rundbrief nr. 30

Liebe Freunde und Freundinnen des ITP. Fünfzehn Jahre gibt es uns nun schon, das hier ist der dreißigste Rundbrief.  Wir möchten uns bei allen ganz herzlich bedanken, die uns in dieser Zeit in den verschiedensten Weisen unterstüzt haben. Dieser Rundbrief hätte ein Rückblick werden können, er hätte sich auch mit den aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrisen beschäftigen können, die nun langsam auch die Länder des Südens erreichen. Stattdessen beschäftigt er sich mit dem Zustand der Kirchen, mit Religion und mit Erinnerungen an Aufbrüche der Kirchen in den sechziger und siebziger Jahren. Ein abwegiges Thema? Wir meinen nicht. Denn die Frage: „Was trauen wir unseren eigenen Traditionen noch zu? – Woran glauben wir, und an wen und mit wem glauben wir?“ ist nicht nur eine theologische, eine christliche, sondern zugleich auch eine politische Frage. In diesem Sinne hoffen wir auf eine interessierte Lektüre – und dass Sie uns weiterhin treu bleiben und uns unterstützen. Und statt eines Weihnachtsgrußes drucken wir hier eine Übertextung des Lukas-Evangeliums ab, die aus dem Jahr 1964 (!) stammt und immer noch aktuell ist.
In diesem Sinne und mit dem echten Lukas: „Ehre sei Gott in den Höhen und Friede auf Erden unter den Menschen.“
Ihr ITP-Team

Weihnachtsevangelium (Lukas 2,1-14)

(1) Es begab sich aber zu der Zeit des Wirtschaftswunders, daß ein Gebot von der Gesellschaft ausging, daß alle zu Verbrauchern gestempelt würden. (2) Und diese Manipulation war nicht die erste und geschah zu der Zeit, da sich die Möglichkeit auftat, die Unterdrückung der Menschen aufzuheben. (3) Und ein Jeder trollte sich, um seine Kaufkraft einschätzen zu lassen, ein jeglicher in sein Warenhaus. (4) Da machte sich auch auf die Werbung aller Konzerne, um die Überproduktion den Hungernden zu verweigern. In die Herzen der Menschen in aller Welt, die da heißt Leistung und Profit, (5) Darum daß die Werbung aus dem Geiste der Ausbeutung war, auf daß sie die Sehnsucht der Menschen einfange, zusammen mit der „Liebe“, ihrer treuesten Freundin, die ging mit verborgener Kaufkraft schwanger. (6) Und da sie sich zusammengetan hatten, kam die Zeit, da sie gebären sollte. (7) Und die „Liebe“ gebar die Waren und wickelte sie in falsche Träume und legte sie in die Schaufenster, damit die Menschen ihre wahren Wünsche nicht mehr sehen in dieser Welt. (8) Und es waren Manager in derselbigen Gegend in den Büros, in den Städten, die hüteten des nachts Ihre Statistik. (9) Und siehe, der Engel des Schönen, Guten und Wahren trat zu ihnen und der Zwang zur Innerlichkeit leuchtete um sie, und sie fürchteten, daß die Menschen ihnen den Gehorsam verweigern könnten. (10) Und der Engel sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige euch große Freude, die allen Arbeitssklaven widerfahren wird; (11) Denn es ist heute die Liebe in Form der Ware geboren, welche heißt Gleichschaltung und Ausbeutung des Lebens. (12) Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden die Menschen verblödet und von den schalen, verlogenen Gütern hypnotisiert. Und nie werden sie erkennen das Werkzeug in ihren Händen, dadurch sie sich befreiten.“ (13) Aber plötzlich war da bei dem Engel die Menge der nicht mehr durch die Rührseligkeit Versöhnten, sie schoben ihn beiseite und sprachen: (14). „Löscht die Kerzen, verweigert die Pflicht des Tauschrituals am Gabentisch, denkt an das Elend eures Lebens und vereinigt euch im Widerstand.“
(Flugblatt aus Berlin, Dezember 1964; evtl. nur in München verteilt)

