Artikel: Kirche(n) in (sozialer) Bewegung

Texte Bild WebKirche(n) in (sozialer) Bewegung.
Der Papst, die Kirche der Armen und Perspektiven für eine Theologie der Befreiung in Europa

von Philipp Geitzhaus und Julia Lis, 2017

Veröffentlicht in der exegetischen Zeitschrift Texte und Kontexte Nr. 153-155, 40. Jahrgang 1-3/2017: Mit Paulus in der Welt. Festschrift für Gerhard Jankowski zum 80. Geburtstag, S. 145-158. Der Artikel steht in der Rubrik „Texte“ zum Download zur Verfügung.

Wer über Befreiungstheologie heute nachdenken will, gar über eine Befreiungstheologie in und für Europa wird nicht umhin kommen, zunächst einmal zu konstatieren, dass dies aus einer Situation der Schwäche heraus passiert. Linkes Christentum ist in den europäischen Gesellschaften und in den Kirchen eine marginale Erscheinung: Nur selten gelingt es aus dieser Position heraus, Themen zu setzen und Diskurse zu prägen. Dennoch gibt es Theologinnen und Theologen die jenseits akademischer Konjunkturen daran festhalten, die Frage nach Befreiung, nach Weltveränderung, nach dem, was diese Verhältnisse, die millionenfach den Tod produzieren und die Zerstörung der Natur vorantreiben, umdrehen kann, in den Mittelpunkt ihres theologischen Denkens und Arbeitens zu rücken. Zu ihnen gehört sicher auch Gerhard Jankowski. Zu ihnen bemühen auch wir am Institut für Theologie und Politik (ITP) uns zu gehören. Gerhard Jankowski hat diese Verknüpfung der christlichen Theologie, die im Glauben an die Auferstehung des Messias Jesus wurzelt, mit einer weltverändernden politischen Praxis in seinem Kommentar zum Korintherbrief überaus treffend auf den Punkt gebracht und damit zugleich sehr prägnant ein politisch-theologisches Programm formuliert, das uns hier am ITP mit ihm zutiefst verbindet: „Gegeben ist der Sieg durch den Messias Jesus. Er ist aus den Toten auferweckt worden. Die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten, auf die neue Schöpfung, die totale Veränderung der Verhältnisse, auf die neue Menschlichkeit hat in seiner Auferweckung ihren festen Grund. Diese Hoffnung kann das Leben jetzt schon durchdringen. Die neue Menschlichkeit hat ein Gesicht bekommen. Der Aufstand gegen den Tod kann beginnen.“1 In jüngster Zeit lässt sich allerdings auch eine neue Konjunktur für gesellschaftliche und politische Themen beobachten. Ja, sogar die Befreiungstheologie erlangt in diesen Zusammenhängen wieder eine gewisse Prominenz. Hauptsächlich hängt dies wohl mit Papst Franziskus zusammen – dem derzeit bekanntesten Kapitalismuskritiker weltweit. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Tatsache, dass dieser Papst die kapitalistische Wirtschaftsordnung und ihre globalen Konsequenzen in scharfen Worten verurteilt, sondern auch die Form, in der er das tut: im Dialog, nicht nur mit den Regierenden und den Machthabern, sondern auch mit den VertreterInnen der sozialen Bewegungen und aus der Überzeugung heraus, dass ein Wandel von Grund auf nur von unten geschehen kann – in Kirche wie in Gesellschaft.

Der Papst und die sozialen Bewegungen

So traf sich Papst Franziskus im Juli 2015 bereits zum zweiten Mal mit VertreterInnen sozialer Bewegungen, um mit ihnen über die Lage der Welt und der Bewegungen, über Hoffnungen, Ziele und Schwierigkeiten zu sprechen. Seit den radikalen kapitalismuskritischen Passagen von Evangelii Gaudium wie „diese Wirtschaft tötet“ und „die Ungleichverteilung der Einkünfte ist die Wurzel der sozialen Übel“ hoffen viele engagierte ChristInnen und Linke, dass diese deutliche Sprache nicht früher oder später durch eine „realpolitische Pragmatik“ oder gar eine reaktionäre Kehrtwende ersetzt wird. Doch mit der jüngsten Rede des Papstes an die sozialen Bewegungen wurde stattdessen die Kapitalismuskritik sogar noch zugespitzt: „Die Erde, die Völker und die einzelnen Menschen – so Franziskus – werden auf fast barbarische Weise gezüchtigt. Und hinter so viel Schmerz, so viel Tod und Zerstörung riecht man den Gestank dessen, was Basilius von Cäsarea, einer der ersten Theologen der Kirche, den »Mist des Teufels« nannte. Das hemmungslose Streben nach Geld, das regiert, das ist der »Mist des Teufels«.“ Angesichts dieser Situation fordert er eine Veränderung der Strukturen der ausschließenden Globalisierung. Träger dieser Veränderungen sind in den Augen des Papstes vor allem die sozialen Bewegungen.

Doch neben diesen klaren Worten diente dieses Treffen insbesondere der Solidaritätsbekundung eines Papstes mit den „Volksbewegungen“ und genau damit hat Franziskus eine „historische Wende“ im Verhältnis von Kirche und Bewegungen eingeläutet. Der Papst dankte in seiner Rede denjenigen für ihr Engagement, ihren Kampf, ihren aktiven Widerstand, welche von den meisten als „Chaoten“, „Traumtänzer“ oder „unverantwortliche Utopisten“ diffamiert werden. Dieser Kampf werde – hoffentlich – den „erlösenden Wandel [cambio redentor]“, wie es Franziskus formuliert, bringen, den die Menschen und die ganze Erde benötigen.

