würde darstellt. Der Schutz, den das Kirchenasyl gewähren kann ist nicht im juristischen Sinne zu verstehen, sondern als ein Akt der Gastfreundschaft für Menschen, die darum fürchten müssen, durch ihre Abschiebung in eine Situation zu geraten, in der ihnen eine humanitäre Notlage droht. Sie werden deshalb, meist zeitlich befristet, von einer Kirchengemeinde oder einer Klostergemeinschaft aufgenommen. Diese versucht durch ihr engagiertes, öffentliches Auftreten, diese Menschen zu beschützen und schafft in ihrer Mitte einen Ort, an dem sich sicher fühlen können. Diese Sicherheit fußt aber nicht auf einem rechtlich geregelten Asylstatus, sondern entspringt der Zuversicht, dass eine gewaltsame Räumung von unschuldigen schutzbedürftigen Menschen aus kirchlichen Räumen einen öffentlichen Skandal darstellen würde. Neben diesem Schutz, den der kirchliche Raum den Menschen bietet, ist es die Solidarität einer Gemeinschaft, die ihnen zur Seite steht, die ihre Abschiebung verhindern helfen soll.

Die politische Dimension des Kirchenasyls

Die Notwendigkeit von Kirchenasyl verweist aber immer darauf, dass es hier einen Missstand gibt, den es generell zu beheben wird. Wenn die Menschenrechte von bestimmten Personengruppen in einer Gesellschaft nicht genügend geschützt werden, dann handelt es sich hier immer auch um ein strukturelles Problem, das nur durch grundlegende Veränderungen behoben werden kann. Denn wer bejaht, dass Menschenwürde und Menschenrechte unbedingt eingehalten werden müssen und somit eine Norm darstellen, an der das kodifizierte Recht kritisch zu prüfen ist, der oder die kann sich nicht mit Zuständen abfinden, in denen diese Menschenrechte verletzt zu werden drohen. Das macht immer schon die gesellschaftliche und politische Dimension eines jeden Kirchenasyls aus.

Der Bedarf nach Kirchenasylen entsteht nämlich immer dann, wenn die politischen und juristischen Rahmenbedingungen dazu führen, dass Menschen in Situationen geraten, wo ihre Möglichkeiten in dem Land, in dem sie sich eine Perspektive erhoffen, bleiben zu dürfen massiv eingeschränkt werden und ihnen somit droht in Elend, Obdachlosigkeit, Armut, in Situationen von Gewalt, in denen sie um ihre psychische oder physische Gesundheit fürchten müssen zurückgebracht zu werden.

Im Moment hängen die meisten Kirchenasyle in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Dublin-Abkommen zusammen, das das Asylrecht in der EU massiv einschränkt.1 Es besagt nämlich, dass Asylanträge in dem Land der EU gestellt werden müssen, in dem ein Flüchtling nach der Einreise in die EU erstmals registriert wurde. Das bedeutet in der Praxis also, dass sich Asylsuchenden ihr Asylland nun nicht mehr selber aussuchen können, obwohl es meist sehr gute, nachvollziehbare Gründe gibt, wieso Menschen ein konkretes Land wählen: Sprachkenntnisse, die Tatsache, dass dort bereits Verwandte oder Bekannte leben, bestimmte Kenntnisse über das konkrete Land. Besonders prekär aber wird die durch das Dublin-Verfahren herbeigeführte Situation dadurch, dass in einigen Ländern der Europäischen Union, über die besonders viele Geflüchtete einreisen, die Lebensbedingungen für diese dramatisch sind, nicht zuletzt weil diese Länder in den Jahren der Finanz- und Schuldenkrise von einer in ihren Auswirkungen der Verarmung weiter Teile der Gesellschaft drastischen Austeritäts- und Sparpolitik betroffen waren. Was also beschönigend als unterschiedliche „Standards“ bezeichnet wird, kann für die einzelnen Menschen, denen die Abschiebung bevorsteht, massive Konsequenzen haben: ihnen kann in Italien die Obdachlosigkeit drohen oder etwa in Ungarn oder Bulgarien sogar eine Inhaftierung, bei der es nicht selten zu Übergriffen und Misshandlungen kommt.

Abschiebungen nehmen zu

In solch einer Situation wird es nicht wundern, wenn Menschen die solche und ähnliche Situationen erlebt haben oder von ihnen unmittelbar bedroht sind, sich ins Kirchenasyl flüchten. Dramatisch spitzt sich dabei die Situation besonders durch die letzten Asylverschärfungen zu, die den Spielraum der lokalen Ausländerbehörden verkleinern, was dazu führt, dass es vermehrt auch zu Abschiebungen von traumatisierten Menschen kommt. Deshalb verwundert es unter diesen Umständen kaum, wenn die Zahl der Kirchenasyle mit 547 Personen in 323 Kirchenasylen einen Höchststand erreicht hat.2 Das macht deutlich, dass in der momentanen politischen Situation insbesondere diejenigen unter die Räder kommen, die besonders schutzbedürftig sind: Familien mit kleinen Kindern, Kranke, insbesondere auch durch die Ursachen der Flucht und auf der Flucht oft psychisch schwer traumatisierte Menschen.3 Aufgrund der ständigen gesetzlichen Verschärfungen und des massiven politischen Willens mehr Abschiebungen vorzunehmen, der auch mit einer zunehmenden Akzeptanz migrationsfeindlicher Diskurse in Teilen der Gesellschaft zu tun hat, werden die Möglichkeiten für sie einer gefürchteten Abschiebung und den damit verbundenen humanen Härten zu entgehen immer kleiner.