Ein „umfassender Heilsbegriff“ – Die Aufbrüche in der Ökumene vor 40 Jahren

Ludger Weckel
Nach 40 Jahren, so die Erfahrung, werden Ereignisse zu „Geschichte“. Deshalb gibt es auch zur Zeit eine „Aufarbeitung“ der 60er Jahre und des Jahres 1968, die weltweit von Aufbrüchen, Befreiungskämpfen gegen Fremdherrschaft und Kolonialismus geprägt waren. In Afrika wurde um Unabhängigkeit der „Kolonien“ gekämpft, in Lateinamerika gegen Militarisierung und Abhängigkeit von den USA, in den USA gegen den Vietnamkrieg und für die Anerkennung der Rechte der Afro-Amerikaner, in Europa gegen kolonialistische Politik und autoritäre Strukturen und in Deutschland gegen die Verschleierung von Verantwortung für die Geschichte des Faschismus.
Im kirchlichen Bereich findet eine Bearbeitung dieser Geschichte allerdings kaum statt. In einigen Beiträgen wurde an die II. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe 1968 in Medellín erinnert, die ihre Aufgabe darin sah, die Beschlüsse des Konzils für Lateinamerika umzusetzen. Vor dem II. Vatikanum galt der Satz „Außerhalb der Kirche kein Heil“. Der niederländische Theologe E. Schillebeeckx formulierte diesen Satz im Zusammenhang mit dem Konzil um: „Außerhalb der Welt kein Heil“. „Außerhalb der Armen, an den Armen vorbei kein Heil“, so fasst der salvadorianische Theologe Jon Sobrino die Grundeinsicht der Mehrheit der Bischöfe in Medellín zusammen. Nicht der moderne Mensch, sondern der arme, in seinen Lebensmöglichkeiten beschnittene, der schwache Mensch hat im Mittelpunkt der frohen Botschaft der Kirche zu stehen. Wenn auch die Armen leben können, nicht vorzeitig an Hunger oder dessen Folgen, an Armut oder Gewalt vorzeitig sterben müssen, dann ist dem Willen Gottes Genüge getan.
Auch wenn im Schlussdokument der Versammlung von Medellín weder von der Theologie der Befreiung noch von der Option für die Armen die Rede ist, gilt es doch als Startsignal für die Befreiungstheologie. Die bestehenden zaghaften Ansätze einer Pastoral an der Seite der Armen, einer Option für die Armen wurden mit den Formulierungen der Bischöfe „lehramtlich“ unterstützt und gestärkt. Basisgemeinden entstanden, die gemeinsam beteten und für ihre Rechte und Lebensmöglichkeiten kämpften. Und die theologische Reflexion, die theoretische Arbeit an der Begründung des Glaubens wurde von nun an auch von Kirchenleitungen gefördert: die Theologie der Befreiung als das Bemühen, die herrschende Wirklichkeit auf den theologischen Begriff zu bringen.1

Die Kirchen des Südens und die Ökumene

Kaum erinnert wurde aber an die Enzyklika „Populorum progressio“ (Über den Fortschritt der Völker) aus dem Jahr 1967, die ohne die revolutionäre Gestimmtheit jener Zeit nicht verstanden werden kann. Dort heißt es unter anderem: „Es ist nicht dein Gut, sagt Ambrosius, mit dem du dich gegen den Armen großzügig erweist. Du gibst ihm nur zurück, was ihm gehört. Denn du hast dir herausgenommen, was zu gemeinsamer Nutzung gegeben ist. Die Erde ist für alle da, nicht nur für die Reichen.“
Im Bereich der Ökumene der evangelischen Kirchen sprach die Genfer Weltkonferenz „Kirche und Gesellschaft“ im Juli 1966 erstmals in der Öffentlichkeit von einer „Theologie der Revolution“.2  Und die 4. Generalversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1968 in Uppsala/Schweden formulierte: „Wir hörten den Schrei derer, die sich nach Frieden sehnen. Die Hungernden und die Ausgebeuteten rufen nach Gerechtigkeit. … Millionen suchen nach einem Sinn ihres Lebens. … Deshalb wollen wir Christen zusammen mit Menschen jeder Überzeugung für die Sicherung der Menschenrechte in einer gerechten Weltgemeinschaft eintreten.“3  Und von der Versammlung in Uppsala wurde ein sogenanntes „Antirassismusprogramm“ beschlossen, das den Rassismus nicht nur zurückwies, sondern antirassistisch arbeitende Gruppen auch materiell unterstützte. Dies hat dem ÖRK heftige Anfeindungen und Anschuldigungen – auch aus den Kirchen in Deutschland – eingetragen, in denen man dem ÖRK vorwarf, mit Kirchengeldern den bewaffneten Widerstand gegen rassistische Systeme (z.B. Südafrika, Rhodesien) zu finanzieren.
Wenige Jahre später, während der Weltmissionskonferenz 1973 in Bangkok, brachten die Kirchen der „neuerwachten Völker“, die Kirchen Afrikas, Lateinamerikas und Asiens die Frage ein, ob nicht angesichts der engen Verflechtungen von Mission und Kolonialismus ein „Moratorium der Mission“, ein Aussetzen sowohl der finanziellen Unterstützung als auch der Entsendung von Missionaren angebracht sei. Angesichts der bisherigen Verirrungen müsse man sagen, dass auch der Gedanke einer „ökumenischen Einheit“ letztlich dazu diene, westliche Dominanz durchzusetzen und nordatlantische Konzepte zu universalisieren. Und was den Ländern des Südens als „Entwicklung“ vorgeschlagen werde, sei „nachholende Entwicklung“ nach dem Modell des Westens. Statt um Verkündigung müsse es um Präsenz, um Gerechtigkeit und Eigenständigkeit der unterdrückten Völker gehen.
Theologisch formulierte die Konferenz in Bangkok: „In dem umfassenden Heilsbegriff erkennen wir vier soziale Dimensionen des Erlösungswerkes: 1. Das Heil wirkt im Kampf um wirtschaftliche Gerechtigkeit gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. 2. Das Heil wirkt im Kampf um die Menschenwürde gegen politische Unterdrückung durch Mitmenschen. 3. Das Heil wirkt im Kampf um Solidarität gegen die Entfremdung der Menschen.
4. Das Heil wirkt im Kampf um die Hoffnung gegen die Verzweiflung im Leben des einzelnen.“
Und weiter heißt es zur Situation von Christen: „Viele Christen, die um Christi willen im wirtschaftlichen und politischen Kampf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung stehen, fragen sich und die Kirchen, was Christsein und wahre Kirche heute bedeuten. Ohne die Erlösung der Kirchen aus ihrer Gebundenheit an die Interessen der herrschenden Klassen, Rassen und Staaten gibt es keine heilbringende Kirche … Alle Kirchen, alle Christen sind gefragt, ob sie allein Christus und seinem Erlösungswerk dienen oder auch noch den Mächten der Unmenschlichkeit. ‘Niemand kann zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon’ (Matth. 6, 24).“4