Die Stärken der päpstlichen Gesellschafts- bzw. Kapitalismuskritik liegen auf der Hand. Es ist ohne Zweifel beeindruckend, dass der höchste Repräsentant der katholischen Kirche, also einer Weltinstitution ohne gleichen, so deutliche und scharfe Worte findet, um die herrschenden Verhältnisse anzuklagen. Und es ist bemerkenswert, wie sich bis in die Sprache seiner Analyse hinein eine Nähe zu den sozialen Bewegungen feststellen lässt: Wenn der Papst im Zusammenhang mit seiner Kritik an der gegenwärtigen wirtschaftlichen Ordnung von der Sehnsucht nach einer Befreiung von einer „individualistischen, versklavenden Traurigkeit“ spricht, dann klingt darin eine Nähe zu dem an, was die Blockupy-Bewegung „diese organisierte Traurigkeit des Kapitalismus“2 nennt.

Zu Recht sprechen manche deshalb von einer Revolution im Vatikan oder vielleicht etwas realistischer nicht von einer Revolution, „aber von etwas, dass dazu führen könnte“3, wie Kuno Füssel und Michael Ramminger in ihrem Kommentar zu Evangelii Gaudium konstatierten. Denn auch eine noch so scharfe und detaillierte Kritik eines Einzelnen reicht nicht für eine Revolution aus – auch nicht die Kritik eines Papstes. Insofern ist sein Anliegen (das einer „erlösenden Revolution“) mit dem Problem der fehlenden oder zumindest schwachen christlichen Basisbewegung, bei gleichzeitig „begrenzter Hausmacht“4 konfrontiert. So entsteht die Erwartung an Franziskus, er solle seinen Worten Taten Folgen lassen, indem er die Vatikanbank und jeglichen kirchlichen Besitz auflöse usw. Die Macht habe er ja, schließlich gibt es den Jurisdiktionsprimat, der einer einzigen Person eine – formell – absolute Entscheidungsmacht über die gesamte katholische Kirche ermöglicht. Solche Erwartungen zielen auf eine Revolution „von oben“ und lassen vergessen, dass auch in der Kirche, wer die Regierung hat, noch lange nicht die Macht hat. Ein weiteres Problem solcher Erwartungen ist, dass sie allzu oft mit einer praktizierten Verantwortungsabgabe an den Papst einhergehen. Entweder freut man sich darüber, dass Kirche (wenn auch nur vertreten durch den höchsten Repräsentanten der katholischen Kirche) öffentlich wieder etwas zu sagen hat, angesichts allgegenwärtiger Krise, Krieg und Kapitalismus. Oder man übt sich in möglichst kühler Distanz, um die Anregungen von Franziskus für sich selbst und für die herrschenden Verhältnisse in keiner Weise gefährlich werden zu lassen. Was also bedeutet es angesichts der Schwäche einer Bewegung von unten, dass hier Hilfe von so unerwarteter Stelle kommt? Wie lässt sich die Tatsache eines kapitalismuskritischen Papstes in Bezug setzen zum befreiungstheologischen Engagement? Welche Chancen und Möglichkeiten können sich daraus ergeben, wo stoßen diese aber auch an ihre Grenzen?

Kirche als Verbündete der sozialen Bewegungen

Aus dieser Perspektive erscheint an der Rede des Papstes vor allem eins wichtig: Dass er bemüht ist die katholische Kirche neu und auf eine bisher amtskirchlich unerhörte Weise zur Verbündeten der sozialen Bewegungen zu machen, wenn er etwa sagt: „Die Kirche kann und darf in ihrer Verkündigung des Evangeliums diesem Prozess [gemeint ist der Prozess einer grundlegenden Veränderung der bestehenden Ordnung] nicht fern stehen.“ Dieses Bündnis wird von Franziskus nicht als kirchlicher Paternalismus verstanden, er will die Kirche ausdrücklich nicht als Avantgarde oder Speerspitze der Bewegung sehen, sondern als eine Bündnispartnerin und Begleiterin der Bewegungen im Kampf um ein menschenwürdiges Leben für alle, als dessen Säulen er die grundlegenden Bedürfnisse nach Land, Wohnung und Arbeit (tierra, techo y trabajo) benennt. Freimütig und ehrlich gibt er zu, kein Rezept zu haben und unterscheidet sich damit deutlich von einer meist der katholischen Soziallehre zugrunde liegenden Auffassung, die vorgibt, die Kirche habe durch ihr christliches Menschenbild im Grunde immer schon ein Patentrezept für alle jeweiligen Herausforderungen der Zeit und verkündige eine Moral, deren individuelle Befolgung im Grunde die Lösung aller Probleme der Welt darstelle.5 Diese Erkenntnis, dass der Glaube und seine Verwirklichung in der Welt von heute auf eine Analyse der bestehenden Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnisse angewiesen bleiben, war ein entscheidender Ausgangspunkt der Befreiungstheologie gewesen. Mit der Befreiungstheologie teilt der Papst auch den Glauben an die Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels (cambio). Die Befreiungstheologie, in Lateinamerika wie auch in Europa, hatte diesen immer als Bruch mit dem bestehenden kapitalistischen System (und den damit einhergehenden Diktaturen) charakterisiert. So skizzierte Georges Casalis, ein französischer Vertreter der europäischen Befreiungstheologie, die gesellschaftliche Situation in den 1970er Jahren, vor deren Hintergrund er seine Theologie entwickelte, einmal folgendermaßen: „Der europäische Kapitalismus in der Krise bietet den Völkern Europas und der übrigen Welt keinen Ausweg. Die einzige wirkliche Hoffnung hängt an einer Revolution, das heißt an einem Bruch mit dem System, einem System, dessen Weiterentwicklung, gestützt auf eine immer größer werdende strukturelle Gewalt, fataler Weise in Richtung immer größerer Ungerechtigkeit erfolgen würde.“6 Diese Einschätzung klingt leider in vielem, angesichts des Verlaufs der „Krise“ seit 2008, insbesondere in Griechenland, überraschend aktuell, auch wenn die Hoffnung auf einen Bruch mit den herrschenden Verhältnissen viel weniger ausgeprägt ist, als dies wahrscheinlich in den 1970er Jahren der Fall war, als Casalis‘ Theologie entstand. Die Konsequenzen, die diese Situation für das Theologietreiben haben muss, hat Casalis ebenfalls in kurzen Worten auf den Punkt gebracht: „Es wird hier gebrochen mit einem abstrakten und allgemeinen Diskurs; die Praxis ist konkret und sehr wohl verankert in Raum und Zeit, in Abhängigkeit von der Gestalt, welche die Klassenkämpfe annehmen; in dem Maße, wie man sich bewußt in diese einreiht, wird man auch militant. […] Es geht dabei nicht darum, theoretisch einen neuen Typ von Theologie zu entwerfen. Es geht vielmehr im strengen Sinn um Praxis, um revolutionäre Praxis, welche die erste Voraussetzung für die Ausarbeitung einer Theologie des Volkes darstellt.“7 Diese Frage nach einer revolutionären Praxis, einer Praxis also, die die bestehenden Verhältnisse umstürzt, stellt sich heute aus der Position der weltweiten Schwäche derjenigen, die sich dafür einsetzen, anders. Diese Schwäche ist vor allem eine der Organisation, aber auch eine der Fähigkeiten und Möglichkeiten Visionen bzw. Alternativen zu denken.

