Wir Reichen, die Armen: Die Befreiungstheologie und ihr Echo in der BRD

Michael Ramminger

Seit Medellín ist auch hierzulande viel über Befreiung geredet worden. Allerdings vor allem über die der anderen. Die Anstöße, die die lateinamerikanischen Basisgemeinden und TheologInnen den ChristInnen in der Bundesrepublik gaben, hatten sehr unterschiedliche Folgen und reichten von materialistischer Bibelinterpretation bis zur Konsumkritik.

Die Theologie der Befreiung ist in der Bundesrepublik von Anfang an auf zwei sehr verschiedene Weisen wahrgenommen worden. Die eine Rezeptionslinie, die man die „harte“ nennen könnte, war eigentlich eher ein Dialog mit Lateinamerika, wohingegen die „weiche“ die Befreiungstheologie vorwiegend als spirituelle Innovation verstand.
Zur „harten“ Rezeption gehörten vor allem die ab 1974 existierende Bewegung der „Christen für den Sozialismus“ sowie evangelische und katholische Hochschulgemeinden, aber auch PfarrerInnen und andere TheologInnen (zum Beispiel „Politischer Arbeitskreis“, „Demokratisch-Ökumenisches Aktionszentrum“, „Gruppe Camilo Torres“ oder „Studentischer Arbeitskreis Kritischer Katholizismus“). Man konnte vor dem Hintergrund der Politisierung der 60er und 70er Jahre auf eigene theoretische Reflexionen und theologische Traditionen zurückgreifen. Dazu gehörten zum Beispiel der religiöse Sozialismus Paul Tillichs, der Linksbarthianismus von Helmut Gollwitzer, die historische Kritik von Rudolf Bultmann und die sich entwickelnde politische Theologie, aber auch die Theologie des Franzosen Georges Casalis. Sie beschäftigten sich intensiv mit Themen der Theologie der Befreiung, vor allem mit der Kritik an kirchlichen Institutionen und mit
der Vermittlung zwischen politischer und christlicher Praxis.

Schluß mit „ja und amen“

In Chile hatte die 1971 gegründete Bewegung „Christen für den Sozialismus“ (CpS) die jahrhundertelange Allianz zwischen Kirche und Staat kritisiert. Ihre Analyse der Kirche als ordnungs- und herrschaftslegitimierende Institution und die Erkenntnis, daß sich die gesellschaftlichen Konfliktlinien, der Klassenkampf, durch die Kirche selbst hindurchzog, wurde nun auch in der Bundesrepublik ein Thema der kritischen Auseinandersetzung. Helmut Gollwitzer beispielsweise kritisierte die vorherrschende Verkündigung, weil sie an der Kirche „als klassenübergreifende Gemeinschaft festhält“ und „die Klassenteilung (weil irdisch nicht überholbar) nicht in Frage stellt und die legalen Herrschaftsformen bejaht.“ Daß lateinamerikanische ChristInnen aus der Analyse ihrer spezifischen Situation zu gleichen Beschreibungen gelangten, verstärkte diese Überzeugungen und verfeinerte die jeweiligen theoretischen Instrumentarien, mit deren Hilfe der kirchliche (Klassen-)Standort hier wie dort beschrieben wurde. Entlang dieser Linie entwickelten sich verschiedenste Formen sozialgeschichtlicher und materialistischer Bibellektüre, die den Versuch darstellten, jüdisch-christliche Traditionen gegen die herrschende kirchliche Interpretation neu zu lesen.
Befreiungstheologen forderten, zwischen Sozialwissenschaften und Theologie, der kritischen Reflexion des Glaubens im Lichte der Praxis, zu vermitteln. Daraus leiteten auch linke ChristInnen für die Bundesrepublik die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion des Glaubens und der Theologie von der Gesellschaftstheorie her ab. Sie machten sich ebenfalls auf die Suche nach einer Gesellschaftsanalyse, die dem befreiungstheologischen Kriterium der Option für die Armen angemessen wäre; hier lagen sozialistische Gesellschaftstheorien nahe.

