Theologie, kulturelle Identität und Befreiung III

Kuno Füssel

Ich möchte das sich im Zusammenhang der Verkündigung des Evangeliums stellende Problem der Universalisierung ansprechen: Man kann sich sicherlich darauf verständigen, daß das Evangelium ein Projekt ist, das der Geschichte Israels entstammt. Wenn man z.B. das Lukas-Evangelium betrachtet, dann entstammt es sogar eindeutig einer ganz bestimmten Tradition Israels, nämlich der des Jesaja, die in der Form einer großen Erzählung weitergegeben wurde und auch heute noch weitergegeben werden kann. Meiner Auffassung nach erhebt diese Geschichte des Propheten Jesaja, in die sich der lukanische Jesus einreiht, den Anspruch, universal („für alle Völker“) und nicht nur partiell oder partikular zu sein. Es gibt Momente an ihr, von denen man sagen muß: das ist für alle Menschen gut, und zwar prinzipiell, und deswegen muß es auch allen weitergesagt, also verkündet werden. Der Universalitätsanspruch dieser Geschichte erlaubt uns es deshalb nicht zu sagen: … Ich persönlich fühle mich aufgehoben in dieser Tradition, aber ob sie auch alle Anderen etwas angeht, das weiß ich nicht und interessiert mich nicht …

Reich-Gottes und universeller Anspruch

Diese Tradition aber unterstellt nicht nur, daß es etwas gibt, was für alle Menschen gut ist, sondern sie unterstellt auch, daß es so etwas wie eine allgemeine Vernunftbegabtheit des Menschen gibt. Und wenn man diese Tradition ernst nimmt, dann muss man sich zusätzlich auch der ebenfalls oft im Zusammenhang der Diskussion über Partikularität und Kontextualität vernachlässigten Frage stellen: Gibt es so etwas wie eine allgemeine Weltgeschichte? Wichtiger aber ist die Frage: Wie steht es mit dem universellen Anspruch, der in der Reich-Gottes-Botschaft Jesu geschichtlich Gestalt angenommen hat und der uns in die Pflicht nimmt, diese Botschaft weiterzugeben, wenn wir von ihr überzeugt sind? Angesichts dieses Universalitätsanspruches darf man sich weder auf seine eigene private Geschichte zurückziehen und sich mit ihr begnügen, noch sollte man selbstquälerisch und schuldbewußt (denkt man an das Versagen und Scheitern in der Geschichte Israels wie der Kirche) auf eine Artikulation des vielleicht noch akzeptierten, aber nicht mehr als vermittelbar betrachteten Anspruchs verzichten. Denn der Anspruch verliert nicht seine Gültigkeit durch die Unzulänglichkeit derer, die ihn vertreten. Wer sich dieser Aufgabe stellt, gerät natürlich in Konflikte und muß sich selbstverständlich auch Methoden und Strategien überlegen, wie er den Anspruch glaubwürdig vertreten und umsetzen kann, ohne ihn in Gestalt von Imperialismus, Absolutismus, Totalitarismus usw. zu pervertieren.

