Kern: Kirche und prekarisierte Arbeit

Texte Bild WebBefreiung aus der Unterdrückung als Grundsatzprogramm

Warum die Kirche sich auf die Seite prekarisierter Arbeitnehmer_innen und Erwerbsloser stellen muss

von Benedikt Kern

Der Beitrag wurde veröffentlicht im Bündnisbrief des Bündnisses für Menschenwürde und Arbeit. Nachrichten aus Gesellschaft und Arbeitswelt, Mönchengladbach April 2018, S. 3. Weitere Veröffentlichungen des ITP finden sich auch unter der Rubrik „Texte„. Buendnisbrief_April_2018 

Seit die Agenda 2010 in der Bundesrepublik als ein großes Projekt des neoliberalen Umbaus von Beschäftigungsverhältnissen und des Sozialsystems eingeführt wurde, ist die Zahl derer, die in prekären Arbeitsverhältnissen sind, deutlich gestiegen. Dazu zählen befristete Verträge, ein Boom von Leiharbeitsfirmen, die Zunahme von Werkverträgen und zunehmender Druck zur Flexibilisierung und höheren Mobilität.1 Hinzukommt, dass sich Betriebsräte immer weniger aktiv einbringen (können) und gewerkschaftliche Organisierung durch Individualisierungsprozesse erschwert wird. So gelingt es immer schlechter,Arbeitskämpfe zu führen und Solidarität zu organisieren. Zwar ist die Zahl der Erwerbslosen seit 2005 zurückgegangen,2 dies liegt jedoch an der Zunahme der prekären Arbeitsplätze: Viele Menschen arbeiten, verdienen aber so wenig Geld, dass sie davon nicht leben können. Gerade ältere Menschen sind häufig nicht mehr in Beschäftigungsverhältnisse zu bringen, was eine Zunahme der Altersarmut mit sich bringt.

Hinzukommt, dass die soziale Schere durch diese Entwicklungen immer weiter auseinander geht: In Deutschland verfügen die reichsten 40 Personen über das gleiche Vermögen wie die ärmere Hälfte der Gesamtbevölkerung, d.h. eine normale Arbeitnehmerin muss 157 Jahre lang arbeiten, um das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Dax-Vorstandes zu erzielen.3 Dies ist eine soziale Spaltung, die die Wirkmächtigkeit des Klassenkampfes von oben bildlich vor Augen führt.

Dementsprechend stellt sich die Frage, wie Christ_innen, jedoch auch die kirchlichen Institutionen angesichts dieser Situation von Prekarisierung und neoliberaler Verwertungs- und Profitlogik agieren können?

In seiner Botschaft an die Teilnehmenden am Weltwirtschaftsforum im Januar 2018 in Davos, prangerte Papst Franziskus mit deutlichen Worten „wachsende Arbeitslosigkeit, wachsende Armut, eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und neue Formen der Sklaverei“4 an. Er bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Wir können nicht schweigen angesichts der Leiden von Millionen Menschen, deren Würde verletzt ist, noch können wir einfach so weitermachen, als gäbe es für die weitere Verbreitung von Armut und Ungerechtigkeit keinen bestimmten Grund“. Es sei ein Auftrag an uns, die richtigen Bedingungen zu schaffen, damit jeder Mensch in Würde leben könne. Franziskus hat somit eine unmissverständliche prophetische Kritik an den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen geübt und grundsätzliche Veränderungen eingefordert. Dies schließt an seine theologische Götzen- und Kapitalismuskritik an, die er unter anderem in seinem Lehrschreiben Evangelii Gaudium5 formuliert hat.

Aus einer befreiungstheologischen Perspektive besteht die Verpflichtung für Christ_innen und die Kirchen darin, an die biblische Befreiungserzählung des Exodus zu erinnern, in der das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten ausgebrochen ist, um ein neues Gesellschaftsprojekt von Freien und Gleichen zu realisieren.6 Dementsprechend gilt es Verhältnisse, unter denen Menschen ausgebeutet werden und verarmen, anzuprangern und zu delegitimieren. Hierzu kann die biblische Erzählung von der Hoffnung auf eine Gesellschaft von Freien und Gleichen eine Inspirations- und Vergewisserungsquelle sein. Sie kann dazu inspirierender Alternativlosigkeit und dem „Immer-weiter-so“ des Neoliberalismus – wie er sich ganz konkret in den Auswirkungen der Agenda 2010 zeigt – die Stirn zu bieten und Bedingungen zu schaffen, durch die solidarische Strukturen aufgebaut werden können.7

