Globalisierung und Menschenrechte

Von Franz J. Hinkelammert
Was im gegenwärtigen Globalisierungsprozeß mit den Menschenrechten geschieht, beschreibt gleichzeitig, was mit den Menschen geschieht, wenn man sie als menschliche Naturwesen -sprechende Körper- sieht, die unter der Logik leben, die diesen Prozeß beherrscht. Über diese Menschenrechte zu sprechen, bedeutet, über das System zu sprechen, das die Menschenwürde verletzt und bedroht, während es sich gleichzeitig mit großer Dynamik seinen eigenen Gesetzen gemäß entwickelt, und die Menschen überrollt …
Nirgendwo hat man die Konsequenzen aus der Globalisierungsstategie so extrem und radikal ziehen können wie in der sogenannten 3. Welt. Nirgendwo sind die Opfer so zahlreich. Aber wir sollten uns nicht täuschen: Die Zukunft der 1. Welt liegt in der 3. Welt. In der 3. Welt wird sie sichtbar. Es ist nicht etwa umgekehrt, wie dies unsere Fortschrittsideologie seit über zweihundert Jahren und immer im Namen der Menschenrechte behauptet hat.
Die extreme Reduktion der Menschenrechte im 20. Jahrhundert auf reine Eigentumsrechtegeschieht ganz ausdrücklich vor allem in den ‘60 und ‘70er Jahren. Die Theoriker der propriety rights und des public choice führen dies mit einem unvergleichlichen Simplizismus durch. In diesen Theorien, die tatsächlich unsere heutige Wirklichkeit weitgehend widergeben, wird jeder Raum der Autonomie des Subjekts unterdrückt, der nicht aus irgendeinem Marktkalkül abgeleitet werden kann. Marktrechte und Menschenrechte sind damit völlig identifiziert.

Markt und Freiheit

Dies gerade ist etwas, was die Menschenrechte der Aufklärung des 18. Jahrhunderts nicht tun, obwohl sie sich auf den Markt als einen Raum natürlicher Freiheit stützen. Selbst das Recht auf die Unverletzlichkeit des Körpers wird auf ein Eigentumsrecht reduziert, das der Eigentümer über seinen Körper hat. Die Folterkammern der neoliberalen und totalitären Regime der Nationalen Sicherheit waren ein einfaches Ergebnis dieses Eigentumsbegriffs und der Aufhebung des autonomen Individuums durch die Identifizierung von Menschenrechten und Marktrechten. Das Recht, die Unverletzlichkeit des Körpers im Namen der Nationalen Sicherheit zu verletzen, wird zum gleichen Akt der Enteignung von Eigentum wie die Enteignung eines Grundstücks im Namen des öffentlichen Nutzens, wenn man entschieden hat, an diesem Ort eine Straße zu bauen.

„Sachzwang“ Globalisierung

… Heute muß die Frage sein, wie es möglich werden kann, diese Sachzwänge, die sich mit dem totalisierten Markt verbinden, zu überwinden. Unsere herrschende Ideologie zeigt als einzigen Ausweg die unbedingte und fraglose Unterwerfung unter diese Sachzwänge und stellt sie uns als Realismus oder Pragmatismus vor. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um die vielleicht verheerendste Form idealistischen Denkens. Aber diese Ideologie ist heute gerade die Ideologie der bürokratischen Herrschaft … Nach der Niederlage der öffentlichen Bürokratien übernahmen die privaten Bürokratien die Macht im Namen der Menschenrechte. Sie behaupten sogar, überhaupt keine Bürokratien zu sein und bieten sich als Garantie gegen jede Bürokratie im Namen der ”Privatinitiative”an. Die öffentliche Bürokratie wurde zum Förderer dieser Macht der privaten Bürokratien gemacht … In dieser Stituation verschwindet der Staatsbürger als grundlegende Instanz politischer Entscheidungen. Nur eine öffentliche Bürokratie hat Staatsbürger, private Bürokratien haben Kunden. Kunden kann man in der ganzen Welt haben, aber Staatsbürger der Welt gibt es nicht, solange es keinen konstituierten Weltstaat gibt. … Damit verliert die Staatsbürgerschaft ihre vorherige Bedeutung. Die Menschenrechte als spezifisch menschliche Rechte hingegen -die emanzipatorischen Menschenrechte- wurden in der Vergangenheit vom Staatsbürger her erklärt und in gewissem Maße auch durchgesetzt. Daher verlieren sie ihre Geltung.