Volk Gottes: Stricken an der Gegen-Erzählung und Engagement auf der Straße

Diese Schwächen spiegeln sich in den Kirchen wieder, wo es immer weniger gelingt, Prozesse der Vergemeinschaftung und Solidarisierung auf Dauer herzustellen (wohl auch, weil der vom Neoliberalismus ideologisch geformte Mensch, sich viel eher auf ein zeitlich befristetes Projekt8 einlassen kann, als auf auf Verbindlichkeiten gründende Strukturen und Prozesse9). Ein ähnliches Problem äußert sich wohl auch in der Flüchtigkeit von Bewegungen: die verhältnismäßig geringe institutionelle Verankerung bewahrt diese vor Starrheit und ermöglicht ein flexibles Reagieren auf die jeweiligen Problemkonstellationen, sie führt aber oftmals auch dazu, dass es nicht gelingt, eine Kontinuität von Widerstand zu organisieren. Das hängt auch damit zusammen, dass es nicht immer einfach ist, einen Zusammenhang zwischen den vielen einzelnen Kämpfen und Themengebieten herzustellen und eine übergreifende Idee zu formulieren.

Während sie sich also teilweise mit ähnlichen Problemen konfrontiert sehen, ist das Verhältnis von sozialen Bewegungen, bzw. (linken) politischen AkteurInnen und ChristInnen sicherlich – nicht erst heute – kein einfaches. Auch wenn sich christliche Initiativen auf eine Annäherung oder gar Beteiligung an sozialen und politischen Kämpfen verständigen, ist damit wenig über die konkrete Umsetzung ausgesagt – allzu oft bleibt es leider bei Sonntagsreden und Lippenbekenntnissen. Dennoch gibt es auch gegenwärtig in der BRD einige ernst zu nehmende Versuche, am Aufbau von Bündnissen von ChristInnen mit sozialen Bewegungen zu arbeiten. Die beiden größeren Aufbrüche basiskirchlicher Initiativen in Deutschland der letzten Jahre waren einmal die Initiative um die Konziliare Versammlung 2012 und den Katakombenpakt (2015) sowie die Gruppen im Kontext der ökumenischen Versammlung 2013. Beide Initiativen haben ihre Nähe zu den sozialen und politischen Bewegungen explizit hervorgehoben. In der Botschaft der Konziliaren Versammlung ging man sogar so weit, die Legitimität des Volk-Gottes-Seins an die Verbindung zu diesen Bewegungen zu knüpfen. Die Versammlung formulierte im Anschluss an die Selbstverpflichtung zum Kampf für die Würde aller Menschen: „Wir sind Volk Gottes, wenn wir mit vielen suchenden Menschen weltweit, mit feministischen sozialen und politischen Menschenrechts- und Demokratiebewegungen verbunden sind. Darin sind die Lesben-, Schwulen- und Transgender-Bewegungen eingeschlossen.“10

Diese Formulierung steht deutlich in einer befreiungstheologischen Tradition. So war es von Anfang an ein befreiungstheologisches Anliegen nicht nur die Nähe zu den Befreiungsbewegungen zu suchen, sondern die aktive Teilnahme an den sozialen und politischen Kämpfen als explizit christlichen bzw. biblischen Auftrag zu verstehen. Die theoretischen Ansätze reichen bis dahin, dass der Begriff „Volk Gottes“ ausschließlich vom Reich Gottes her interpretiert wird, wie es beispielsweise Ignacio Ellacuría herausstellte. Nur diejenigen, die im Sinne dieses „Reiches“, welches sich vor allem durch die drei Dimensionen Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe11 auszeichnet, kämpfen, können Volk Gottes genannt werden. Die ChristInnen bzw. die Kirche stehen vor der Aufgabe, Teil dieses Volkes zu werden, welches das Reich Gottes verwirklichen soll und wird.