Die Vorherrschaft des Marktes und falsche Bescheidenheit

Ich sehe heute die Gefahr, daß gerade in einer Zeit, in der es unbestreitbar eine Art von Welteinheitskultur gibt wie auch ein allgemeines Bewußtsein davon, zumindest was deren Bestandteile, die mit der Vorherrschaft des Marktes und dem angeblichen Sieg des Kapitalismus zusammenhängen, betrifft, wir Christen unsere eigene Geschichte als partikular begreifen und in falscher Bescheidenheit deren universellen Anspruch zurücknehmen. In dieser Situation halte ich es sogar eher für geboten, in die Offensive zu gehen. Man muß dann allerdings auch bereit sein, die sich daraus ergebenden Folgelasten argumentativer, politischer und emotionaler Art zu übernehmen. Während die Herrschenden ihre Ansprüche und ihre Macht zunehmend globalisieren und universalisieren, machen wir Christen uns daran, Regionalisten zu werden und trauen uns nicht mehr, über das kleine Palästina hinauszugehen und den einst ergangenen Befehl auszuführen, alle Grenzen zu überschreiten. Dann werden wir aber nicht nur die jüdisch-christliche Geschichte zu einer zwar wunderschönen, aber leider nur sehr begrenzt gültigen Geschichte umstilisieren, sondern auch all jene Geschichten der Befreiung und Solidarität, die sich aus ihr entwickelt haben, zu kulturellen Ausnahmefällen degradieren. Auch gerade gegenüber dem Problem der Inkulturation dürfen wir das Stichwort Universalität nicht ausklammern. Wir sollten es vielmehr in den Diskurs so einbringen, daß es mit dem Stichwort Inkulturation eine dialektisch, das heißt konstruktiv oppositionelle Einheit eingeht. Tun wir dies nicht, dann bleiben wir nicht nur hinter den heute weltweit sichtbar werdenden Herausforderungen zurück, sondern verraten eben auch unsere eigene Geschichte, was gleichzeitig auch den Verlust von Identität bedeuten würde. Dieser dialektische Bezug zwischen Kontextualität und Universalität oder zwischen Konkretem und Abstraktem, wie es Marx in den methodologischen Überlegungen seiner „Grundrisse“ ausgeführt hat, wird heute allzu schnell und allzu bereitwillig vergessen. Das Konkrete ist Ausgangspunkt und Endpunkt der Denkbewegung, doch dazwischen liegt der Weg zum Abstrakten, über den ein neuer Zugang zum Konkreten eröffnet wird. Das Abstrakte aber bedient sich der allgemeinen Begriffe und einer für alle Menschen gültigen Logik. Und dies alles verschwindet, wenn wir das Hauptgewicht auf die Kontextualität legen. Denn um die Kontextualität als Implikationszusammenhang überhaupt denken zu können, muß sie in der dialektischen Spannung zum Allgemeinen, das sich in der Partikularität konkretisiert, gedacht werden. Und genau diese Mühe des Begriffs wollen viele heute nicht mehr auf sich nehmen und überhöhen diese Weigerung dann auch noch mit einer Theorie der Anerkennung des Anderen oder geben ihrer Unlust den theoretischen Status einer kontextuellen Theologie.

Universalität und Totalitarismus

Bei der hiesigen Übernahme des Diskurses über die Andersheit und den Anderen, wie er im Rahmen der Theologie der Befreiung zurecht gepflegt wird, haben sich daher viele Mißverständnisse eingeschlichen, die in dem Vorwurf gipfeln, das aller Anspruch auf Universalität notwendig im Totalitarismus enden muß. Ähnliches gilt auch für den parrallel dazu hierzulande etablierten kommunitaristischen Diskurs, für den es keine allgemein verbindliche Definition des Guten, Wahren und Schönen, sondern bestenfalls eine Schritt für Schritt vorgenommene Vernetzung von Verfahrensformen und Regelsystemen gibt. Aber daran festzuhalten, daß es etwas gibt, was aus sich heraus für alle Menschen gut ist, heißt natürlich nicht, so etwas Unsinniges zu fordern, wie, daß alle Menschen unsere Zivilisationsstandards übernehmen müssen. Doch es bedeutet sehr wohl, an Behauptungen wie den folgenden festzuhalten: Gut ist für alle Menschen, daß sie erlöst werden von ihren Leiden, daß sie vom Tode auferstehen, gut ist für alle Menschen, daß sie ihr Anrecht auf Liebe verwirklichen können sollten. Wenn ich darauf verzichte, solche Sätze aufzustellen, dann darf ich gar nichts mehr sagen, was in die Richtung eines allgemeinen Humanum verweist. Natürlich gibt es Ebenen, auf denen die Differenzierung und die Kontextualität Vorrang haben, aber es gibt auch Ebenen, auf denen Differenzierung nicht mehr möglich ist, weil man auf Zusammenhänge stößt, die in der Denkgeschichte als transzendental gekennzeichnet werden, die sich aber zeigen, wie Wittgenstein sagen würde. Hier liegt das eigentliche Problem der Inkulturation: Wo zeigt sich in der fremden Kultur der transzendentale Bezugspunkt, an dem ich das „Für-alle“ des Evangeliums, nicht nur formal, sondern auch inhaltlich anknüpfen kann?