Kritik der utopischen Vernunft

Interview mit Franz Hinkelammert

Dein Buch „Kritik der utopischen Vernunft“ erscheint in deutscher Sprache gerade zu einem Zeitpunkt, da Journalisten das „Ende der Utopie“ und Politiker das „Ende der Geschichte“ ausrufen. Was sagst Du zu solchen Thesen?

Die Rede vom „Ende der Utopie“ bzw. vom „Ende der Geschichte“ sind reine utopische Konstruktionen, reine Utopisten-Thesen.Hier äußern sich Utopisten, die sich als totale Realisten ausgeben […] es ist offensichtlich, daß die Utopie zerstörerisch wird, wenn sie sich als Realismus ausgibt. Davon fühlte ich mich herausgefordert, genauer zu bestimmen, was das Utopische in unserem Denken ausmacht. Denn wenn der Realismus als Utopis-mus auftaucht und die Wegwerfkritik an der Utopie einen Utopismus begründet, dann muß ich über die Frage der Utopie in unserem Denken eben neu reflektieren. Dann ist offensichtlich das Utopische nicht etwas, was dem Denken äußerlich ist, sondern was in seinem Inneren angelegt ist. Das gesamte Denken der Moderne hat eine zentrale Wurzel in Utopien. Die Utopien dringen nicht von außen ein, als ob Apokalyptiker die schöne, klare Realität verfremden. Sondern der Realismus selber ist völlig apokalyptisch, er ist utopisch. Ich habe diesen Gedankengang unter der Leitfrage zu entwickeln versucht: Wo ist eigentlich in unseren Gesellschaftstheorien das Utopische? Das heißt: wo steckt es im Innern der Gesellschaftstheorien? […]

Vielleicht kannst Du ein Beispiel anfügen, wo das Utopische selber in der Theorie formuliert ist, ohne daß es als solches qualifiziert wird.

Polanyi stellt in seinem Buch „The Great Transformation“ zum ersten Mal heraus, daß die Theorie der „unsichtbaren Hand“ von Adam Smith die große Utopie des 18. Jhdts ist, die unsere Zeit beherrscht bis heute. Davon angeregt ist mir aufgegangen, daß sich der Theoretiker, der das Utopische formuliert, dessen häufig gar nicht bewußt ist. Er glaubt, über die Realität zu sprechen, Realist zu sein. Wie unterläuft ihm das Utopische, wenn er Theorie treibt? – das ist das Problem. Wenn man mit dieser Frageabsicht die gesellschaftstheoretische Literatur untersucht, dann begegnen einem in unseren Wirtschaftswissenschaften und in bestimmten Systemtheorien der Soziologie weitere Ausdrücke, die eine Reflexion über das Utopische aufzwingen. Der zentrale theoretische Begriff der neoklassischen Wirtschaftstheorie, also der herrschenden Wirtschaftstheorie seit Ende des 19. Jh-dts., ist der Begriff „vollkommene Konkurrenz“ oder „vollkommener Markt“. Mir ist ziemlich unbegreiflich, daß Leute, die vom „vollkommenen Markt“ reden, nicht die Notwendigkeit spüren, die Frage der Utopie zu diskutie-ren. Denn wenn ich eine vollkommene Gesellschaft im Sinne habe, dann denke ich doch offensichtlich eine Utopie. Wir haben das bei Talcott Parsons z. B., wenn er von der vollkommenen bzw. perfekten Institutionalisierung spricht und das wirkliche Sozialsystem in dem Raum zwischen den beiden Polen ansiedelt, zwischen der perfek-ten Institutionalisierung auf der einen Seite und der totalen Anomie auf der anderen. Die Aufgabe der Gesellschaft besteht nach Parsons darin, das soziale System der perfekten Institutionalisierung anzunähern. Ganz ähnlich in den Wirtschaftswissenschaften. Da stellt man sich die „Vollkommene Konkurrenz“ vor und sieht dann das Problem darin, die wirkliche Konkurrenz der vollkommenen Konkurrenz anzunähern.[…] Wir brauchen daher eine kritische Reflexion der Funktion solcher utopischer Begriffskonstruktionen, ihrer Rolle und des Grades ihrer Legitimität. Einerseits ist die Utopie eine Quelle von Vorstellungen des guten Lebens, ein Bezugspunkt für das Urteil, eine Reflexion des Sinnes. Die Utopie kann dann nicht als Ziel gelten, auf das man sich durch asymptotische Annäherung zubewegt. Die Utopie bleibt vielmehr eine „regulative Idee“, wie heute vielfach mit Hilfe eines kantschen Begriffes gesagt wird. Andererseits müssen wir uns heute die Frage stellen: Wo fängt eigentlich der Prozeß an, durch den Utopien sich destruktiv auswirken. Ich glaube, niemand kann heute Zweifel daran haben, daß es Momente gibt, in denen das Utopische destruktiv wird.

Wir haben also nicht die Utopien abzuschaffen, sondern präziser zu fragen, wo die utopischen Konstruktio-nen destruktiv werden. An welcher Stelle würdest du diesen Übergang definieren?

Der Übergang geschieht dort, wo diese Begriffe im Sinne einer societas perfecta interpretiert werden, d.h. als vollkommene Gesellschaft, an die wir uns durch kalkulierte quantitative Schritte annähern müssen. Man verwan-delt damit das Problem der besseren Gesellschaft in ein Problem des kalkulierbaren Fortschritts. In diesem Moment wird das Ganze destruktiv, weil jetzt die ganze Lebendigkeit der menschlichen Gesellschaft zerstört wird, indem man auf einem fiktiven Weg die im utopischen Begriff entwickelte societas perfecta zu verwirkli-chen sucht, in der vollkommenen Konkurrenz, der vollkommenen Planung, der vollkommenen Institutionalisie-rung und was wir da alles haben.

Der kalkulierbare Forschritt wird also utopisiert, der Status quo als notwendiger Durchgang zur societas perfecta erklärt und die Opfer des Status quo werden ausgeblendet?

Richtig. Die großen Utopien des 20. Jhdts haben keinen Deut von Kritik. Die Utopien werden im Gegenteil versprochen als Ergebnis des Verzichts auf jede Kritik. Die typischen Utopien kommen z.B. als Versprechen einer glorreichen Zukunft durch den ökonomisch-technischen Fortschritt bzw. durch die Absolutisierung und Totali-sierung des Marktes daher. Diese Totalisierung der Institutionenlogik als Utopie sakralisiert die gegebenen Ver-hältnisse, so daß die Bedingung für die Verwirklichung der Utopie der Verzicht auf Widerstand und Kritik ist. Alle diese modernen Utopien sind konservativ, die stalinistische, die neoliberale ebenso wie die Utopie der Nazis. Die Opfer dieser Gesellschaften werden nur funktional betrachtet. Sie sind das Öl für die Maschinen, damit das System geölt läuft. Man sieht also, daß die sogenannte säkularisierte Gesellschaft sich utopisch sakralisiert. Daß sie also gar nicht mehr säkular ist. Und dies geschieht eben durch solcherart Utopien. Die großen Utopien zumindest des 20. Jhdts. sind daher gar keine kritischen Utopien. [..