Die beiden genannten christlichen Aufbrüche haben dementsprechend einen hohen, aber konsequenten, Anspruch formuliert, den es einzulösen gilt, um dem Auftrag des Reich-Gottes-Engagements gerecht zu werden. Doch ist es offensichtlich, dass es keiner der beiden Initiativen bisher gelingen konnte, sich wirklich aktiv in die Kämpfe sozialer Bewegungen hierzulande einzubringen, obgleich es kleinere Annäherungen einzelner Gruppen und Personen gab und gibt. Hier sei beispielsweise auf die Beteiligung einiger ChristInnen an den Blockupy-Protesten gegen die Austeritätspolitik hingewiesen. In ihrem Aufruf schreiben sie: „Anklage und Protest – auch sie sind Teil des biblischen Erbes, in dem wir verwurzelt sind. Wie einst die Prophet_innen glauben wir auch heute, dass wir Christ_innen gerufen sind, Unrecht und Ungerechtigkeit dort, wo wir sie sehen, klar zu benennen, auch wenn es unbequem ist. Wir müssen erklären und überzeugen, aber auch mutig prophetische Zeichen setzen, wo dies heute gefragt ist. […]. Viele Menschen werden sich am 18.3. aufmachen, um durch ihren Protest zu zeigen, dass sie mit der herrschenden Spar- und Verarmungspolitik nicht einverstanden sind. Sie werden durch Blockaden um die EZB den Normalbetrieb unterbrechen. Als Christ_innen wollen wir solidarisch mit ihnen in Frankfurt auf die Straße gehen: Unterstützen wir den Protest – denn zu feiern gibt es dort nichts!“12 Als Institut für Theologie und Politik haben wir uns an diesem Aufruf beteiligt und versucht damit zu erläutern, wieso Aktionen auf der Straße gegen die Austeritätspolitik und das Spardiktat für uns als ChristInnen in der BRD heute eine dringliche Aufgabe sind: Weil sie eine Unterbrechung des kapitalistischen Alltags darstellen und somit das Potential entfalten können, diesen selbst symbolisch infrage zu stellen und auch weil sie Zeichen der Solidarität mit den Menschen in Südeuropa sind, die vor allem unter der Krise leiden.

Wir beteiligen uns auch deshalb an den Blockupy-Protesten, weil wir es falsch finden als ChristInnen die reale Konfrontation nicht nur mit staatlichen Repressionen, sondern auch mit den Bewegungen zu vermeiden, auch wenn wir um die Schwierigkeiten und Anstrengungen, die Mühen der Ebene in der politischen Zusammenarbeit, wissen – besonders in „Zeiten messianischer Dürre“ (Elsa Tamez). Die einzige Alternative dazu wäre die Konzentration auf das (vermeintliche) christliche „Kerngeschäft“. Dessen häufigste Variante dürfte die Ausgestaltung diversester „Spiritualitätsmethoden“ sein, die jegliche Auseinandersetzung mit Religionskritik – einer der größten Verdienste der Befreiungstheologie! – hinter sich gelassen haben und sich stattdessen auf dem Markt der Sinnstiftung positionieren wollen. Umgekehrt glauben wir nicht, dass es genügt, als ChristInnen einfach in den sozialen Bewegungen aufzugehen, vielmehr glauben wir an die Relevanz eines befreienden Christentums auch für die gegenwärtige Positionsbestimmung von ChristInnen. Eine solche Positionsbestimmung, wenn sie wirklich kontextuell relevant sein soll, ist kein Bekenntnis, das einmal hervorgebracht allgemeingültig und für alle Zeit bestehen bleibt. Vielmehr konfrontieren uns die Ereignisse und Entwicklungen in Welt, Gesellschaft und Kirche mit der Notwendigkeit, an einer befreiungstheologischen Positionierung kontinuierlich zu arbeiten und diese den sich wandelnden Verhältnissen entsprechend weiterzuentwickeln. Dazu dies gemeinsam mit anderen zu tun, sollen vor allem unsere Studientage im ITP, die Befreiungstheologischen Sommerschulen, Veranstaltungen, Diskussionen, Tagungen und unsere Publikationen dienen. Das Grundmotiv bleibt dabei das Weiterschreiben bzw. Weiterstricken13 der Großen Erzählung: mal als Trauern um ihre verlorene Relevanz, wie es Ton Veerkamp in Die Welt anders. Die politische Geschichte der Großen Erzählung hervorgehoben hat, mal aber auch als Aktualisierung einer immer noch Menschen bewegenden Geschichte von Unterdrückung und Befreiung, Leiden und Auferstehung, Hoffnung auf Gleichheit und Freiheit für alle. So versuchen wir unsererseits an dem ernsthaften Problem zu arbeiten, dass dieser neoliberale Kapitalismus zwar mittels einer ausgeprägten Kulturindustrie viel zu viel erzählt, keine Erzählung aber eine Alternative zu diesem Neoliberalismus bieten soll. Es bedarf dementsprechend dringend der Gegenerzählung. Eine solche Gegenerzählung muss aber eine mit bestimmten Inhalten sein. Denn sie muss sich bewähren in einer Zeit, in der das Diktum gilt: Inhalte überwinden!, wie es der Satiriker Martin Sonneborn immer wieder entlarvend formuliert. Zu diesen Inhalten gehören die biblischen Themen wie Solidarität, Barmherzigkeit, das Leidensgedächtnis, die Hoffnung auf Erlösung etc. In der jüdischen und der christlichen Tradition ist dieses Festhalten an jenen Inhalten, die die wesentlichen Themen der menschlichen Existenz und seines Verhältnisses zur Welt ausmachen, mit dem Begriff des Gedenkens überschrieben. Was dieses Gedenken meint, beschreibt Gerhard Jankowski so: „Gedenken ist nicht einfach erinnern. Gedenken hält einen Menschen oder ein gutes Geschehen lebendig. Nicht gedenken heißt vergessen, tilgen, auslöschen, im wahrsten Sinne des Wortes totschweigen.“14 Dieses Gedenken bleibt zugleich gebunden an zentrale inhaltliche Charakteristika, die die Gemeinschaft der ChristInnen konstituieren: „Vertrauen, Solidarität und Hoffnung sind die Charakteristika der Ekklesia. Sie lebt vom Werk des Vertrauens, von der Arbeit der Solidarität und der Ausdauer der Hoffnung.“15