Der Konflikt in den Kirchen

Diese Entwicklungen verliefen allerdings nicht konfliktfrei: Überall, wo sich die Menschen organisierten, um sich für ihre Rechte und mehr Gerechtigkeit zu engagieren, trafen sie auf den heftigen Widerstand der Mächtigen, auch in den Kirchen und der ökumenischen Bewegung. Dies können wir sowohl in den heftigen Auseinandersetzungen um das Antirassismusprogramm und um die Theologie der Befreiung als auch im Schicksal des am 4. April 1968 in Memphis/Tennessee ermordeten Baptistenpredigers und Menschenrechtlers Martin Luther King sehen.
Und es gilt bis heute: Wie der Konflikt um die Theologie der Befreiung in der katholischen Kirche nicht beendet ist5, so gehen auch die Auseinandersetzungen in der ökumenischen Bewegung weiter, was am Beispiel des „Processus confessionis“ deutlich wird: Vor allen Dingen aus den Kirchen des Südens wurde in den 90er Jahren Kritik an der neoliberalen Globalisierung formuliert. So stellte 1995 eine Konsultation des Reformierten Weltbundes in Kitwe/Sambia in Afrika fest, dass die gegenwärtige neoliberale Ideologie und das darauf aufbauende Wirtschaftssystem einen status confessionis für die Kirchen darstellen, wie der nationalsozialistische Faschismus und die Apartheid im 20. Jahrhundert. Dies war der Anlass für den Reformierten Weltbund 1997 (Debrecen, Ungarn) und den Ökumenischen Rat der Kirchen 1998 (Harare, Simbabwe), auf ihren Vollversammlungen die Mitgliedskirchen zu einem Processus confessionis im Kontext wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und Naturzerstörung aufzurufen.
Die genaue Formulierung der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Harare lautete: „Die Vision hinter der Globalisierung steht in Konkurrenz zur christlichen Vision der oikoumene, der Einheit der Menschheit und der ganzen bewohnten Erde … Christen und Kirchen sollten über die Herausforderung der Globalisierung aus der Perspektive des Glaubens nachdenken und deshalb Widerstand gegen die einseitige Dominanz wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung leisten.“
Wie sehr dieser processus confessionis umstritten ist, hat sich während der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 2006 in Porto Alegre/Brasilien gezeigt. Ein Beobachter fasste folgendermaßen zusammen: „Die schärfsten Angriffe auf die Agape-Dokumente (also die Beschlüsse über den processus confessionis, L.W.) und die Äußerungen in besagtem Plenum kamen von Delegierten solcher Kirchen, die den Einladungen zur Beteiligung am AGAPE-Kommunikationsprozess nicht gefolgt waren, vor allem aus den skandinavischen Ländern. Fragt man sich, was der inhaltliche Grund für diesen unausgetragenen Konflikt ist, so findet man in den inzwischen erarbeiteten Stellungnahmen der europäischen Kirchen und vor allem der Konferenz Europäischer Kirchen folgenden Hinweis: Die Europäer erkennen an, dass die neoliberale Globalisierung im Süden zwar vor allem negative Konsequenzen hat. Sie behaupten aber, in Europa bestehe die ‘Soziale Marktwirtschaft’ und man müsse dieses Konzept nur auf die globale Ebene übertragen, um die angeblich positiven Aspekte der Globalisierung zu stärken und die negativen zu vermeiden. Sie verweigern sich einer systemischen Analyse des Neoliberalismus (indem sie behaupten, dies sei ein ideologischer Begriff), sie wollen mit dem Süden auch nicht über Kapitalismus und Imperium diskutieren. Sie wollen nur über konkrete Aktionen und ethische Appelle an die wirtschaftlich und politisch Mächtigen reden.“6

Haben Kirchen etwas zum Zustand der Welt zu sagen?

