Theologie, kulturelle Identität und Befreiung II

Von Paulo Suess

Wir leben heute in einer Spannung von Globalisierung und Regionalisierung. Die Globalisierung von Markt, technischem Wissen und Kommunikation, die politisch außer Kontrolle geraten ist, kooptiert die Regionen in erheblichem Maße; aber die ethnischen, sozialen und geografischen „Regionen“ werden ihre Bedeutung nicht verlieren. Sie widerstehen im Gegenteil immer wieder der Globalisierung. Denn Menschen haben keine Weltidentität, sie sind nicht einfach Weltbürger, wie die Aufklärung behauptete. Sie sind zunächst Bürger einer ganz konkreten Gesellschaft, einer ganz konkreten Gruppe, in die sie hineinsozialisiert wurden. Und dies gilt für alle Menschen, ob sie nun auf der Straße leben oder im Urwald, in der Mietswohnung oder im Häuschen mit Schrebergarten. Sie alle haben ein historisches Projekt: Sie haben Hoffungen, sie denken an Morgen, sie leben im Heute und haben eine Erinnerung an die Vergangenheit. Und diese historischen Projekte sind kulturell kodifiziert.

Kultur und Kulturen

Deshalb können wir sagen: 1. Alle Menschen haben „Kultur“: Kultur meint das ganze Leben, das Menschen in einer zweiten Ökologie um sich herum aufbauen. Es geht da immer um Politik, um Ökonomie und Ideologie. 2. Weil Kulturen gegenseitig nicht normativ sind, kann nicht unterschieden werden zwischen „höherwertigen“ und „minderwertigen“ Kulturen. Denn dies wäre bereits der Beginn eines Ethnozentrismus, aus dem Einstellungen erwachsen, die behaupten, daß es Kulturen gibt, die weder evangelisierungsfähig noch zivilisationsfähig sind. Solange solche Einstellungen nicht überwunden werden, werden wir in der Begegnung mit dem Anderen völlig verloren sein, weil wir dann die Anderen immer nur bemitleidend, auf sie herabschauend oder paternalistisch behandeln können. Im Grunde geht es also darum, die verschiedenen historischen Projekte als gleichwertig anzuerkennen. 3. Kulturen sind kodifizierte Lebensprojekte. 4. Vernunft ist ausgelagert in verschiedene Kontexte. 5. Weil Kulturen „historisch“ entstanden sind und sich mitten im historischen Fluß befinden, darum sind sie weder statisch noch vollkommen. Theologisch könnte man sagen: Kulturen sind von Strukturen der Sünde durchkreuzt. Die „reine“ Kultur würde das Ende der Geschichte bedeuten. 6. Weil Kulturen „Erbe“ und „Auftrag“ sind, sind sie auch Orte historischer Identität. 7. Politisch nicht kontrollierbare Globalisierung zerstört Identitäten und die Antwort auf Globalisierung muß daher die Stärkung von Identität sein. 8. Die Konstruktion von Identität, verstanden als Konstruktion ganzer Zellen oder Teile, hat immer solidarische Vernetzung – Artikulierung – im Auge. Sie beabsichtigt damit die „Optimierung“ der Ökologie der verschiedenen Lebensprojekte, damit daraus nicht postmoderne „Gleichgültigkeit“ oder einfach „der Sieg des Stärkeren“ wird. Wir haben in der dritten Welt immer unter der sogenannten Weltkirche und der Weltrevolution gelitten, weil dort eben allzu rasch globalisiert wurde. Und die Indios haben gerade deshalb überlebt, weil sie ganz verschiedene historische Projekte hatten, die den Unterdrückern nicht zugänglich waren: Multikulturalität ist dem Unterdrücker nicht zugänglich und nicht überwachbar und deshalb als Widerstandskraft so wichtig. Globale Solidarität, die sog. „Einheit der gemeinsamen Sache“ kann erst erfolgreich verteidigt werden, wenn die „Beschädigung“ (die zerstörte Identität) der Teile überwunden ist. Wer weiß, wer er ist, kann auch mit dem Anderen agressionslos sprechen und diskutieren, was er will.

