Rundbrief 33

Der Rundbrief 33 des ITP ist erschienen. Die Beiträge: Editorial – Michael Ramminger: Missbrauch, Kirche, Katakomben – Katja Strobel: Das II. Vatikanische Konzil im Licht des Katakombenpaktes – Boniface Mabanza: Den Geist aufrütteln – Sandra Lassak: „Gutes Leben statt besseres Leben“: andine Visionen und gesellschaftliche Alternativen. Eindrücke vom Projekt politischen Wandels in Bolivien – Paul Weß: GOTT, Christus und die Armen

Rundbrief 33 des Institut für Theologie und Politik

Juli 2010

Inhalt:

Editorial

Michael Ramminger: Missbrauch, Kirche, Katakomben

Katja Strobel: Das II. Vatikanische Konzil im Licht des Katakombenpaktes

Boniface Mabanza: Den Geist aufrütteln

Sandra Lassak: „Gutes Leben statt besseres Leben“: andine Visionen und gesellschaftliche Alternativen. Eindrücke vom Projekt politischen Wandels in Bolivien

Paul Weß: GOTT, Christus und die Armen

Liebe Freundinnen und Freunde

des ITP,

in mancher Hinsicht überschlagen sich die Ereignisse, anderes bleibt immer gleich. In diesem Rundbrief finden Sie weder etwas zur europäischen Krise, noch zum Israel-Palästina-Konflikt oder zu den Koalitions- fragen. Trotzdem wollen wir hier darauf hinweisen, dass die Bemühungen um ein ‚Auffangen‘ der Finanz- und Wirtschaftskrise in der EU ein deutliches Comeback des Neoliberalismus zeigen, wie wir es zu Beginn der globalen Wirtschaftskrise vor zwei Jahren nicht für möglich gehalten hätten. Erschreckend ‚alternativlos‘ wird darauf verzichtet, Finanzspekulationen einzudämmen und die marktradikale Ausrichtung der Wirtschaftsunion in Frage zu stellen. Stattdessen formuliert der Internationale Währungsfonds — wie Ende der 90er Jahre in Asien oder Argentinien — die neoliberalen Bedingungen für Kredite, diesmal zusammen mit der EU: Rückbau im Sozialbereich, Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst etc. Unsere Solidarität gilt denen, die unter anderem in Griechenland gegen diese Maßnahmen protestieren.

Die Themen unseres Rundbriefs be- treffen andere Dinge, sind aber unseres Erachtens nicht weniger aktuell: Es geht um den Macht-Missbrauch in der Katholischen Kirche, aktuelle Entwicklungen in Bolivien, unser Vorhaben zu „50 Jahre II. Vatikanisches Konzil“, einen theologischen Blick auf Straßenkinder in Kinshasa und einen weiteren Beitrag zum Konflikt in der Befreiungstheologie.

Die Bilder stammen von einer Reise von ITP-MitarbeiterInnen nach El Salvador zum 30. Jahrestag der Ermordung Bischof Romeros im März dieses Jahres.

Übrigens wird es in diesem Jahr wieder eine befreiungstheologische Sommerschule geben! Näheres dazu auf der letzten Seite.

Ihr ITP-Team

Missbrauch, Kirche, Katakomben

Michael Ramminger

Die jüngsten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche werden inzwischen auch von der Kirchenleitung als offensichtliches Problem zugegeben. Die Erklärungsversuche und Veränderungswünsche reichen vom Beharren des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Zollitsch, dass die Missbrauchsfälle nicht ursächlich mit dem Zölibat zusammenhängen, bis zur gegenteiligen Unterstellung wie in den Forderungen der Initiative „Wir sind Kirche“ (1), dass der Zölibat überprüft und die katholische Kirche grundlegend demokratisch reformiert werden müsse. Aber der grundsätzliche Verrat an der messianischen Botschaft Jesu, die Tatsache, dass ein deutscher Bischof erst auf öffentlichen (außerkirchlichen) Druck zurücktrat und die Tatsache, dass die Vertuschungspraxis letztlich weitergeht, verweisen auf eine Dimension der Krise der Kirche, von der Joseph Ratzinger möglicherweise mehr ahnt als alle kirchlichen Reformbewegungen zusammen.