Genauso, wie der gesellschaftliche Konflikt zwischen Besitzenden und Mächtigen einerseits und der armen Bevölkerungsmehrheit andererseits bis heute nicht gelöst ist, dauert auch der innerkirchliche und -theologische Konflikt bis heute an – es geht um die Frage nach der Relevanz und Bedeutung von Theologie und christlichem Glauben überhaupt, weltweit, also auch hier in Europa: Hat Theologie zum Zustand dieser Welt, die ja nach christlicher Überzeugung Gottes Schöpfung ist, etwas zu sagen? Und wenn ja, dann stellt sich die Frage, ob dieses Gesagte diese Welt nicht nur erklärt, sondern ob es sie auch verändern hilft.

Anmerkungen:

1Vgl. Themenschwerpunkt „30 Jahre Medellín“, in: Lateinamerika Nachrichten Nr. 294, Dez. 1998. T. Schreijäck (Hg.), Stationen eines Exodus.
35 Jahre Theologie der Befreiung in Lateinamerika, Ostfildern 2007.
2Vgl. Appell an die Kirchen der Welt. Dokumente der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft, hg. vom Ökum. Rat der Kirchen, Stuttgart/Berlin 1967.
3Goodall, Norman (Hg.), Bericht aus Uppsala 1968, Genf 1968.
4J. Moltmann, „Siehe ich mache alles neu“, in: Füssel/Ramminger (Hg.), Zwischen Medellín und Paris. 68 und die Theologie, Luzern 2008.
5Vgl. die Notificatio gegen Jon Sobrino (www.itpol.de/?cat=14), dazu auch Knut Wenzel (Hg.), Die Freiheit der Theologie, Ostfildern 2008, oder die Debatte um „Die Armen und ihr Ort in der Theologie“, die Clodovis Boff ausgelöst hat (siehe dazu: www.itpol.de/?p=267).
6U. Duchrow, Porto Alegre – Wohin gehen die europäischen Kirchen nach der Vollversammlung des ÖRK? (www.kairoseuropa.de/fix/PortoAlegreArtikel0602.pdf)

Religion, Christentum und kapitalistische Gesellschaft – Versuch einer Ortsbestimmung

Christine Berberich/ Sandra Lassak
In diesem Jahr erinnerten zahlreiche Jubiläen an die gesellschaftlichen und kirchlichen bzw. theologischen Aufbrüche der sog. 68er Zeit. Die zweite lateinamerikanische Bischofskonferenz in Medellín, der Katholikentag in Essen und das daraus hervorgegangene Politische Nachtgebet oder die Versammlung des ÖRK in Uppsala sind einige der historischen Ereignisse, die die Reformbewegung jener Zeit markierten. Vor dem Hintergrund dieser Erinnerung veranstaltete das ITP vom 31.10. bis 2.11. ein Seminar, in dem es um eine Bestandsaufnahme gegenwärtiger kirchlicher und theologischer Entwicklungen ging.

Rückkehr der Religion?