Diese Themen werden interessanterweise in den letzten Jahren von einigen linken (nicht-christlichen) PhilosophInnen mit expliziten biblischen Bezügen aufgegriffen, wie es vor allem die Paulusrezeptionen von Giorgio Agamben, Alain Badiou oder Slavoj Žižek und die Verwendung zahlreicher biblischer Termini beispielsweise in den Veröffentlichungen von Michael Hardt und Antonio Negri zeigen. Damit erkennen sie in der christlichen Tradition die prinzipielle Möglichkeit der Emanzipation an, was sicherlich ein Anknüpfungspunkt zwischen Theologie und linker Theorie bzw. ChristInnen und linker Bewegung sein könnte. Die Paulusrezeption stellt im Werk der linken Theoretiker dabei einen bedeutenden Anknüpfungspunkt an christliche Tradition dar. So mühen sie sich um etwas, was Gerhard Jankowski als Theologe tut: eine politische Interpretation der von Paulus verfassten und im Neuen Testament überlieferten Schriften, die deren historische Kontextualisierung radikal ernst nimmt und zugleich aber Anknüpfungspunkte für politische Diskussionen heute bietet. Das Weitererzählen der Großen Erzählung darf und muss also nicht von der Beteiligung an den Bewegungen, von ihren Orten und Kämpfen dispensieren und auch nicht davor, solidarisch mit diesen daran zu arbeiten, wie diese fortgeschrieben und weitergeführt werden können, unter den jeweils veränderten historischen Bedingungen. Doch muss man anerkennen, dass dies offensichtlich in einer „Welt, wo die Befreiung die Ausnahme, Unterdrückung die Regel ist“16, geschieht; oftmals aus einer Position der Schwäche heraus, in der das Erzählte eben nicht als unmittelbar plausibel oder gesellschaftlich selbstverständlich gelten kann und wird. Eine Gegenerzählung entsteht aus und in den Kämpfen, muss sich von ihnen beeinflussen lassen sowie sich in diese mit „hineinweben“.

Dementsprechend stellt einerseits die Tradition der biblisch geprägten Gegenerzählung als auch, wie eingangs gezeigt, ein radikaler kapitalismuskritischer Papst, die Basiskirche, das reformorientierte Christentum, uns alle vor die Herausforderung, wirkliche Anknüpfungspunkte an die politischen und sozialen Bewegungen zu finden und diese „Früchte tragen zu lassen“.

„Weiterstricken“ in Kirche und sozialen Bewegungen

Als Institut für Theologie und Politik sehen wir es als unsere Aufgabe, Theologie im Kontext von sozialen Bewegungen bzw. – wie es häufig formuliert wird – Theologie an der Schnittstelle von Kirchen und sozialen Bewegungen zu treiben. Soziale Bewegungen und Kirchen werden dabei nicht nur als Forschungsschwerpunkte verstanden, sondern als Orte, in welchen wir aktiv partizipieren, die wir mitgestalten und mit anderen gemeinsam weiterentwickeln (wollen). Damit unterscheidet sich diese theologisch-wissenschaftliche Arbeit durchaus vom gängigen akademischen Betrieb, wo die eigene Arbeit, auch die theologische, selten als teilnehmende und perspektivische, also einer Reich Gottes Vision verpflichtete, theoretische Praxis begriffen wird. Ganz konkret meint für uns diese theoretische Praxis heute, hier im Kontext der BRD, vor allem die Beschäftigung mit den Themen und Kämpfen der Bewegung gegen die europäische Austeritätspolitik, der Flüchtlingsbewegung und den Organisierungsprozessen christlicher Basisbewegungen. Man wird einwenden können, dass das Sprechen über Bewegungen in diesem Kontext eine Relevanz dieser Prozesse suggeriert, die diese faktisch nicht haben. Doch gerade ihre Fragilität berechtigt aus unserer Perspektive nicht dazu, diese Bewegungen zu ignorieren, sondern macht die praktische Mitarbeit in ihnen und die theoretische Auseinandersetzung mit ihnen nur noch dringlicher.

Die Bewegung, die sich in der BRD mit den Auswirkungen der Banken- und Finanzkrise in Südeuropa beschäftigt, wird heute vor allem vom Blockupybündnis organisiert. Dieses klagt die totale Ökonomisierung und Verarmung als falsche Universalität (Balibar) an und setzt dieser die Perspektive einer solidarischen Commune entgegen. Damit ist der Versuch verbunden, eine Perspektive über die herrschenden neoliberalen Verhältnisse hinaus zu eröffnen, eine, die die politischen und ökonomischen Bedingungen in der EU transzendiert. Die Blockupybewegung hat sich dabei von Anfang an bemüht, Solidarität praktisch werden zu lassen, nicht nur an ihrem symbolischen Ausdruck im Rahmen der Blockaden der EZB zu arbeiten, sondern auch an einer praktisch-politischen Vernetzung mit antikapitalistischen Bewegungen in anderen Ländern der EU. Der Anspruch war es dabei stets, nicht nur auf Informationsaustausch zu setzen, sondern eine Praxis des Gemeinsamen, im Sinne einer neuen Commune zu entwickeln.17 Unsere Aufgabe als Institut für Theologie und Politik sehen wir diesbezüglich einerseits in der Teilnahme an dieser „Praxis des Gemeinsamen“, andererseits ist es unser Anliegen diese Praxis und diese Perspektiven mit jener von ChristInnen und ihrer Theologie zu vermitteln; d.h. eine Grundfrage der Befreiungstheologie aufzugreifen, was der Kampf der sozialen Bewegungen mit dem Reich Gottes, was die erhoffte Befreiung mit der Erlösung zu tun hat. Hinweise in diese Richtung, die uns aufzeigen können, wie sich hier Zusammenhänge herstellen lassen, finden sich an vielen Stellen auch in den Texten von Gerhard Jankowski, etwa, wenn er über den Zusammenhang von Auferstehung und Weltveränderung schreibt: „Die Schlußfolgerung, die er [Paulus] dann zieht, lautet: Wer sagt Auferstehung aus den Toten gibt es nicht, für den gibt es keine Hoffnung auf eine Veränderung des Lebens, für den ist alles Reden vom Messias sinnlos, für den ist alles Vertrauen auf den Messias unsinnig. Auferstehung aus den Toten ist ganz und gar unmöglich, wie auch die völlige Veränderung des Lebens unmöglich ist. Wenn aber dennoch Tote auferstehen, dann ist auch eine totale Veränderung des Lebens möglich geworden.“18