Private Bürokratien

Max Weber sah durchaus diese Verwandlung der privaten Unternehmen in private Bürokratie. Dennoch scheint seine Interpretation von unserer heutigen Situation her gesehen eher naiv zu sein. Er spricht von den ”zunehmend bürokratisch geordneten privatkapitalistischen Organisationen” (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 836). Seiner Zeit entsprechend sieht er dagegen die Gefahr ganz ausschließlich in der Totalisierung der öffentlichen Bürokratie.
Er sagt über diejenigen, die einer solchen Bürokratie unterworfen seien: ”Unfreier jedoch sind sie, weil jeder Machtkampf gegen eine staatliche Bürokratie aussichtslos ist und weil keine prinzipiell gegen sie und ihre Macht interessierte Instanz angerufen werden kann, wie dies gegenüber der Marktwirtschaft möglich ist. Das wäre der ganze Unterschied. Die staatliche Bürokratie herrschte, wenn der Privatkapitalismus ausgeschaltet wäre, allein. Die jetzt neben und, wenigstens der Möglichkeit nach, gegeneinander arbeitenden, sich also immerhin einigermaßen gegenseitig in Schach haltenden privaten und öffentlichen Bürokratien wären in eine einzige Hierarchie zusammengeschmolzen. Etwa wie in Ägypten im Altertum, nur in ganz unvergleichlich rationalerer und deshalb: unentrinnbarerer Form.” (Weber, 835)
Man kann verstehen, daß Weber in seiner Zeit diese Furcht hatte. Aber er hat sich ganz offenbar geirrt. Dort, wo die öffentliche Bürokratie sich den privaten Bürokratien aufzwingen konnte -wie dies im sowjetischen Sozialismus geschah- waren es gerade die Staatsbürger, die dieser Herrschaft ein Ende setzten. Aber das, was Weber nicht einmal als Möglichkeit einfiel, geschieht heute mit uns. Die privaten Bürokratien zwingen sich den öffentlichen Bürokratien auf und verschlingen sie. Mit sehr viel mehr Recht können wir heute über die private Bürokratie das sagen, was Weber über die öffentlichen Bürokratien sagt. Nämlich, daß diese eine Situation heraufbeschwört ”etwa wie in Ägypten im Altertum, nur in ganz unvergleichlich rationalerer und deshalb: unentrinnbarerer Form.” Es hat sich als unmöglich herausgestellt, von der öffentlichen Bürokratie aus eine Macht über die ganze Welt zu errichten, während gerade dies für die private Bürokratie möglich war.
Weber ist noch davon überzeugt, daß der Wettbewerb durch seine eigene Logik die private Bürokratie zu kontrollieren vermag, während eine Gefahr nur von der öffentlichen Bürokratie droht. Aus diesem Grund vermag er noch die Menschenrechte mit den Eigentumsrechten zu identifizieren. Heute hingegen kann kein Zweifel sein, daß ein unbeschränkter Wettbewerb gerade zur absoluten Herrschaft der privaten Bürokratien über die ganze Welt führt und die öffentliche Bürokratie geradezu zerstückelt.

Bürokratien entgegentreten

Heute bestehen die Möglichkeiten wie Weber sie sah nicht. Heute müssen Menschenrechte als spezifisch menschliche Rechte gefaßt werden, und dies sind die Rechte eines Menschen als Naturwesen.
Nur im Namen solcher Menschenrechte kann man der ganz offensichtlichen Tendenz zur absoluten Herrschaft der privaten Bürokratien -Bürokratien ohne Staatsbürger- über die Menschen entgegentreten, einer Tendenz, die uns zu einer Reise der Titanic verurteilt.
Nur ausgehend von dieser Situation können wir Alternativen entwickeln. Es ist heute keineswegs klar, wie sie aussehen könnten. Wir können allerdings sagen, daß jedes alternative Handeln heute nur als assoziatives Handeln möglich sein kann. Nur ein solches Handeln könnte die Sachzwänge auflösen, die sich gerade aus der Beseitigung allen assoziativen Handelns ergeben haben. Dies schließt natürlich solidarisches Handeln ein. Dabei kann kein Zweifel sein, daß solch ein assoziatives Handeln heute in globalen Dimensionen erfolgen muß, wenn es wirksam sein soll. Der Text ist gekürzt entnommen: Links von Nord und Süd, Kaltmeier/Ramminger, Münster 1999.