Glaube und Politik

Die Kategorie „Klassenkampf“ spielte für die Bestimmung der Formen praktischer Politik eine wesentliche Rolle. Die parteiliche Teilhabe am Klassenkampf sollte die notwendige geschichtliche Vermittlung der „Option für die Armen“ mit der Nachfolge Jesu ermöglichen. Die Frage, die sich stellte, war: Welches sind die angemessenen Gesellschaftstheorien, um die jesuanische Praxis des Teilens, der Gemeinschaft und Solidarität und der Machtkritik in die heutige Zeit und die Verhältnisse in der BRD umzusetzen?
Das theoretische Instrumentarium ist im Rückblick ausgesprochen divergent gewesen: Historischer Materialismus in seinen verschiedenen Interpetationstraditionen, Kritische Theorie und strukturalistische Marx-Interpretationen sind nur einige davon. Die Verschiedenheit dieser Ansätze verweist allerdings auf ein spezifisch bundesdeutsches Problem. Wenn man auch optimistisch auf die Möglichkeit politischer Veränderungen hoffte, war doch die konkrete Bestimmung derjenigen gesellschaftlichen Widersprüche und der Orte, die in der BRD solche Veränderung vorantreiben sollten, umstritten.
Hinter der Vielfalt im praktischen Engagement, der Mitarbeit in Parteien und Gewerkschaften und in den sozialen Bewegungen (Friedens-, Solidaritäts-, Anti-AKW- und Ökologiebewegung) und der Vielzahl der Themen wie Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit und „neue Armut“ oder Auseinandersetzungen mit „Konsumismus oder Verzichtsmentalität“ verbargen sich auch divergierende und widerstreitende Positionen.

Reiche hier und dort – Arme dort und hier

Angesichts einer Spaltung der Welt, in der nicht die „erste“ gegen die „dritte“, sondern die „Ausgebeuteten“ gegen die „Unterdrücker“ stehen, betrachten es die Anhänger der „harten“ Rezeption als notwendig, politisch tätig zu werden. Dieser Punkt ist vermutlich die entscheidende Differenz zu der weiter unten beschriebenen „weichen“ Rezeption. Damals schrieb der chilenische Befreiungstheologe G. Arroyo, es sei falsch „und irreführend, die übliche Bezeichnung Dritte Welt bedingungslos zu akzeptieren, … – auf der einen Seite gibt es eine internationale Bourgeoisie, zu der das nationale Bürgertum der armen Länder genauso wie das aus den reichen Ländern gehört… – auf der anderen Seite
gibt es ein internationales Proletariat, zu denen die Land- und Industriearbeiter der reichen kapitalistischen Länder gehören.“
Wenn auch die Begrifflichkeiten heute aus einer anderen Welt zu stammen scheinen, so war diesem Teil der linken ChristInnen in der BRD doch klar, daß die ökonomischen Strukturen des Kapitalismus nicht nur im Süden ihr Opfer fordern, sondern eben auch im Norden Ungleichheit und Ungerechtigkeit hervorrufen, und daß es deshalb keine Teillösungen geben könne. Die theoretischen Bezüge in der BRD und in Lateinamerika speisten sich dabei aus durchaus nicht so unterschiedlichen Quellen. Der eigentliche Unterschied zwischen linker Theologie in der BRD und der Befreiungstheologie bestand darin, daß man sich in Lateinamerika auf politisch und kirchlich wirkmächtige Bewegungen beziehen konnte, während in der BRD die Frage nach den Subjekten solcher Theologie äußerst umstritten war.