Kirchenasyl als Gewissensentscheidung und Ziviler Ungehorsam

In dieser Situation wird das Kirchenasyl oft zur letzten möglichen Zuflucht. Niemandem fällt dabei der Schritt zu dieser Entscheidung leicht: den Betroffenen, für die das Kirchenasyl eine extreme emotionale Belastung bedeutet, da sie sich in eine Situation voller Einschränkungen und in eine große Abhängigkeit begeben nicht und auch nicht den GastgeberInnen, die nun die Verantwortung für die Menschen im Kirchenasyl übernehmen müssen, auch finanziell. Das Kirchenasyl beruht dabei immer auf der Gewissensentscheidung einer Gemeinschaft, die hier einen Regelverstoß und die Gesetzesübertretung wagt, um der Menschen willen, die zu beschützen sie sich entschließt. Sie stellt den Schutz der Würde, des Wohles, der Gesundheit und manchmal sogar des Lebens dieser Menschen über ein gesetzliches Verfahren, das sie für illegitim erachtet, obwohl es legal sein mag. In dieser Weise ist das Kirchenasyl ein Akt Zivilen Ungehorsams unter Berufung auf den Schutz von Menschenrechten, dem alle Gesetze untergeordnet sein müssen. Denn das innerste Prinzip aus dem allein ein Gesetz seine Legitimität ziehen kann und an dem es sich prüfen lassen muss, ist es, das Recht und die Würde von Menschen zu schützen. Es lässt sich nicht einfach positivistisch annehmen, dass alles, was gesetzlich festgelegt sein mag, deswegen schon in einem solchen Sinne Recht ist. Der Theologe und Ökonom Franz Hinkelammert bringt das so auf den Punkt: „Es geht also darum, das Gesetz immer dann zu suspendieren, wenn seine Erfüllung die Lebensmöglichkeit des Menschen zerstört“4.

Recht auf Rechte

Kirchenasyl kann somit zu einer Form werden, Partei zu ergreifen für Recht und Würde von Menschen, denen das Gesetz Unrecht anzutun droht. Parteilich an der Seite all jener zu stehen, die unterdrückt oder deren Rechte verletzt werden, ist aber ein Auftrag, der den Kirchen von ihrem eigenen Selbstverständnis her zutiefst geboten ist.5 Es ist in dieser Form eine konkrete Praxis des Menschenrechtsschutzes und damit immanent auch immer eine politische Praxis, ob sich die jeweils Handelnden dessen bewusst sind oder nicht. Denn die Geltung herrschender Normen und Gesetze anzuzweifeln, weil sie die Rechte von Menschen nicht ausreichend schützen oder gar verletzen, geht über private Hilfe hinaus und wird zu einer politischen Intervention, die auf gravierende Missstände des Asylrechts aufmerksam macht, ob dies nun offen ausgesprochen wird oder allein dadurch geschieht, dass Kirchenasyl gewährt wird, um nicht noch mehr Menschen zu Opfern dieser Missstände werden zu lassen.

Das Kirchenasyl verteidigt des Anspruch von Menschen auf Rechte, allein um ihrer Bedürftigkeit willen. Auch wenn der Impuls zum Kirchenasyl auch oft von einer positiven Erfahrung mit diesem konkreten Menschen oder dieser bestimmten Familie ausgeht, so geht es doch im Grunde beim Kirchenasyl um etwas anderes: Die Menschen, die hier aufgenommen werden, haben dies nicht in besonderem Maße verdient, weil sie intelligenter, unserer Gesellschaft nützlicher, arbeitsamer oder freundlicher sind als andere. Vielmehr gelten ihnen Schutz und Solidarität, weil sie diese in besonderer Weise nötig haben und weil es dann zur ethischen Pflicht werden kann, ihnen diese nicht einfach zu verweigern. Das macht wohl den zutiefst humanen Charakter des Kirchenasyls im Letzten aus.

Zur Autorin:

Dr. Julia Lis ist Mitarbeiterin am Institut für Theologie und Politik und Mitbegründerin des Netzwerks Kirchenasyl Münster. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Kirchenasyl, Theologie im Kontext sozialer Bewegungen, Flucht und Migration, Kirche der Armen, Krisenproteste. Zuletzt herausgegeben (zusammen mit Philipp Geitzhaus und Michael Ramminger): Auf den Spuren einer Kirche der Armen. Zukunft und Orte befreienden Christentums, Münster 2017.

1Vgl. hierzu: Voigt, Claudius: Asylpolitik der Bundesregierung: Das freundliche Gesicht ist Geschichte in: Institut für Theologie und Politik/Netzwerk Kirchenasyl Münster: Kirchen.Asyl. Kirchenasyl ist Menschenrechtsschutz – eine Handreichung, Münster 2016, S. 38f.

2Stand vom Januar 2017, Bundesarbeitsgemeinschaft Kirchenasyl unter: http://www.kirchenasyl.de/aktuelles/, zuletzt abgerufen am 24.2.17.

3Vgl. Voigt, Asylpolitik, S. 36f.

4Hinkelammert, Franz Josef: Reflexionen zum Schuldenproblem: die Entleerung der Menschenrechte, Arbeitspapier III des Instituts für Theologie und Politik, Münster 2015, S. 7.

5Vgl. Kern, Benedikt/Lis Julia: Kirchenasyl als prophetische Praxis und politisches Mittel, in: Rundbrief des Instituts für Theologie und Politik 43 (2015), S. 3.