Den Ausgangspunkt der von Michael Ramminger vorgenommenen Analyse bildete die immer noch gängige Rede von der „Rückkehr der Religion“, die aus der Perspektive der bürgerlichen Säkularisierungsthese die kapitalistische Moderne als unhinterfragten Rahmen voraussetzt und Religion vor allem funktionalistisch als Kontingenzbewältigung oder Transzendenzbedürfnis versteht. Dies ermöglicht zwar die richtige Beobachtung, dass es in der heutigen Zeit kein kirchliches Monopol für Sinnstiftung mehr gibt, sondern die Sinnfrage privatisiert und der Eigenverantwortung des Individuums überlassen ist. Zugleich führt jedoch die undifferenzierte Definition aller möglichen Ausprägungen von Sinnsuche als „religiöse“ zu einer solchen Ausweitung des Religionsbegriffes, dass die Frage, was da seit einiger Zeit „zurückkehrt“, kaum noch eine Rolle zu spielen scheint.
Versteht man dagegen Religion im engeren Sinne als eine spezifische Deutung der Wirklichkeit, die sich in einer institutionalisierten Form mit eigener Tradition, bestimmten auf metaphysische Dimensionen verweisenden Sprechakten und Symbolhandlungen, sowie in einer entsprechenden ethischen Praxis äußert, so wird zweierlei sichtbar: zum einen kann von einer Rückkehr von Religion im christlichen Sinne, insbesondere aus der Perspektive linker Christ/inn/en, nicht die Rede sein. Und zum anderen ist erkennbar, dass der Kapitalismus längst religiöse Formen angenommen hat. An die Stelle Gottes sind die scheinbar natürlichen ökonomischen Gesetze mit der Verheißung getreten, die Wünsche und Sehnsüchte des Menschen zu erfüllen. Die neuen Tempel der Einkaufszentren, Börsen und Versicherungskathedralen verkündigen, dass es jenseits des Marktes kein Heil gibt. Gleichzeitig wird dieser „Gott“ versteckt hinter der Gestalt eines „Übermenschen“ im Sinne Nietzsches, dem Ideal eines unabhängigen und stets konkurrenzfähigen Individuums, das selbst verantwortlich für sein persönliches Heil ist.
Während es den tradierten Religionen um die Rechtfertigung des Lebens geht, zerstört der Kapitalismus gerade das Sein, indem er Schuld – als Verschuldung – zu einem permanenten Opferzwang verewigt und alles seinen Gesetzen unterwirft. Weil für das Funktionieren der Menschen in diesem System dennoch eine gewisse spirituelle Entlastung notwendig bleibt, vereinnahmt es in synkretistischer Beliebigkeit alles, was an Transzendenz- und Sinnangeboten auftaucht, oder nimmt die Religion in seinen Dienst, wie es z. B. das Phänomen des Neopentekostalismus in Lateinamerika widerspiegelt.
Eine Kirche, die ihr institutionelles Überleben durch Anpassung an diesen Mechanismus zu sichern versucht, verliert damit also zwangsläufig ihre Identität als christliche Kirche.

Eine andere Kirche ist möglich – und nötig

Dass dieser Identitätsverlust unmittelbar mit der Vernachlässigung der biblischen Grundlagen zu tun hat, stellte Dick Boer zu Anfang seines Vortrages fest. Für die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Markt der Religionen stört die Bibel, weil sie selbst radikale Kritik an dieser Form von Religion ist.
Trotzdem gilt es die Geister zu unterscheiden: Es gibt eben nicht nur die bürgerlich verharmloste Religion, sondern Religion ist auch der „Seufzer der bedrängten Kreatur“, der die Sehnsucht nach einem anderen Leben ausdrückt. Indem die biblischen Traditionen darauf bestehen, dass der Wille Gottes auf Erden geschehe, sind sie radikale Absage an jede Vergöttlichung gesellschaftlicher Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse. Der Schrei der „bedrängten Kreatur“ wird durch die Religion des in der Bibel bezeugten Gottes gerade nicht zum Schweigen gebracht, sondern ist Ausgangspunkt der Befreiungsbewegung, die dieser Gott ins Leben ruft.
Insofern gilt es die heutigen religiösen Bedürfnisse nicht unkritisch zu bedienen, aber ernst zu nehmen als einen solchen Schrei, an den der Widerstand gegen das Bedrängende anknüpfen könnte. Dazu müssten Kirche und Theologie freilich als Bundesgenossinnen der Armen erkennbar sein, indem Christ/inn/en in den sozialen Kämpfen präsent sind, aber auch ihre befreiende Lektüre der Bibel in die bestehenden Kirchengemeinden hineintragen und sich diese als Tradierungsorte wieder aneignen.
Für eine Doppelstrategie von gesellschaftlichem Engagement und innerkirchlicher Einmischung plädierte auch Michael Jäger: Gerade wenn die Kirche ihr Selbstverständnis als „Präsenz des Auferstandenen in der Geschichte“ ernst nähme, müsste sie sich in der heutigen Zeit für einen neuen, auf der jüdisch-christlichen Tradition beruhenden Kommunismus aussprechen. Sie würde damit nicht nur dem Kapitalismus die Legitimation seiner scheinbaren Zusammengehörigkeit mit dem „christlichen Abendland“ nehmen, sondern hätte gleichzeitig humanisierende Funktion gegenüber diesem neuen Kommunismus, indem sie ihn davor bewahren würde, sich selbst zur Religion zu machen.

