Theologie, kulturelle Identität und Befreiung I

Fernando Castillo

Die lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen haben bis in die siebziger Jahre versucht, Lateinamerika von den Anderen zu befreien; von denen zu befreien, die die lateinamerikanische Identität gefährdeten. So zum Beispiel die Unidad Popular in Chile. Sie war ein Befreiungsprojekt, das von sich behauptete, ein Volksprojekt zu sein: Das Volk war das Subjekt des Befreiungsprozesses. Dieses Volk waren die Arbeiter und Landarbeiter und von diesem Subjekt her wurde das historische Projekt der Befreiung entworfen. Das gleiche kann man, glaube ich, auch für die anderen Befreiungsprojekte in Lateinamerika (Uruguay, Argentinien usw.) sagen. Heute stehen wir vor einer grundsätzlich anderen Situation und der Frage, inwieweit die Befreiungsbewegungen wirklich die Frage des Anderen berücksichtigt haben. Vielleicht noch unter dem Schock der Militärdiktaturen und dem Scheitern dieser Projekte sind wir heute mit einer Situation konfrontiert, in der kulturelle Identität eine ganz neue Bedeutung erlangt. Es gibt zwar noch Strömungen, die die derzeitige Situation allein von Rassenkonzepten oder vom Konzept des Mestizaje her zu verstehen suchen. Aber heute hat die kulturelle Identität und Heterogenität eine Bedeutung, die im Mestizaje nicht einfach aufgeht. Denn die Heterogenität ist Ausdruck der verschiedenen Wurzeln der lateinamerikanischen Subjekte. Es gibt nicht mehr ein Subjekt, ein Volk, ein Befreiungssubjekt, sondern sehr verschiedene.

Globalisierung und Kommunikation

Andererseits sind durch den Prozeß der Globalisierung der Kommunikation und des Marktes diese verschiedenen Subjekte und ihre historischen Projekte heute eng miteinander verbunden: Indianer, Schwarze, die Armen auf dem Lande, die Leute aus den Kupferminen usw. geraten heute in den großen Städten wie Rio, Sao Paulo oder Lima durch den Prozeß der Modernisierung zwangsläufig miteinander in Kontakt. Und dort werden sie nicht nur mit der eigenen Identität und den eigenen Projekten konfrontiert, sondern mit anderen Projekten, mit den Projekten der Anderen, der anderen Volkssubjekte. Diese Menschen leben in einer Situation, in der die herrschende Kultur eine Massenkultur ist. Die Massenkultur wird von Institutionen produziert, die keine lokale Identität besitzen: Die Schulen, die Medien, der (Konsum-)Markt: Alle werden aufgefordert, die gleichen Produkte zu konsumieren; alle werden eingeladen, die gleichen Programme im Fernsehen zu sehen und die gleichen Verhaltensweisen und Ideale anzunehmen. Die partikularen Subjekte können und sollten sich natürlich nicht weigern, an dieser Massenkultur teilzuhaben. Aber hier wird keine Identität gestiftet und hier werden keine Projekte entwickelt. In dieser Situation stehen wir vor drei Problemen: 1. Wie verhalten sich die konkreten und partikularen Identitäten zur Massenkultur, was nehmen sie auf, wie verhalten sie sich kritisch, und ist es ihre Aufgabe, eine kritische Massenkultur zu entwerfen? 2. Wie artikulieren sich diese verschiedenen Subjekte? Dies ist eine sehr komplexe politische und theologische Frage. Denn es darf nicht mehr einfach von der Befreiung des Volkes geredet werden, sondern man muss schauen, wie sich die verschiedenen Subjekte zueinander verhalten und untereinander artikulieren. 3. Die Menschen, die in den von der Massenkultur geprägten großen Städte leben, haben keine feste, kohärente, ganzheitliche Identität und Kultur: Indios oder Landarbeiter, die in die Städte kommen, leben eben nicht einfach mehr in der communidad (der indianischen Gemeinschaft, Anmerkung d. Redaktion) oder im Dorf. Sie sind mit mehr als einer Kultur konfrontiert. Sie sind nicht mehr nur Indianer, sondern auch Stadtbewohner; sie sind nicht mehr nur Landbewohner, sondern auch Stadtbewohner. Und es gibt Subjekte, die ein nur zeitlich bestimmtes Projekt haben, wie z.B. die Arbeitslosen. Deshalb ist heute in Lateinamerika eher von sozialen Organisationen und sozialen Subjekten als Trägern der Befreiung und historischen Projekten die Rede als von Parteien und Befreiungsbewegungen.

Verschiedenheit und Befreiung

Das markiert für mich den Bruch mit der Situation von 1970 bis 1973 in Chile, was aber paradigmatisch auch für andere Länder Lateinamerikas gilt. Der Traum von dem einen Befreiungssubjekt verkörperte auch den Traum der einen Organisation in diesem Prozeß, den Parteien und Befreiungsorganisationen. Aber heute steht m.E. nicht die Frage der Organisation von Gruppen an erster Stelle. Zunächst muß es darum gehen, die Verschiedenheit in der Gesellschaft zu erkennen. Möglicherweise ist die Diversifität so groß, daß man immer nur einen Teil wahrnehmen kann. Ich glaube, der erste Schritt wäre zu begreifen, daß die Anderen auch ein Projekt haben, und daß ein erster Schritt zur Befreiung ein Schritt mit den Anderen in der Anerkennung der Diversifität ist. Die zentrale Frage lautet: Was ermöglicht es mir, den Anderen als Anderen zu erkennen? Unter dem Begriff der Massenkultur läuft man Gefahr, immer nur das Gleiche zu sehen. Deshalb muß wohl eine neue Sensibilität entwickelt werden, um die Unterschiede wahrzunehmen, und um von hier aus neue Strategien der Befreiung zu entwickeln.

Glaube und Inkulturation

Der Notwendigkeit der Anerkennung der Diversifität entspricht im Christentum das Programm einer Inkulturation, die den Bruch mit einem monolithischen Evangeliumsverständnis erfordert: Das Christentum ist keine Kultur. Aber es ist natürlich mehr als nur eine allgemeine Option für das Leben. Das Evangelium ist an eine Partikularität gebunden, an eine Geschichte, die in Tod und Auferstehung endet, und die in anderen Kulturen nicht ohne ihre Kategorien und Werte erzählt werden kann. In seinem Grund besitzt das Evangelium eine erzählerische Struktur. Diese Erzählung kann deshalb immer nur eine Einladung und ein Aufruf zur Umkehr und zur Überwindung der Strukturen der Sünde sein. Aber dieser Aufruf deckt natürlich nicht das ganze religiöse Feld einer Kultur ab. In diesem Sinne ist das Evangelium eine partikulare Geschichte, eine partikulare Einladung. Und Menschen haben selbstverständlich das Recht und die Möglichkeit ihre Religion beizubehalten. Insofern muß Inkulturation um eine universelle Ökumene ergänzt werden: Gott existiert nicht nur im Christentum, und das Christentum erschöpft nicht die ganze Wahrheit Gottes. Deshalb müssen wir als einen ersten Schritt zur Befreiung auch die Partikularität unserer Religion anerkennen.