Auffällig ist, dass diese Situation der „Krise“ von vielen existenziell interpretiert wird, was sich in der Haltung eines „so geht es nicht weiter“ und damit in einer expliziten Positionierung ausdrückt.19 Zur Zeit wird diese existenzielle Frage in Form des Begriffs der Militanz diskutiert, der etwa im Sinne Alain Badious verstanden werden kann als „Treue“ zu einer schon einmal dagewesenen „kommunistischen“, d.h. absolut brüderlich-egalitären, Erfahrung. Thomas Seibert, einer der prominenten Theoretiker der Blockupybewegung und der Interventionistischen Linken, schreibt dazu: „Folgt strategisches Handeln normalerweise so sehr einem Kalkül, das es selbst kalkulierender, wortwörtlich rechnender Natur ist, setzt die Militante in ihrem Kalkül auf ein Element, das im Letzten unkalkulierbar ist, also unberechenbar und eben darin ereignishaft ist.“20 Die Militanz soll demnach ein von einer Hoffnung auf das Nicht-Planbare, auf ein Ereignis, getragenes Engagement sein. Die Krise wird zur Entscheidungssituation, in der Möglichkeitsräume einer Zukunft entstehen, die (noch) nicht denkbar ist und somit die eigene Sprachfähigkeit herausfordert.

Hier ergibt sich auch ein inhaltlicher Bezug zur Flüchtlingsbewegung, die mit dem Recht aller auf freies Gehen und Bleiben (weltweit) ebenfalls so einen das Bestehende transzendierenden Möglichkeitsraum eröffnet und zugleich durch eine gemeinsame solidarische Praxis bereits im Hier und Jetzt anfanghaft zu leben versucht. So antizipiert sie ein „Weltbürgertum“ oder besser eine grenzenlose Weltgemeinschaft in emanzipatorischer Absicht21. Vor allem in diesem Praxisfeld finden engagierte ChristInnen einen Anknüpfungspunkt. Hier wird – zu Recht – konkrete Solidaritätsarbeit (bzw. Menschenrechtsarbeit) eingefordert. Diesen Anspruch gilt es heute zu organisieren, wie das beispielsweise in Form des Münsteraner Bündnisses Kirchenasyl geschieht. Gleichzeitig muss diese Menschenrechtsarbeit, um wirklich „dem Rad in die Speichen zu fallen“ anstatt nur diejenigen zu verbinden, die heute unter die Räder kommen, mit der politischen bzw. kapitalistischen Dimension von Flucht und Migrationsmanagement, sprich Abschottungs- und Selektionspolitik, in Bezug gesetzt werden. Dabei kommen die Fragen nach den Ursachen von Flucht sowie die Auseinandersetzung mit dem kalten Nützlichkeitskalkül, welches den Diskurs über Flucht und Migration und die entsprechenden politischen Konzepte prägt, in den Blick. Hier wird der Formungs- und Optimierungszwang von Menschen barbarisch auf die Spitze getrieben. Das herrschende EU-Migrationsmanagement verkündet der Welt (außerhalb der EU wie innerhalb): Der Mensch von heute hat keinerlei Ansprüche zu stellen, ob mit oder ohne verbriefte Rechte. Und wer etwas aus sich machen will (bzw. lediglich leben will), muss kämpfen oder – untergehen. Die Botschaft ist so zynisch wie verständlich. Und mit Leichtigkeit kann diese Botschaft auch in neoliberalen Arbeitsverhältnissen nachvollzogen werden. In diesem Sinne versuchen wir als ITP das lokale Engagement vieler ChristInnen mit einer politischen Perspektive zu verbinden. Neben juristischer Beratung versteht sich das Netzwerk Kirchenasyl, welches wir gemeinsam mit dem lokalen Bündnis gegen Abschiebung und engagierten Einzelpersonen aus den Kirchen gegründet haben, als Sprachrohr, um fähig zu werden, unabhängig von Kirchenleitungen diese Politik anzuklagen und auf herrschende Unrechtsverhältnisse aufmerksam zu machen.