Macht und Missbrauch

Priester sollen sich aus der Perspektive der Hierarchie als Hirten verstehen. Sie sind die vom Papst (Gott) eingesetzten „Hüter“ der „Herde“ (Gemeinde). Der Hirte sammelt, leitet und führt, er ist der „Retter“ der Herde, er sorgt für die Nahrung und „kennt das Ziel der Herde“. Er wacht und überwacht die Herde. (2) Diese Überwachung besteht bis heute aus Elementen politisch-herrschaftlicher Kontrolle durch Dogmen, ethische Instruktionen, Implantierung sozialer Kontrollmechanismen und nicht zuletzt aus dem „Geständnis“. Der Theologe Karl Rahner hatte das Pfarreisystem deshalb zu Recht mit Polizeirevieren verglichen. (3) Die Schafe sind Besitz des Hirten, er führt und leitet nicht nur, er kontrolliert auch: Die Geschichte der Beichte ist auch die Geschichte des intimsten Zugriffes der Hirten auf das Leben der ihm Anempfohlenen: Wer sollte vor den Körpern Halt machen, wenn ihm die Seelen schon gehören? Dieses System hat sich über die Jahrhunderte institutionell verdichtet und sich — bei aller Brüchigkeit — offenkundig bis heute gehalten. In diesem Konstrukt der nie ausgesprochenen, aber immer noch existierenden Superiorität des „von Gott“ und nicht von der Gemeinde erwählten Hirten ist wohl nicht zuletzt auch Raum genug für die übelsten Perversionen und schlimmsten Machtmissbräuche, die man denken kann: Der seelische und damit letztlich immer auch körperliche Missbrauch in der Kirche (als Ge-brauch, d. h. als objektivierende, inferiorisierende Behandlung) ist Teil ihres Selbstverständnisses. Dieses Selbstverständnis aber, darauf kommt es an, ist Teil eines mittelalterlich-feudalen Knotenpunktes gesellschaftlicher Macht, der durch die Kirche gebunden wurde und in dem sie Legitimität und Selbsterhaltung findet.

Die Institution über allem

Dieses Machtverhältnis immunisiert sich vor sich selbst und seinen Irrwegen dadurch, dass seine Träger sich als Teil einer „heiligen Institution“ begreifen, die auch durch die abscheulichste Praxis in ihrer Sendung und Übergeschichtlichkeit nicht in Frage gestellt ist. So können auch die abstrusesten Praxen noch als dem Willen Gottes gemäß interpretiert werden. Und dabei geht es nicht nur um Kindesmissbrauch, sondern auch um die unerträgliche Anpassung an herrschende Verhältnisse, den Umbau von Kirchen in „Religionskonzerne“ oder Rationalisierungsprozesse gegen den Willen von Gemeinden. Kirche wird als ein überweltliches Konstrukt verstanden, das im Verständnis ihrer „Heiligen“ durch keine wie auch immer geartete Wirklichkeit gefährdet ist, und dessen Botschaft zweitrangig geworden ist. Die Beibehaltung des mittelalterlich-feudalen institutionellen Selbstverständnisses bei gleichzeitigen neoliberalen Strukturreformen verweist auf die dramatische Unfähigkeit der Kirche, sich in einer kapitalistisch-globalisierten, einerseits religiös und weltanschaulich differenzierten und andererseits vom Einheitsdenken bestimmten Welt zu verorten.

Die Angst hinter allem

Das II. Vatikanum von 1962–65 war der Versuch der katholischen Kirche, sich aus diesem Ungleichzeitigkeitsverhältnis zu befreien und einen neuen, einen eigenen Ort in der Welt, in den unterschiedlichen Gesellschaften der Moderne zu bestimmen. Der Optimismus in Bezug auf die Freiheitsmöglichkeiten, die Fortschrittsfähigkeit und die Demokratiepotentiale der damaligen Zeit war groß, vielleicht zu groß und rief die vatikanischen Gralshüter auf den Plan. Leise und fast unbemerkt wurde jedes Risiko, das die Konzilskirche einzugehen bereit war, um einen messianischen Ort in der Welt zu finden, hintergangen: Durch Bischofsersetzungen, Entmachtung von Bischofskonferenzen und nicht zuletzt durch Verrat, wie im Fall von Bischof Romero. Die verzweifelte Suche nach Legitimität lässt Angst erkennen: Angst, das Alleinvertretungsmonopol auf Hoffnung und Sinn, wie auch immer sie aussehen, zu verlieren, Angst, diesmal sehr weltlich gedacht, dieses Monopol als gesellschaftliche Institution, als wichtiger Faktor gesellschaftlicher Meinungs- und Hegemoniebildung zu verlieren (ohne zu begreifen, dass es schon längst verloren ist).