Anlässe zur Hoffnung und Aufgaben für die Zukunft

Wie visionäre Formen des Kircheseins als „Zeichen und Instrument des Hereinbrechens des Reiches Gottes in die Geschichte der Menschen“ konkrete Gestalt annehmen können, zeigte Christine Schaumberger am Beispiel der „Women´s church“ in den USA. Konstitutiv für eine solche Gemeindebildung von unten sind vier wesentliche Elemente: gemeinsames Lernen, gemeinsames Feiern (Liturgie), Engagement in sozialen und politischen Projekten und die Kollektivierung der Arbeit und des Zusammenlebens. Die „gefährliche Erinnerung“ an Widerstandsbewegungen und Selbstorganisationen der Marginalisierten ist nicht nur wesentliche Aufgabe feministisch-theologischer Praxis. Von diesen „vergessenen“ Orten können Zeichen der Hoffnung und Impulse des Aufbruchs für die Entstehung von Gemeinschaften christlicher Spiritualität und gelebter Solidarität jenseits kirchlicher Strukturen ausgehen.
Die Mitgestaltung an der Vision einer anderen Kirche hierzulande stellte Sabine Ferenschild vom Ökumenischen Netz Rhein-Mosel-Saar vor. Dieser Zusammenschluss von kirchlichen Verbänden und in der Kirche tätigen Personen, aber auch Menschen aus anderen sozialen Bewegungen, ist von den Ökumenischen Versammlungen mit ihrer Zielsetzung „Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung“ inspiriert. Angesichts der Feststellung, dass sich die Verhältnisse im Norden denen im Süden angleichen, geht es neben dem Engagement für die Menschen im Süden beispielsweise auch um die Thematisierung der Lebensrealität von arm gemachten Menschen in der BRD und den Einsatz für die Rechte von Flüchtlingen. Darüber hinaus hat sich das Netz zur Aufgabe gemacht, Gegenöffentlichkeit zu schaffen, die die herrschenden Diskurse delegitimiert. Gegenüber der Kirche bedeutet dies auch, dass sie sich im gesellschaftlichen Konflikt nicht in einer Moderatorenrolle verstehen kann, sondern Partei für die Opfer ergreifen muss.
Noch einmal anders stellt sich die Situation in Spanien dar, von der José Antonio Zamora vom „Foro Ignacio Ellacuría“ berichtete. Entstanden im Kontext der Arbeiterbewegungen in den 1940er Jahren, blicken basiskirchliche Gruppen, die während der Diktatur auch an den Widerstandskämpfen im Untergrund beteiligt waren, auf eine sehr viel längere Tradition zurück. Dennoch ist die selbstverständliche Zusammengehörigkeit von politischem Bewusstsein und der Option für die Armen und das Vertrauen in die eigene gesellschaftsverändernde Kraft heute weitgehend verloren gegangen. Herbeigeführt wurde diese Tradierungskrise befreiungstheologischer Praxis durch repressive Maßnahmen seitens der Bischöfe, aber auch durch den inzwischen auch in Spanien fortgeschrittenen „Säkularisierungs“-prozess. Auf die eingangs beschriebene Privatisierung und Individualisierung religiöser Bedürfnisse im Gesamtrahmen der kapitalistischen Gesellschaft haben die kirchlichen Hierarchien mit einem rückwärtsgewandten „Werte“-Diskurs reagiert, der sich vor allem auf Fragen der Sexualmoral konzentriert. Währenddessen profitieren von der privatisierten Religion v. a. neokatechumenale und charismatische Gruppierungen, die unmittelbar an die religiösen Bedürfnisse anknüpfen.
Die Basisgemeinden-Bewegung setzte die verbreitete Volksreligiosität voraus, auf die sich die eigene Religionskritik beziehen und das alternative, befreiende Verständnis von Religion aufbauen konnte. Für die heutige Situation, in der sowohl religiöse Sozialisation als auch Religionskritik immer seltener werden, fehlt dagegen noch eine „politische Mystagogie“.
Für das Seminar, das von vornherein nicht auf die Produktion fertiger Ergebnisse angelegt war, mag dieses Desiderat als verbindendes Schlusswort stehen: Die Arbeit an einer solchen politischen Mystagogie stellt sich sicherlich nicht nur im spanischen, sondern auch im deutschen Kontext als Aufgabe für eine befreiende Theologie und eine christlich politische Praxis.

Parteilichkeit ist konfliktiv

Michael Ramminger
Im März 2007 veröffentlichte die Glaubenskongregation des Vatikan eine Notificatio, in der sie einige Punkte der Christologie des in El Salvador lebenden Befreiungstheologen Jon Sobrino scharf kritisierte.1  Nun gibt es eine weitere Debatte, die der brasilianische Theologe Clodovis Boff ausgelöst hat, der für seine umfangreichen Arbeiten zur Methode der Befreiungstheologie bekannt ist. Er hat in einem Artikel die „real existierende“ Befreiungstheologie und die entsprechenden Theologen kritisiert, sie hätten die Fundamente der Befreiungstheologie verlassen und in ihrer Theologie die Armen an die Stelle Gottes gesetzt.2  Boff bezieht sich explizit auf die Notificatio aus Rom gegen Sobrino und schließt sich ihr inhaltlich an.
Warum nun also wieder Streit um die Befreiungstheologie? Warum wurde diese Auseinandersetzung eigentlich gerade 2007 zugespitzt? Meines Erachtens laufen in der Notificatio verschiedene Interessensstränge zusammen, nämlich erstens die langjährige und fortdauernde Auseinandersetzung um die Befreiungstheologie, zweitens die Situation im Vorfeld der V. lateinamerikanischen Bischofskonferenz im Mai 2007 in Aparecida und drittens eine grundsätzliche Neupositionierung der römischen Theologie, die der jetzige Papst und frühere Leiter der Glaubenskongregation nun in seiner neuen Funktion durchsetzen kann.