Kirche und Inkulturation

Ähnliches gilt auch für die Kirchen: Das Evangelium hat keine unverzichtbare kulturelle Identität: Die Identität und Universalität des Evangeliums ist auf einer anderen Ebene zu suchen als die Identität sozialer Gruppen. Deshalb müssen wir bei der Evangelisierung zwischen einer paradigmatischen, einer normativen und einer kano nistischen Dimension unterscheiden. Jesus war kein Kulturreformer. Manche Streitfragen in den Kirchen – bsw. die Zulassung von Frauen zum Priestertum – müssen daraufhin abgeklopft werden, ob, in der Hitze des Gefechts, nicht oft kulturell bedingtes (Paradigmatisches) mit essentiell Evangelischem verwechselt wird. Die kirchliche Gemeinschaft hat natürlich das Recht, kanonistisch-rechtliche Sprachregelungen vorzunehmen. Aber sie darf kulturelle Bräuche nicht mit dem Evangelium verwechseln. Nicht alles kann paradigmatisch sein, aber es kann auch nicht alles normativ sein. Die Schrift ist zunächst einmal paradigmatisch, Ergebnis einer bestimmten Kultur und immer auslegungsbedürftig. Jesus hat das kulturell zur Verfügung Stehende genommen und damit über das Reich Gottes gesprochen. Genau das muss berücksicht werden, wenn wir nicht zur Sekte werden wollen oder kolonialisieren wollen. Deshalb ist es auch denkbar, daß es andere Inkarnationen des Gottesgedankens gibt als den des abendlänisch-europäischen und von der griechischen Philosophie bestimmten Christentums. Denn auch dogmatische Antworten sind ja kulturell kodifiziert und antworten auf Fragen, die wir unbedingt kennen müssen, bevor wir die Reichweite der Antworten erfassen können. Die Heilsgeschichte geht im europäischen Verständnis nie durch die kulturellen Identitäten hindurch. Klemens von Alexandrien hat einmal gesagt: Die Griechen wurden durch die griechische Kultur auf Jesus Christus vorbereitet, so wie die Juden durch das Gesetz auf Jesus Christus vorbereitet wurden. Wenn also die Griechen durch die griechische Kultur auf das Christentum vorbereitet wurden, dann k&oml;nnen auch die Guarani-Indios durch ihre Kultur auf Jesus Christus vorbereitet werden. Die Kritik des Evangeliums beginnt also nie mit einer Kulturkritik. Sie ist immer eine Kritik an den Strukturen der Sünde, an dem, was dem historischen Projekt einer Gruppe zuwiderläuft. Und Träger der frohen Botschaft gibt es in jeder Gruppe. Insofern ist das Inkulturationsparadigma für die römische Hierarchie sehr viel gefährlicher als das Armuts-paradigma. Die Armen können immer noch zentral verwaltet und gesteuert werden. Aber wenn die verschiedenen Kulturen wirklich ernstgenommen werden sollen, dann schließt das Inkulturationsparadigma automatisch eine Dezentralisierung der ganzen Kirche ein. Es erfordert strukturelles Umdenken. Eine zentralisierte Kirche kann diese Inkulturation gar nicht wollen, weil sie dann die Macht über die Symbole verliert. Daher ist der Kampf um Inkulturation auch ein Kampf um andere Kirchenstrukturen und um eine neue Ekklesiologie. Es wird noch lange dauern, bis sich die Einsicht durchsetzen wird, daß die Kirche scheitert, weil sie die Menschen nicht ins Herz trifft, sondern ihnen nur Papiere schickt. Evangelisierung erfordert „Körper-deckung“ und nicht Fax-Verkehr. Die universale Kirche – das ist die universal artikulierte Ortskirche.

Handlungsperspektiven

Das Inkulturationsparadigma stellt eine Vertiefung des Befreiungsverständnisses dar. Nicht nur „Religion“, auch Ökonomie und Politik müssen inkulturiert werden. Kulturverständnisse sind oft sehr konfus. Was ist eine „Kultur des Friedens“ oder eine „Kultur der Solidarität“? – Kulturkonzepte ohne Subjekte. Inkulturation ist der freiwillige Exodus aus meiner eigenen Kultur. Nicht, weil sie schlechter ist, sondern weil es hier um „Entgegenkommen“ und um „Entäußerung“ (Kenose) geht. Sie ist deshalb zunächst eine Zumutung und Herausforderung an uns und darf keine Forderung an die Anderen sein. Evangelisierung bedeutet Exogamie: aus seinem Stamm hinausheiraten. Darin liegt die Vitalität des Christentums. Das Gegenteil wäre Inzest. Eine Kirche, die sich an ihren eigenen Kirchenproblemenen aufreibt, wäre eine inzestuöse Kirche. Aber kein politisches Projekt und kein örtlicher Diskurs sind heute so autonom, das sie „alleine“ existieren könnte. Genau hierin liegt die Chance, das Notwendige (Exogamie, Inkulturation) mit dem Helfenden (Befreiung) zu verbinden, mit dem Kampf für eine Welt, in der Platz für alle ist. Inkulturation hat also etwas zu tun mit Güterverteilung, Agrarreformen, Partizipation und Veränderung von Strukturen. Inkulturation ist sozio-politisch relevant. Weil Inkulturation Ausdruck ist für die Achtung vor dem Anderen, darum lehnt sie die Identifikation mit dem Anderen ab. Identifikation würde ja gerade Alterität zerstören. Man kann den Anderen durch Inkorporation ins Eigene, aber auch durch Identifikation auslöschen. Es kann daher als eine Binsenweisheit gelten, daß wir nie identisch sein werden (weder dürfen noch wollen) mit den Menschen, bei denen wir versuchen, uns und das Evangelium zu inkulturieren. Wenn wir zu Indios oder zu Straßenkindern gehen, werden wir nie Indios oder Straßenkinder. Wir werden versuchen, so zu schlafen, wie sie schlafen, wir werden versuchen, ihre Denkvorstellungen zu verstehen. Aber Inkulturation ist immer nur ein Prozeß der Annäherung. Die verschiedenen Versuche, die Geheimnisse Gottes kulturell auszusagen, sind daher eine größere Annäherung an diese Geheimnisse, als wenn die nur monokulturell geschehen würde. In der Praxis sind diese Dinge gar nicht so kompliziert. Wer sich wirklich inkulturieren will, braucht nur ein paar Fragen zu stellen: Wie lebt ihr, wo schlaft ihr? Wie sind die Beziehungen der Generationen untereinander, wie die der Geschlechter oder die zu den Nachbarn? Worauf hofft Ihr? – Können wir essen, was sie essen und schlafen, wie sie schlafen? Schwierig ist es nur, unseren Plunder abzulegen… Denn die Perspektive des Evangeliums ist klar: Allen alles werden; die Wirklichkeit der Anderen anzunehmen und sie zu begleiten, um so gemeinsam Kräfte zu mobilisieren, um das Ganze und uns selbst zu verändern.