Solange diese Angst nicht überwunden ist, solange sich auch Reformbestrebungen und -forderun- gen auf liberale Strukturreformen reduzieren, werden die Kirchen keine Zukunft haben. Zurück zur biblischen Botschaft, zur radikalen Verkündigung (und Praxis!) prophetischer Reich-Gottes-Gerechtigkeit — und von dort aus nach neuen Organisationsformen suchen! Einen anderen Weg gibt es nicht. Es ist ein Weg mit unbekanntem Ausgang, wie ihn auch der Evangelist Markus angesichts des leeren Grabes vorschlägt: „Er geht euch voran nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen, wie ich gesagt habe.“ Dorthin zurück, wo alles begann, zurück in die Katakomben. Aber „werden wir, werden die Kirchen den Mut dazu haben“ wie Johann Baptist Metz kürzlich auf einer Tagung des ITP fragte?

Anmerkungen:

(1) „Auch in der Diözese Würzburg gibt es sexuellen Missbrauch von Priestern, der zumindest indirekt mit dem Zölibat in Zusammenhang steht“, sagte Dr. Wunibald Müller, Leiter des Recollectiohauses in Münsterschwarzach, Diözese Würzburg: http://www.wir-sind-kirche.de/index.php?id=128&id_entry=2628

(2) Hermann Steinkamp, Die sanfte Macht der Hirten, Mainz 1999, 25ff.

(3) Karl Rahner, Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance, Freiburg i.Br. 1972, 115f.

Das II. Vatikanische Konzil im Licht des Katakombenpaktes

Katja Strobel

Bald wird es 50 Jahre her sein: Zwischen 1962 und 1965 versammelten sich Bischöfe aus der ganzen Welt in drei Etappen in Rom zum II. Vatikanischen Konzil und formulierten wertvolle und weitreichende Beschlüsse zum Selbstverständnis der Kirche. Als Auftakt für ein Projekt, in dem wir in den nächsten Jahren die Konzilsanliegen aufgreifen wollen, hat das Institut für Theologie und Politik zu einer Fachtagung mit dem Titel „Das II. Vatikanische Konzil im Licht des Katakombenpaktes“ eingeladen (der Katakombenpakt ist eine Selbstverpflichtung von Bischöfen am Rande des Konzils, wir veröffentlichten sie im Rundbrief 32).

Die teilnehmenden Theologinnen und Theologen deckten ein breites Spektrum ab, sowohl was das Lebensalter als auch die Arbeitsfelder betrifft. Es wurden sehr unterschiedliche Sichtweisen auf das Konzil und seine Bedeutung heute deutlich. Trotzdem war ein Konsens erkennbar: Die Perspektive auf das Konzil darf nicht auf eine Diskussion über Priesteramt, Zölibat und Kirchenstrukturen verengt werden. Vielmehr muss es darum gehen, die Zeichen der Zeit angemessen zu erkennen und einen befreienden Glauben zu tradieren.

Dreifacher Blick auf das Konzil

Während der Fachtagung wurde das II. Vatikanum im Wesentlichen unter drei Perspektiven in den Blick genommen: erstens die Inhalte der Konzilstexte und ihre aktuelle Relevanz, zweitens das Ereignis des Konzils in seiner Bedeutung für die damalige Situation von Kirche und Gesellschaft und drittens die Frage danach, was durch das Konzil zwar angestoßen, aber nicht weiter verfolgt wurde.

Zu Beginn erzählten Johann-Baptist Metz, Elmar Klinger und Norbert Arntz aus ihrer Perspektive von der Bedeutung des Konzils für ihre Theologie. Johann Baptist Metz betonte die Bedeutung der anthropologischen Wende für das Gottes- und das Kirchenthema: Es geht seither nicht mehr um „die Wahrheit“, sondern um die geschichtlichen Subjekte in ihrer Wahrheit. Dazu gehört auch die Religionsfreiheit und das entsprechende Dekret, das Metz als einen der „Aufreger“ bis heute identifizierte, und zwar vor allem in Gestalt der „negativen Religionsfreiheit“, also der Freiheit, keine Religion zu haben. Damit wurde von der Kirche erstmals die Legitimität des säkularen Menschen formuliert. Metz insistierte auch darauf, dass das Konzil im Kontext seiner Zeit gesehen werden müsse und die heutigen Fragen anders gestellt werden müssten. Und er warnte davor, das Konzil lediglich als Selbstbestätigung der Moderne zu feiern.