Eine lange Geschichte

Der Konflikt um die Befreiungstheologie ist nicht neu. Erinnert sei hier nur an den „Studienkreis Kirche und Befreiung“ und seine Kampagne gegen die Befreiungstheologie, die sich im Jahre 1976 leider auch mit deutschen Geldern (damals Adveniat) zum Ziel gesetzt hatte, „jede Umdeutung des christlichen Glaubens in ein soziales oder politisches Programm … zu verhindern“3 .
Diese Kampagne war trotz vieler Gegenstimmen und kritisch-solidarischer Einwände insgesamt erfolgreich. Wir erinnern uns an die Maßregelungen von Leonardo Boff und Ernesto Cardenal oder daran, wie der ermordete Erzbischof Romero von Rom fallengelassen wurde.
Die Liste ließe sich endlos erweitern. Jon Sobrino schreibt in einem Brief an seinen Ordensoberen: „In diesen Jahren wurden viele Theologinnen und Theologen, gute Leute, … erbarmungslos verfolgt. Und nicht nur sie … Der Vatikan hat manchmal mit üblen Machenschaften die Lateinamerikanische Ordenskonferenz (CLAR) sowie tausende von großherzigen Ordensangehörigen so durcheinander zu bringen versucht, dass sie nicht mehr wussten, wo ihnen der Kopf stand. Das ist deshalb besonders bitter, weil viele von ihnen ganz einfache Menschen sind. Vor allem aber hat der Vatikan alles Mögliche dafür getan, die Basisgemeinden der kleinen Leute, der Privilegierten Gottes zum Verschwinden zu bringen.“4

Ein Weg der Anpassung

Rom ist hier, wie der deutsche Philosoph Habermas sagt, einen Weg der Anpassung an die nationalstaatliche Moderne weitergegangen, von dem man sich in Folge des II. Vatikanums zunächst abgewandt zu haben schien.5  Allerdings ist das doch eine eher freundliche Interpretation: denn es handelte sich eben nicht um einen Weg der Anpassung, sondern um einen Weg der Kollaboration mit den Mächtigen und Herrschenden. Es lag und liegt bei vielen, vermutlich den meisten, die in Opposition zur Theologie der Befreiung standen, die Überzeugung zugrunde, dass der Schrei der Armen nach „Brot und Rosen“ kein Ruf nach dem Reich Gottes ist, sondern vielmehr zu seinem Gegenteil führen würde, zur Hölle auf Erden. Mit Abstrichen war und ist der römische Apparat zutiefst davon überzeugt, dass der herrschende Kapitalismus die einzige Möglichkeit für Recht und Ordnung (und Ordnung heißt auch: Überleben der eigenen Institution gewährleistend) ist.

Im Vorfeld der V. lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Aparecida

Allerdings gab es auch zwei aktuelle politische Konjunkturen, die aus der Perspektive Roms das gesprochene „Machtwort“ in Form einen Notificatio gegen die Christologie von Jon Sobrino plausibel erscheinen lassen.
Zum einen stand bei Veröffentlichung der Notificatio im März 2007 die V. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Aparecida/ Brasilien im Mai 2007 kurz bevor. Die vorherigen drei Konferenzen waren in unterschiedlicher Weise von der „Option für die Armen“ geprägt. So hieß es 1968 bei der II. Vollversammlung in Medellín: “Christus, unser Erlöser, liebt nicht nur die Armen, sondern er, der reich war, machte sich arm, lebte in Armut … und gründete seine Kirche als Zeichen dieser Armut unter den Menschen.”6  Es war der Beginn einer neuen Theologie und einer neuen Praxis der Kirche in Lateinamerika.
Nun stand also die V. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats an. Sie wurde im Vorfeld unter das Thema „Jüngerschaft Christi und Mission“ gestellt und die Vorbereitung zeigte, dass die Konferenz sicherlich in die Reihe der wichtigen kircheninternen Daten gehörte, bei denen über die Zukunft kirchlich-pastoraler Ausrichtung entschieden werden würde.
Das Vorbereitungsdokument zeigte, dass sich darin befreiungstheologische Elemente befanden und dass Aufgabe der Evangelisierung und Mission der Kirche von dieser befreiungstheologischen Option für die Armen her verstanden werden. „Wohin gehst du, Aparecida? Das Volk Gottes erwartet Signale der Gerechtigkeit, Gesten des Mutes und Entscheidungen zugunsten aktiver Mitwirkung in der Kirche, nicht um vor dem Imperium zu fliehen, sondern um es zu verändern“7, so fragte der Befreiungstheologe Paulo Suess. Es zeichnete sich also ab, dass in Aparecida die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft und die Handlungsanweisung für die lateinamerikanische Kirche sehr umkämpft sein würden. Und genau dies kann ein guter Grund für die wohl zeitlich nicht zufällige Veröffentlichung der Notificatio über die Christologie Jon Sobrinos gewesen sein.