Die Suche nach Vernetzungs- und Organisierungsmöglichkeiten von ChristInnen, die sich gegen die aktuelle Krisenpolitik oder im Bereich Flucht und Migration engagieren, hängt für uns auch zusammen mit unserem dritten gegenwärtigen Schwerpunkt, der Frage nach der Notwendigkeit sowie der Möglichkeit der (Re-)Organisierung der christlichen Basisgruppen, auch auf Grund des „Zeitfensters“, welches sich aktuell durch Papst Franziskus bietet. Unser Anliegen ist es, diese unterschiedlichen Orte, Akteure und Sprachen/Sprachspiele miteinander zu vermitteln, damit sie sich mit ihren jeweiligen Zielen und Erzählungen „verweben“ können. Das bedeutet nicht nur den Dialog untereinander zu führen, sondern auch theoretisch nach den Möglichkeiten und vielleicht auch Grenzen dieses Dialogs zu fragen und gemeinsame Inhalte aus dem Kontext verschiedener Traditionen heraus zu erarbeiten. Denn es gibt, wie oben schon angeklungen, keinerlei selbstverständliche Verbindung der verschiedenen Akteure, häufig noch nicht einmal die Wahrnehmung voneinander. Die organische Verbindung von ChristInnen und sozialen Bewegungen ist in Europa tatsächlich eine Ausnahme. Um eine solche Verbindung aber wieder möglich werden zu lassen, schien es uns deshalb geboten, die Frage nach der Organisierung heute an die Erinnerung an vergangene Aufbrüche zu knüpfen: an die Bewegungen innerhalb der katholischen Kirche, die das 2. Vatikanische Konzil zum epochenmachenden Ereignis werden ließen und an den Katakombenpakt, der zum Ausgangspunkt einer Kirche der Armen im Sinne der Befreiungstheologie wurde. Wo erinnert wird an die vergangenen Hoffnungen, an Möglichkeiten, die schon einmal greifbar waren, kann neben der Trauer über das Scheitern doch auch der Mut zum Neubeginn entstehen: Das Wissen, dass nicht immer schon alles so war, wie es ist, kann und soll uns als ChristInnen bewegen, nach dem, was heute noch unmöglich scheint, noch nicht sichtbar ist, zu suchen: nach einer anderen Kirche in einer anderen Welt.

Auf dem Weg zu einer Kirche, die interveniert

Angesichts der eigenen Schwäche und Marginalität genügt es nicht, so meinen wir, einfach dabei stehen zu bleiben und festzuhalten, was unsere Tradition als linke ChristInnen prägt und ausmacht. Vielmehr kann und muss uns die Treue zu dieser Tradition, dazu bewegen, neu nach Möglichkeiten zu suchen, um ihr Gestalt zu geben. Dies können wir nicht für uns allein, in einer Form der Abschottung und Konzentration auf unsere eigenen altbekannten Themen. Es wird nur dort möglich, wo wir nach Anknüpfungspunkten suchen, um die alten Fragen nach Befreiung und Gerechtigkeit, nach dem, was den Tod bringt und dem, was Leben in Fülle für alle Menschen ermöglicht, neu stellen zu können: in Bewegung, zusammen mit denen, die gemeinsam mit uns an einer grundlegenden, radikalen Veränderung aller Verhältnisse arbeiten wollen, „in denen der Mensch ein verächtliches, geknechtetes Wesen“ (Marx) ist. Diese Arbeit zu organisieren und sie zu verbinden mit einer theologischen Reflexion, die dem Ziel einer umfassenden Befreiung des Menschen aus den ökonomischen, politischen und sozialen Strukturen der Unterdrückung treu bleibt, dem muss sich auch eine Befreiungstheologie heute unbedingt verpflichtet wissen. So erfüllt sie ihre kirchliche Funktion im Sinne einer Kirche, die sich einmischt, die dazwischengeht, wo die Würde der Menschen bedroht wird. Erst eine Kirche, die sich in diesem Sinne als Nachfolgegemeinschaft Jesu ernst nehmen würde, eine Kirche, die interveniert also, könnte wirklich verstanden werden als Volk Gottes im Zugehen auf die Verwirklichung seines Reiches.22 In seiner Deutung der Apostelgeschichte formuliert Gerhard Jankowski dies für die frühe Ekklesia so: „Herrschaft Gottes ist für Lukas verbunden mit Befreiung. Diese Befreiung soll bis an die Ränder der Erde reichen, d.h. die von Rom beherrschte Welt durchsetzen. Das Volk Israel ist das erste unter den Völkern, das diese Befreiung erfahren hat. Die Tradition sagte, daß die Völker der Welt auf dieses Geschehen hingewiesen werden. Lukas und der messianischen Ekklesia genügte es nicht mehr, die Völker der Welt, die Gojim, nur darauf hinzuweisen. Folglich kann die Befreiung nicht mehr allein nur für Israel und für das jüdische Volk gelten, sondern auch für die Gojim, die nichtjüdischen Völker der Welt.“23

Von so einer Vision der Kirche sind wir – und daran kann auch ein radikaler, kapitalismuskritischer Papst zunächst einmal wenig ändern – noch weit entfernt. Doch heißt das nicht, dass wir diese Vision deswegen einfach als Traumbild ad acta legen können. Vielmehr gilt es im Sinne einer messianischen Nachfolgepraxis daran zu arbeiten, dass diese Vision in dieser Welt einen Ort finden kann.

Die AutorInnen:

Philipp Geitzhaus ist Mitarbeiter am Institut für Theologie und Politik und studiert(e) katholische Theologie und Philosophie in Bonn, Madrid und Münster. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Neue Politische Theologie, Kirche der Armen, Poststrukturalismus. Zuletzt herausgegeben zusammen mit Julia Lis und Michael Ramminger: Auf den Spuren einer Kirche der Armen. Zukunft und Orte befreienden Christentums, Münster 2017.

Dr. Julia Lis ist Mitarbeiterin am Institut für Theologie und Politik und Mitbegründerin des Netzwerks Kirchenasyl Münster. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Kirchenasyl, Theologie im Kontext sozialer Bewegungen, Flucht und Migration, Kirche der Armen, Krisenproteste. Zuletzt herausgegeben zusammen mit Philipp Geitzhaus und Michael Ramminger: Auf den Spuren einer Kirche der Armen. Zukunft und Orte befreienden Christentums, Münster 2017.

1Jankowski, Gerhard: Solidarisch leben. Der erste Breif des Paulus an die Korinther. Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte 121-123, 32. Jahrgang, 1-3/2009, S. 139.