Der Mensch im Mittelpunkt

Elmar Klinger stellte die Errungenschaften des Konzils in den Mittelpunkt und bestand darauf, dass die katholische Kirche an ihre eigenen Beschlüsse erinnert werden müsse. Für ihn waren drei Punkte des Konzils zentral: Zunächst der unauflösliche Zusammenhang der Kirche „nach innen“ und der Kirche „nach außen“. Paradigmatisch steht meines Erachtens dafür die berühmte Aussage zu Beginn der Pastoralkonstitution Gaudium et spes: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst, der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ In der Konsequenz muss das Volk Gottes — so der zweite Punkt Klingers — als alle Menschen umfassend gedacht werden. Nicht als Vereinnahmung, wie ich hinzufügen möchte, sondern als Perspektive derjenigen, die in die Heilsgemeinschaft mit einbezogen werden. Drittens stehen die Menschen im Mittelpunkt des kirchlichen Auftrags und der Offenbarung, wie es vor allen Dingen im 3. Kapitel der Konstitution über die Offenbarung (Dei Verbum 11-13) formuliert ist: Gottes Wort wird von Menschen für Menschen verkündet.

Für eine Kirche der Armen und eine arme Kirche

Norbert Arntz legte den Schwerpunkt auf den Katakombenpakt als subversives Vermächtnis des Konzils, weil durch diese Selbstverpflichtung von am Konzil beteiligten Bischöfen eine direkte Linie vom Konzil zur lateinamerikanischen Befreiungstheologie deutlich wird. Arntz machte durch seine Erzählungen von seiner Zeit als Pfarrer in Peru begreifbar, wie die An- liegen des Konzils in direkter Weise im Leben und Handeln der Bischöfe, aber auch im Aufbau der Gemeinden der Indígenas in den Anden umgesetzt worden sind.

In der Erinnerung an die Beschlüsse des Konzils und an die Kämpfe auf dem und um das Konzil können wertvolle Argumente für aktuelle Auseinandersetzungen um kirchliche Positionierungen gewonnen werden.

Konzilsgedenken als Herausforderung für Kirchen, die mitgestalten

Klar wurde auf der Tagung aber auch, dass im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit die Zeichen der Zeit, die Nöte der Menschen heute stehen, und dass wir daher um eine Erneuerung der Tradierung ringen müssen. Zur Sprache kamen dabei zum Beispiel die Vereinzelung und Überforderung der Menschen durch großen Druck in Erwerbsarbeit und Erwerbslosigkeit, aber auch die unmenschliche Einwanderungspolitik in BRD und EU und der fehlende Kontakt von Gemeindemitgliedern zu sozialen Bewegungen, die sich dieser Probleme annehmen.

Insgesamt war die Tagung sehr ermutigend. Wir werden das Projekt „II. Vatikanum: Erinnerung — Ereignis — Erneuerung“ angehen. Zum Abschluss wurden eine ganze Reihe von Vorschlägen für Aktionen, Veranstaltungen, Medien und KooperationspartnerInnen entwickelt. Weitere Ideen werden sicherlich noch folgen… Wir sind selbst gespannt.

Den Geist aufrütteln

Boniface Mabanza

Gerechtigkeit und Pfingsten“, so lautet der Titel eines Buches, das Anfang Mai 2010 erschienen ist. Es ist halb Festschrift anlässlich der Emeritierung von Prof. Giancarlo Collet, halb Dokumentation des Kongresses „Crossroads. Christentümer in Bewegungen und Begegnungen“, der im Oktober 2009 in Münster stattgefunden hat und den das Institut für Theologie und Politik mitgetragen hat. Wir dokumentieren aus diesem Buch auszugsweise den Beitrag von Boniface Mabanza (von ihm erschien 2009 in der Reihe Edition ITP-Kompass: Gerechtigkeit kann es nur für alle geben. Eine Globalisierungskritik aus afrikanischer Perspektive).

In der kongolesischen Hauptstadt werden Straßenkinder und –jugendliche „schége“ genannt. Dem Vernehmen nach geht der Name auf den argentinischen Revolutionsführer Ché Guevara zurück. Sie begreifen sich als Kinder und Jugendliche des Feuers, d. h. als solche, die sich nicht unterkriegen lassen, von nichts und niemandem. Diese Lebensphilosophie haben sie in einer sehr aussagekräftigen Formulierung verewigt: „Immer bekämpft, manchmal geschlagen, aber niemals niedergeschlagen“. … Sie sind bekannt für ihre Überlebenskunst, für ihren Kampfgeist, für ihre Kreativität, für ihre Weisheiten und Sprüche, für ihre Musik und ihre Tänze. Sogar die Sprache erfinden sie neu. Ihre Mischung aus Lingala und Französisch inspiriert sowohl die Textschreibung der kongolesischen Musik als auch den professionellen Journalismus. Ihre Sprüche sind gerade für Theolog/-innen inspirierend: Sie drücken genau das aus, worauf es bei der christlichen Mission ankommt: die Befreiung von Menschen von allen Ketten, die auf ihnen lasten. Wenn sie von „sauver“ (retten, erlösen) sprechen, meinen sie kein Heil im metaphysischen Sinne, sie signalisieren, dass sie existieren, dass sie es verdienen, geachtet zu werden, und dass ihre Existenz konkret durch Hunger, Krankheit, Obdachlosigkeit oder polizeiliche Gewalt bedroht ist. Sie betrachten ihre immer situationsbezogene Aufforderung zu einer Intervention — sei es im Blick auf Hunger oder Krankheit — nicht als ein Betteln, sondern als ein Recht … Auf diesem Weg fordern die Straßenkinder auf, ihre Wirklichkeit wahrzunehmen, und für die Theolog/-innen kommt es darauf an, diese Wirklichkeit einerseits auf den theologischen Begriff zu bringen und andererseits praxistauglich und politisch anchlussfähig zu buchstabieren. …