Die Guten und wir

Die „weiche“ Rezeption findet sich am typischsten auf den Kirchentagen der achtziger Jahre. Die moralische Integrität der dorthin eingeladenen RepräsentantInnen der Befreiungstheologie und die Evidenz der Verfolgung in Lateinamerika sorgten dafür, daß sich viele unmittelbar mit deren Anliegen solidarisierten. Befreiungstheologen und Basisgemeinden waren geradezu von einer Heldenaura umgeben.
Ich erinnere mich sehr gut an einen Kirchentag der achtziger Jahre. Ein chilenischer Arbeiterpriester hielt dort ein testimonio, eine Rede. Als ich von ihm ein Foto für eine Solidaritätszeitschrift machen wollte, sprang einer der Organisatoren auf mich zu und sagte beschwörend, ich würde Leib und Leben dieses Mannes gefährden, wenn der Geheimdienst in Chile über ein veröffentliches Foto herausbekäme, daß er bei dieser Veranstaltung aufgetreten sei. Ein lächerliches und mythisierendes Argument: Der Mann hatte den Militärputsch und die schlimmsten
Jahre der Diktatur in Chile gerade wegen seiner Prominenz in In- und Ausland überlebt.
Diese (zum Teil von bundesdeutscher Seite inszenierte) Darstellung und Wahrnehmung verhinderte aber eher eine „Umkehr“ im Sinne der Option für die Armen. Sie rückte den dependenztheoretischen Widerspruch zwischen Zentrum und Peripherie so in den Mittelpunkt, daß es schließlich um nichts anderes mehr ging.
Angesichts der sehr moralischen und subjektiven Konfrontation mit der Alltagswirklichkeit Lateinamerikas wurde das Nachdenken über die Bedingungen einer bundesrepublikanischen befreienden Praxis in den Hintergrund gedrängt. Die Ausbeutung der „Dritten Welt“ schien die gesellschaftlichen Widersprüche im eigenen Land und jedes praktisch-politische Engagement in bestehenden Bewegungen und Organisationen für soziale Gerechtigkeit banal werden zu lassen. Die Grundbedingung einer Rezeption der Befreiungstheologie, nämlich  das praktisch-politische Engagement im eigenen Land unter der Perspektive, weder die Opfer im Süden gegen die im Norden noch die Opfer im Norden gegen die im Süden auszuspielen, kam nicht in den Blick. Als vorrangige Aufgabe der Kirchen in der BRD wurde die Armutsbekämpfung in der „Dritten Welt“ angesehen.
Die Konsequenzen einer solchen Rezeption zeigten sich dann in einer unbestimmten Theorie eigener gesellschaftlicher Verhältnisse. Strenge und konflikthaltige Begriffe im Nord-Süd-Verhältnis wie „Ausbeutung“, „Klassenwiderspruch“, „Kapitalismus“, „multi-nationale Konzerne“ standen neben so unbestimmten Kategorien bezüglich der eigenen Gesellschaft wie „Konsumismus“, „Fortschrittsglauben“ oder „Wachstumsmentalität“. Diese Fixierung des Nord-Süd-Gegensatzes, die sich auch in der Rede von „uns Reichen im Norden“ und „den Armen im Süden“ niederschlug, wirkte entdifferenzierend und gleichzeitig theorie- und praxisentlastend. Anders waren viele bereit, lateinamerikanische Formen religiöser und kirchlicher Erneuerung zu übernehmen. Es ging um Kirchenträumereien, um ein alternatives Kirchenmodell, indem aus der lateinamerikanischen Basisbewegung jene Elemente herausgebrochen wurden, die hier die Gemeinschaftsdefizite derjenigen ausgleichen sollten, die sich eine Reform der überkommenen Volkskirche wünschten.

Spiritualität ohne Analyse

Es ging um die an die Option für die Armen nicht zurückgebundene Vision des „Priestertums aller Gläubigen“ im Sinne des Rechts auf den „Liturgievorstand aller Gläubigen“. Vor diesem Vordergrund blieben die evangelischen Bedingungen dieser Gemeinschaft blaß und analytisch unscharf. Basisgemeinden wurden eher als spiritueller Ort denn als angemessene Sozialform für die Bekämpfung von Armut und sozialer Ungerechtigkeit verstanden.
Unbestreitbar hat die Befreiungstheologie in Lateinamerika und im links-kirchlichen Milieu der Bundesrepublik seit Anfang der neunziger Jahre an Bedeutung verloren. Dies hängt sicherlich mit den Verschiebungen im weltpolitischen Machtgefüge und den veränderten Perspektiven von Befreiung zusammen. Die Geschichte zeigt, daß ihre Hochzeit an eine bestimmte historische Konjunktur, theologisch gesprochen an einen Kairos gebunden war, über dessen Bedingungen wir nicht unmittelbar verfügen. Trotzdem bleibt, daß die Grundeinsichten der Befreiungstheologie, die Option für die Armen, das Verhältnis von Theologie und Sozialwissenschaften und das Theorie-Praxis-Verhältnis nach wie vor Herausforderungen für uns darstellen. Ihr Diskurs über Befreiung war zeitgebunden und muß heute einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Daß hier nicht mehr auf das Vorbild Lateinamerika zurückgegriffen werden kann, sondern wir auf uns selbst verwiesen sind, ist insofern nur ein scheinbarer Nachteil. Die Entwicklung einer eigenständigen Theologie der Befreiung, deren Kontext Europa sein muß, liegt heute klarer vor uns. Und die Einsicht, sowohl theoretisch als auch praktisch-politisch die Menschen im Norden und im Süden nicht gegeneinander auszuspielen, gewinnt unter den Bedingungen eines
neoliberalen und globalisierten Kapitalismus neue Bedeutung.