2Franziskus: „Viele erhoffen einen Wandel, der sie von dieser individualistischen, versklavenden Traurigkeit befreit.“ Ders.: Ansprache am Welttreffen der Volksbewegungen vom 09.07.2015, http://www.itpol.de/?p=1804 (zuletzt abgerufen am 15.03.2017).

3Füssel, Kuno/Ramminger, Michael: Dem Kapital an die Wurzel. Evangelii Gaudium: Keine Revolution, aber ein Programm, dass dazu führen könnte, in: Fendel, Peter/ Kern, Benedikt/ Ramminger, Michael: Tun wir nicht, als sei alles in Ordnung! (EG 211). Ein politisch-theologischer Kommentar zu Evangelii Gaudium, Münster 2014, S. 21 – 34.

4Vgl. Füssel/Ramminger: Dem Kapital an die Wurzel: Mit Verweis auf die Analysen des Vatikanisten Marco Politi. S. 28 – 30.

5Papst Franziskus stellt sich dabei selbst deutlich in die Tradition der kirchlichen Soziallehre, die er positiv aufnimmt und auf die er sich bezieht, ja er betont im Grunde nichts anderes zu sagen, als es die katholische Soziallehre immer schon gesagt habe. Dennoch interpretiert er die Soziallehre neu durch die Form seiner Bezugnahme.

6Casalis, Georges: Die richtigen Ideen fallen nicht vom Himmel. Grundlagen einer induktiven Theologie, Stuttgart u.a. 1980, S. 18.

7Casalis: Die richtigen Ideen, S. 38.

8Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007, S. 278 – 282.

9Mit der neoliberalen Subjektivität und dem sich daraus entwickelnden Sozialisationstyp hat sich der Arbeitskreis ReligionslehrerInnen am ITP in jüngster Zeit ausführlich beschäftigt, vgl. ders. Wer sitzt uns eigentlich in der Schule gegenüber? Das neoliberale Subjekt: inhaltslos, standpunktlos, rahmenlos, in: Institut für Theologie und Politik: Rundbrief Nr. 43, Münster 2015. Zur Relevanz der Auseinandersetzung mit neoliberalen Subjektivierungsprozessen heute für die Befreiungstheologie vgl. auch Geitzhaus, Philipp/Lis, Julia: Ambivalente Subjekte. Befreiungstheologie und Nachfolgepraxis im Neoliberalismus, in: Lassak, Sandra/Weiler, Birgit/Gmainer-Pranzl, Franz: Theologie der Befreiung heute. Salzburg 2017.

10Hoffen und Widerstehen! Botschaft der Konziliaren Versammlung, 18. – 21. Oktober 2012 in Frankfurt, in: Institut für Theologie und Politik (Hg.): „Anders Mensch sein in einer anderen Kirche…“. Dokumentation und Weiterführung der Konziliaren Versammlung Frankfurt 2012. Werkbuch Nr. 2, Münster 2014, S. 48.

11Vgl. Ellacuría, Ignacio: Eine Kirche der Armen. Für ein prophetisches Christentum, Freiburg i. B. 2011, S. 125 f.

12Institut für Theologie und Politik / ChristInnen für den Sozialismus u.a.: Solidarität muss praktisch werden. Aufruf zum Blockupy-Aktionstag am 18. März in Frankfurt. http://www.itpol.de/?p=1627 (abgerufen am 15.03.2017).

13Dazu Roland Barthes: “Das Mitverfolgen der Textentstehung kann man sich so vorstellen, als ob man den Händen einer Spitzenstrickerin beim Herstellen von Valenciener Spitze zusehen würde. […] (Text, Gewebe und Geflecht – das ist dasselbe).“ Zitiert nach Füssel, Kuno: Drei Tage mit Jesus im Tempel. Einführung in die materialistische Lektüre der Bibel, Münster 1987, S. 21.

14Jankowski, Gerhard: Dann kommt schon der Tag. Der erste Brief des Paulus an die Thessalonischer. Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte 139, 36. Jahrgang, 3/2013, S. 13.

15Jankowski: Dann kommt schon der Tag, S. 13.

16Boer, Dick: ‚Wir aber hatten gehofft‘. Text und Subtext in der politischen Geschichte der Großen Erzählung, in: Ders./ Füssel, Kuno/ Ramminger, Michael (Hg.): Was verdrängt, aber nicht ausgelöscht werden kann. Diskussion über das Schicksal der Großen Erzählung, Münster 2014, S. 53.

17Zur europäischen Kommune: vgl. http://www.interventionistische-linke.org/beitrag/die-europaeische-kommune (zuletzt abgerufen am 15.03.2017).

18Jankowski: Dann kommt schon der Tag, S. 44.

19So lautete der Slogan auf dem Fronttransparent des antikapitalistischen Blocks bei der Blockupydemonstration im Juni 2013: Crisis demands decision – let’s choose communism!

20Seibert, Thomas: Krise und Ereignis. Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus, Hamburg 2009, S. 155.

21Der Begriff des Weltbürgertums ist durch seine liberale Traditionslinie durchaus uneindeutig. Ein wirkliches „Weltbürgertum“ muss selbstverständlich mit der kapitalistischen Logik der (tödlichen) Konkurrenz und der Unterordnung unter das ökonomische Kalkül in absolutem Widerspruch stehen. Dieser Begriff soll deshalb auf Grund seiner liberalen Inanspruchnahme an dieser Stelle eher als Behelf denn als fertiges Konzept verstanden werden.

22Vgl. Geitzhaus Philipp/Lis, Julia: Eine Kirche, die interveniert, in: Institut für Theologie und Politik (Hg.): Rundbrief Nr. 39, Münster 2013, S. 2.

23Jankowski, Gerhard: Rom. Die Apostelgeschichte des Lukas. Dritter Teil (21,15-28,31 – Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte 101/102, 27. Jahrgang, 1-2/2004, S. 68.