Es werden viele Witze von Straßenkindern erzählt. Einer dieser Witze bezieht sich auf die unermesslichen natürlichen Ressourcen des Kongo. Demzufolge überflog Gott den afrikanischen Kontinent für eine gerechte Verteilung von Bodenschätzen. Es geschah, dass sich über dem Kongo sein Flugzeug aufmachte und alles, was noch drin war, herunterfiel. So sei es zu erklären, dass im Kongo sowohl unermessliche Ressourcen als auch kaputte Flugzeuge zu finden sind.

Noch interessanter als die- se Erklärung ist die Lösung der Straßenkinder angesichts der Tatsache, dass die lokalen Eliten anscheinend nicht willig oder in der Lage sind, mit den Begehrlichkeiten, die natürliche Ressourcen bei fremden Mächten erwecken, gut umzugehen. Dieses Verhalten beinhaltet die Konsequenz, dass der natürliche Reichtum für die kongolesische Bevölkerung zu einem Fluch geworden ist. Die Lösung der Straßenkinder ist sehr eindeutig: Das Land sollte verkauft und das Geld verteilt werden. Mit dem Geld würde sich jeder Kongolese ein Gastland aussuchen. Hier fällt auf, dass die Straßenkinder nicht ahnen, dass das Land oder zumindest seine wertvollsten Konzessionen schon verkauft wurden — zu lachhaften Preisen. Bis März 2008 wurden auf der Basis eines von der Weltbank diktierten Bergbaugesetzes bereits 33,8 % des kongolesischen Territoriums an Bergbaugesellschaften abgetreten. …

Anders als die Straßenkinder verstehen viele andere gesellschaftliche Gruppen solche Entwicklungen. Das ist zum Beispiel der Fall bei den etablierten Kirchen mit ihren zahlreichen spezialisierten Institutionen und Netzwerken, wie z. B. die kongolesische Bischofskonferenz. Sie produziert viel Papier, um das zu erklären, was die Experten und andere kritische Akteure schon sagen, und begeben sich in moralische Appelle, die generell so allgemein und ängstlich formuliert sind, dass sich die Verantwortlichen der Missetaten davon unberührt zeigen. Diese Appelle tun niemandem weh! So zeigen sich die Kirchen als Institutionen, die alles wissen, was falsch läuft, aber immer Gründe finden, sich mit dem Status quo abzufinden, wenn sie die bestehenden Verhältnisse nicht sogar stabilisieren. Damit schließen sie bewusst oder unbewusst Frieden mit den Mächten des Todes.

Während die Wut und das Feuer der Straßenkinder in der Begrenztheit ihres Wissens und ihrer Handlungsspielräume eine klare Grenze finden, mündet das große Wissen der Bischofskonferenz und anderer und kirchlicher Institutionen in die Handlungsunfähigkeit, in die Lähmung. …

Fragt sich noch jemand, was die Straßenkinder von Kinshasa oder Rio hier, in der Theologie in Deutschland zu suchen haben? Wir brauchen deren Feuer und Kraft, damit wir wütend werden können über kurzsichtige und egozentrische Politik, über eiskaltes Wirtschaften und unfairen Handel, über Waffenhandel, Missbrauch von Macht und Diktatur des Geldes, damit wir aufstehen gegen Habgier und Missbrauch von Ressourcen dieser Erde, damit wir dürsten nach Gerechtigkeit und damit wir all unsere Kenntnisse, Fähigkeiten und Gaben einsetzen, um das Leben in seiner Vielfalt zu bewahren und zu umarmen. …

Gutes Leben statt besseres Leben“: andine Visionen und gesellschaftliche Alternativen

Eindrücke vom Projekt politischen Wandels in Bolivien

Sandra Lassak

„Die sozialen Bewegungen können uns zu einem sozialistischen postkapitalistischen Horizont führen“, so der bolivianische Vizeminister Alvaro Garcia Linera in Bezug auf das Projekt des sogenannten „proceso de cambio“, den sozio-politischen und ökonomischen Transformationsprozess, der fundamentale strukturelle Veränderungen Boliviens anstrebt. Einen kleinen Eindruck davon, welchen Erfolg Basisorganisationen und Massenmobilisierungen haben können und wie die gegenwärtigen Diskussionen um ihre Errungenschaften, aber auch noch ausstehende Herausforderungen aussehen, konnte ich während meines Aufenthaltes in Bolivien im Februar dieses Jahres gewinnen.