Ein Ansatzpunkt zur Konkretion könnte die von Papst Franziskus angestoßene intensivierte Allianz der katholischen Kirche mit den Sozialen Bewegungen sein, die sich weltweit für radikale Veränderungen von unten einsetzen. Bereits drei Mal gab es seit 2014 größere Treffen dieser politischen Basisbewegungen mit dem Papst, bei denen das Thema von Arbeitsverhältnissen u.a. auf der Tagesordnung stand. Papst Franziskus machte den Bewegungen deutlich, dass sie als organisierte Arme und von Repression Betroffene diejenigen seien, von denen die Kirche für ihren Einsatz um Weltveränderung zu lernen habe.8

Diese Einsicht ist in der Kirche in Deutschland leider noch nicht vernehmbar geworden, auch wenn es bereits erste Ansatzpunkte der Zusammenarbeit von Gemeinden und politischen Bewegungen, wie in der Kirchenasylpraxis, gibt. In Bezug auf prekäre Arbeitsverhältnisse wäre eine Thematisierung dieses gesellschaftlichen Problembereichs in Kirchengemeinden und christlichen Verbänden viel stärker nötig – gerade auch weil die Kirchen als Arbeitgeberinnen selbst in Neoliberalisierungsprozesse verstrickt sind. Viel zu schnell werden diese Fragen und deren politische Bearbeitung an professionalisierte Akteur_innen wie Caritas und Diakonie ausgelagert oder Christ_innen verlassen sich auf die politischen Stellungnahmen der amtskirchlichen Hierarchie und drücken sich so um eine eigene Positionierung.

Um so mehr sind diejenigen Christ_innen, die die Erzählung der Befreiung ins Zentrum rücken wollen, aufgefordert die Situation Erwerbsloser und prekär Beschäftigter in den Blick zu nehmen. Dabei könnten sie laut in der Öffentlichkeit Stellung beziehen, verstärkt Allianzen mit nicht-kirchlichen Akteur_innen eingehen und prophetisch Alternativen aufzeigen. Denn in unserer jüdisch-christlichen Tradition geht es um nichts weniger als die Befreiung aus der Sklaverei – oder anders ausgedrückt: das gute Leben in Fülle für alle, jenseits von Ausbeutung und Unterdrückung. Dorthin gilt es auch heute sich gemeinsam auf den Weg zu machen!

Zum Autor

Benedikt Kern, Kath. Theologe, Mitarbeiter am unabhängigen Institut für Theologie und Politik in Münster, das zu befreiungstheologischen Themen an der Schnittstelle von Kirche und Sozialen Bewegungen arbeitet. Er koordiniert und Berät die Kirchenasyle in NRW. Kontakt: kern[at]itpol.de

1Vgl. die Analyse der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ) Deutschland in ihrer Broschüre: Wie junge Menschen heute arbeiten. Essen, 2015. Abrufbar unter: https://www.caj.de/aktion/prekaere-arbeit.

2Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1223/umfrage/arbeitslosenzahl-in-deutschland-jahresdurchschnittswerte/.

3Vgl. http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/davos-weltwirtschaftsforum-oxfam-warnt-vor-steigender-ungleichheit-a-1189067-amp.html?__twitter_impression=true.

4http://www.vaticannews.va/de/papst/news/2018-01/papst-fordert-kehrtwende-in-wirtschaftspolitik.html.

5Literaturhinweis: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Apostolisches Schreiben EVANGELII GAUDIUM des Heiligen Vaters Papst Franziskus an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute. 24.11.2013. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 194. Bonn 2013.

6Literaturhinweis: Boer, Dick: Erlösung aus der Sklaverei. Versuch einer biblischen Theologie im Dienst der Befreiung. Münster 2008.

7Literaturhinweis: Strobel, Katja: Zwischen Selbstbestimmung und Solidarität. Arbeit und Geschlechterverhältnisse im Neoliberalismus aus feministisch-befreiungstheologischer Perspektive. Münster 2012.

8Vgl. Papst Franziskus: Ansprache vor den Teilnehmern am Welttreffen der Sozialen Bewegungen in der Alten Synodenaula, Rom, 28.10.2014. Dt. Übersetzung abrufbar unter: http://www.itpol.de/?p=1491.