Dekolonialisierung und das Modell vom Guten Leben

Das Jahr 2009 war für Bolivien ein geschichtsträchtiges Jahr. Nicht nur die mit großer Mehrheit unterstützte Wiederwahl von Evo Morales, sondern auch die Verabschiedung einer Verfassung, die einer 500-jährigen Kolonialgeschichte endgültig ein Ende bereitete, ist Ausdruck des fundamentalen Veränderungsprozesses. Dabei bezieht sich die Dekolonisierung sowohl auf den Staatsapparat als auch auf die ökonomischen und sozialen Strukturen sowie kulturell verankerte Alltagspraxen und Denkweisen. Im Denken und im alltäglichen Mit- einander zeigt sich ein Rassismus, der die Indigenen als rückständig und vormodern abwertet. Als Reaktion auf die Benachteiligung und Diskriminierung der indigenen Bevölkerungsgruppen, die in Bolivien mit mehr als 60 Prozent den größten Bevölkerungsanteil ausmachen, zielt die neue Verfassung auf einen multiethnischen, plurinationalen Staat, der „gutes Leben“ (buen vivir) für alle garantieren soll. Die Idee des „guten Lebens“ konterkariert die des „besseren Lebens“, Paradigma des westlichen Fortschritts- und Modernisierungsmodells. Stattdessen geht es um ein gutes Leben, das als erfülltes Leben auf Prinzipien wie Wechselseitigkeit und Solidarität basiert und dabei nicht nur die Organisation der zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Blick hat, sondern sich auch der Bewahrung und Achtung aller Lebewesen und der Natur insgesamt verpflichtet weiß.

Indigene Gemeinschaften als Antriebskräfte der Veränderung

Dass diese umfassenden Veränderungsprozesse und das Projekt der Dekolonialisierung überhaupt angestoßen wurden, ist den sozialen Bewegungen, allen voran den indigenen Organisationen und den unterschiedlichen Massenprotesten, die es in vorhergehenden Jahren gegeben hat, zu verdanken.

Vor dem Hintergrund dieser historischen Ereignisse ist es kein Zufall, dass mit Evo Morales im Jahr 2005 ein indigener Präsident an die Macht gelangte und der Unterdrückung der indigenen Völker symbolisch ein Ende bereitete. Die Krise der herrschenden Klassen und das Erstarken sozialer Bewegungen, die Tausenden von BolivianerInnen, denen grundlegende Rechte verwehrt worden waren, ein Gesicht gaben, hatten dazu verholfen, Machtverhältnisse grundsätzlich neu und von unten zu gestalten.

Dabei ist es zu kurz gegriffen, das politische Projekt des Andenstaates als Aufbau eines kommunistischen oder sozialistischen Staates im andinem Gewand zu interpretieren. Dekolonialisierung meint auch ‚Entwestlichung‘, d. h. Befreiung von Rassismus und Eurozentrismus und damit auch eine Distanzierung von der bloßen Nachahmung linker (‚westlicher‘) Theorien.

Über den Aufbau eines sozialistischen Staates und die Anerkennung indigener Identitäten hinaus ist es notwendig, so der Aymara-Soziologe Felix Patzi, dem westlichen Denken alternative Wissenssystemen sowie kollektive ökonomische und sozio-politische Modelle gegenüberzustellen. So basiert beispielsweise die soziale und ökonomische Organisation der Aymara wesentlich auf kollektiven Strukturen, die keine Trennung zwischen Ökonomie und Politik vornehmen. In den sogenannten Ayllus oder min´kas werden Ressourcen gemeinschaftlich verwaltet und zum Wohl der Gemeinschaft verarbeitet, denn Land ist kein Privateigentum, sondern Lebensraum der ganzen Gemeinschaft. Die Wiederherstellung, Stärkung und Vernetzung dieser und ähnlicher kollektiver Modelle, die Ansätze für den Aufbau einer postkapitalistischen Gesellschaft bieten, gehört wohl zu den herausforderndsten Aspekten in der Frage um die Neuorganisierung Boliviens.

Religion und Kapitalismus: alte Allianzen in neuem Gewand

Multikulturalität und Plurinationalität zielen darüber hinaus auch auf die gleiche Anerkennung aller in Bolivien bestehenden Religionen und Traditionen. Von dem drohenden Verlust monopolisierter Privilegien ist besonders die kath. Kirche betroffen. Denn sie, zumindest große Teile der katholischen Hierarchie, war über Jahrhunderte hinweg Teil des herrschenden Apparates. Aufgrund ihrer Vormachtstellung und ihres großen Einflusses in den Bereichen von Bildung und Erziehung wird sie besonders als zentrale Institution mentaler und kultureller Kolonialisierung angesehen. Unzureichend berücksichtigt bleibt dabei die Rolle anderer, besonders neopentekostaler Kirchen. Viele dieser neuen und äußerst erfolgreichen Kirchen sind mit ihrem Evangelium der Prosperität weit- aus kapitalismuskompatibler und neokolonialer als Teile der kath. Kirche. Die Allianzen zwischen Religion und Kapitalismus lassen sich nicht an religiösen Denominationen oder Institutionen festmachen, sondern die unterschiedlichen Positionierungen in Bezug auf das neue politische Projekt spalten die verschiedenen Kirchen zwischen UnterstützerInnen und GegnerInnen des Dekolonialisierungsprojektes. Wenn sich die kath. Kirche größtenteils zwar bedroht und als Opfer in den gegenwärtigen Prozessen sieht und oppositionelle Kräfte bündelt, so gibt es dennoch auch Gruppen an der Basis, die in Anknüpfung an befreiungstheologische Traditionen die politischen Veränderungen als Chance für den Aufbau einer egalitären und solidarischen Gesellschaft begreifen.

An der Frage von Christinnen und Christen und religiösen Institutionen als zentralen gesellschaftlichen Akteure in dem gegenwärtigen politischen Projekt des Andenstaates, ihrer Teilnahme an den sozialen Bewegungen, wird sich letztendlich mitentscheiden, inwiefern ein Projekt des „guten Lebens“, in dem verschiedene theologische und politische Perspektiven miteinander vermittelt und gemeinsam utopische Gegenentwürfe entwickelt werden, umgesetzt werden kann.

GOTT, Christus und die Armen

Paul Weß

In der letzten Veröffentlichung in der Reihe Edition ITP-Kompass: „GOTT, Christus und die Armen“ hat der Innsbrucker Theologe Paul Weß die befreiungstheologische Diskussion um die Armen und ihren Ort in der Theologie aufgegriffen. Wir veröffentlichen hier Auszüge.

„Die Armen und ihr Ort in der Theologie“ — so nannte Ludger Weckel die von ihm herausgegebene Dokumentation über den innerhalb der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung entstandenen Konflikt, der durch eine Kritik von Clodovis Boff an seinen bisherigen Mitstreitern ausgelöst wurde. (1) Dieser formulierte in einer Zusammenfassung gleich am Beginn seines Beitrags „Theologie der Befreiung und die Rückkehr zu ihren Fundamenten“ (20–49) sein Anliegen: „Es geht darum zu zeigen, dass die Theologie der Befreiung (TdB) einen guten Anfang nahm, dann aber aufgrund ihrer epistemologischen Uneindeutigkeit schließlich vom Weg abgekommen ist: Sie stellt die Armen an die Stelle Christi. Aus dieser grundlegenden Verkehrung resultierte ein zweiter Irrtum: die Instrumentalisierung des Glaubens ‚für’ die Befreiung“ (20).

In seinen weiteren Ausführungen lautet die Kritik von C. Boff: „Was passiert bei der Theorie-Arbeit der TdB? Es kommt zu einer Umkehrung des epistemologischen Primats. Nicht Gott, sondern der Arme wird zum Wirkprinzip der Theologie … Wenn der Arme nun den Status des epistemologisch Ersten einnimmt, was geschieht dann mit dem Glauben und der Lehre auf der Ebene von Theologie und Pastoral? Der Glaube wird in der Funktion für die Armen instrumentalisiert. Man verfällt in Bezug auf das Wort Gottes und die Theologie allgemein einem Utilitarismus bzw. Funktionalismus. … In Wirklichkeit spielt die Transzendenz für diese Theologie eine geringe und unwichtige Rolle …“ (24f).

Wenn man die beiden Texte genau miteinander vergleicht, bemerkt man in einem wichtigen Detail einen Unterschied, der offensichtlich für Clodovis Boff keiner ist: Während er eingangs den Vorwurf erhebt, dass die Theologie der Befreiung die (oder den) Armen an die Stelle Christi gesetzt habe, heißt es später in seiner Kritik, dass in dieser Theologie der Arme die Stelle Gottes einnimmt und dadurch zum Wirkprinzip der Theologie wird. Clodovis Boff geht also wie selbstverständlich davon aus, dass im christlichen Glauben Christus und Gott identisch und daher austauschbar sind. Dass dieser Jesus Christus laut dem Neuen Testament einem Mann verboten hat, ihn gut zu nennen, weil niemand gut ist „außer Gott, dem Einen“ (Mk 10,18), dass er selbst an Gott geglaubt hat und uns zum Glauben an Gott führen wollte (Joh 12,44: „Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat“), ist für Boff nicht relevant. Hier liegt eine mindestens ebenso gravierende epistemologische Uneindeutigkeit vor wie jene, die er der Befreiungstheologie vorwirft.

Doch diese ist in ihren christologischen Voraussetzungen keineswegs genauer. Unter Hinweis auf den „so zentralen und für die TdB charakteristischen Text Mt 25,31–46“ und darauf, dass Clodovis Boff diesen „nicht einmal erwähnt“, schreibt dessen Bruder Leonardo: „Deshalb können wir also nachdrücklich festhalten: Es ist kein theologischer Irrtum, den Armen mit Gott und Christus zu identifizieren.“ (58). Hier wird Christus ebenfalls mit Gott gleichgesetzt (wenn zwei Größen einer dritten Größe gleich sind, sind sie auch untereinander gleich); weil aber Jesus sich laut der Rede vom Weltgericht (Mt 25) mit den Armen identifiziert hat, wird daraus noch abgeleitet, dass Gott, Christus und der Arme untereinander austauschbar sind. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Positionen liegt also darin, dass Leonardo Boff diese Gleichsetzung unter Berufung auf eine „angemessene Inkarnationstheologie“ (55) auf der menschlichen Ebene vornimmt (im Sinn von: Gott ist Mensch geworden und hat sich als solcher mit den Armen identifiziert), während sein Bruder Clodovis Christus als Gott auf der göttlichen Ebene belässt und diesen Christus-Gott als Erlöser über die (oder den) Armen stellt; also nicht alle drei miteinander identifiziert, sondern die Transzendenz Gottes und damit die des göttlichen Christus bewahren will.

Immer wieder kommt es in Auseinandersetzungen vor, dass beide „Parteien“ von einer gemeinsamen Grundannahme ausgehen, ohne sie zu hinterfragen und nötigenfalls zu korrigieren, aus der sich fehlerhafte Konsequenzen ergeben, die einander auch widersprechen können, falls gegensätzliche Folgerungen daraus gezogen werden. Wenn nun eine Seite bei der anderen einen solchen Folge-Fehler bemerkt und ihn kritisiert, ohne dessen eigentliche Ursache in den auch von ihr angenommenen Voraussetzungen zu erkennen, kann sie diese Kritik nicht überzeugend vorbringen und das Problem nicht an der Wurzel beheben. Eben dies dürfte im Konflikt innerhalb der Befreiungstheologie der Fall sein. Der gemeinsame Ausgangspunkt beider Seiten ist, dass ein und derselbe Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist (nach dem Konzil von Chalkedon) und man daher bei ihm die göttlichen Attribute auf den Menschen übertragen kann und umgekehrt (Idiomenkommunikation). Demnach kann man entweder daran festhalten wollen, dass dieser „Gottmensch“ als transzendenter Gott über den Armen steht (so Clodovis), oder unter Berufung auf seine Menschwerdung Gott mit Christus und beide nach Mt 25 auch mit den Armen auf dieselbe Ebene stellen (so Leonardo u. a.). Es geht also in dieser Auseinandersetzung keineswegs nur um den Ort der Armen, sondern grundlegender schon um die „Orte“ Christi und Gottes in der Theologie, also um das gegenseitige Verhältnis von Gott, Christus und den Armen und damit um die Frage, ob die Transzendenz Gottes auch gegenüber dem sich mit den Armen identifizierenden Jesus Christus besteht. (2)

Anmerkungen:

(1) Die Armen und ihr Ort in der Theologie. Hg. Ludger Weckel, Institut für Theologie und Politik, Münster (Westf.). Münster 2008 (als Online-Buch unter: www.itpol.de/?p=267). Seitenzahlen in Klammern ohne weitere Angaben beziehen sich auf diese Dokumentation.

(2) Vgl. meine Auseinandersetzung mit der Befreiungstheologie in: Paul Weß, Gemeindekirche – Ort des Glaubens. Die Praxis als Fundament und als Konsequenz der Theologie. Graz 1989, 259–274.