Lateinamerikanische Entwicklungen

Dazu kommt, dass sich die politische Situation in vielen lateinamerikanischen Ländern verschoben hat und dies einen Neuaufschwung für die Befreiungstheologie und die Basisgemeinden bedeuten könnte, deren Mitglieder in vielen Ländern – manchmal mit, manchmal auch ohne die Hilfe der kirchlichen Hierarchie und Institutionen – an diesen Veränderungen mitgearbeitet haben und mitarbeiten. Beispielhaft sei hier nur der ehemalige Bischof Fernando Lugo als gewählter Präsident von Paraguay genannt.
Die Befreiungstheologie war nie „tot“; vielmehr war sie durch institutionelle Verfolgung innerhalb und außerhalb der Kirche geschwächt, viele waren der Auseinandersetzungen müde oder haben ihre Arbeit im Dienst an den Armen „im Stillen“ weitergetrieben. Die Inspiration einer befreienden Theologie hat weitergewirkt, was unter anderem auch dazu beigetragen hat, dass die neoliberale Hegemonie, die über Militärputsche, Menschenrechtsverletzungen und nicht zuletzt durch die tatkräftige Unterstützung verschiedener kirchlicher Kräfte aufgebaut wurde, heute an ihr Ende gekommen ist.
Worum es (eigentlich) geht
Es ist nicht einfach nur ein Kampf um „Wahrheit“ oder „Rechtgläubigkeit“, den die Kongregation in Sorge um das Glaubensheil der KatholikInnen hier führt. Es geht um eine parteiliche Theologie, um ein verortetes und verzeitlichtes Christentum an der Seite der Armen und Ausgegrenzten, das wohl mindestens zwei Konsequenzen für die Kirche insgesamt hätte: Zum einen würden diejenigen unter Druck geraten, die das Heil der Kirche nicht in den Armen, sondern an der Seite der Mächtigen und Reichen suchen und dabei auch vor verurteilungswürdigen Praktiken gegen ihre Gegner nicht zurückgeschreckt haben. Zum anderen würde eine solche Ortsverschiebung der katholischen Kirche natürlich auch eine Gefährdung ihrer ohnehin prekären Situation als Institution bedeuten. Angesichts von Pluralisierung, Individualisierung und nicht zuletzt der zunehmenden Attraktivität evangelikaler, pentecostaler und neopentecostaler Religionsgemeinschaften sieht sich Rom einem zunehmenden Bedeutungs- und Einflussverlust ausgesetzt. Eine eindeutige „Option für die Armen“, die zwar angesichts weltweiter Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und kriegerischer Auseinandersetzungen an der Zeit wäre, könnte durchaus eine gesellschaftliche „Marginalisierung“ der Kirche bedeuten. Sie ist nicht zwangsläufig mit einer „Evangelisierungsgarantie“ verbunden. Das eben kann man aus der Geschichte des Kreuzes lernen.
In diesem Kontext wird jetzt über die bisherige, quasi weltanschauliche Auseinandersetzung über Befreiung und politisch-gesellschaftliche Praxis hinaus eine theologische Auseinandersetzung inszeniert, die einen Befreiungstheologen der Häresie zu bezichtigen sucht, und zwar einen Theologen, der ganz ausdrücklich die Geschichte und die Wahrheit des gekreuzigten Jesus mit den Armen und Ausgebeuteten, den heute Gekreuzigten, in das Zentrum seiner Überlegungen stellt und damit nicht eine eigene, neue Theologie begründet, sondern sich in Übereinstimmung beispielsweise mit den Überlegungen zur Christologie Karl Rahners weiß. Der hatte von der Gefahr gesprochen, die Menschlichkeit Gottes als bloße Livrée, als Umhang zu verstehen und gefordert, die Inkarnation, die Geschichtlichkeit radikal ernst zu nehmen, damit nicht „alles von oben her“, sondern „daraufhin gesehen und gedacht“ wird.8  Denn eine Christologie von „oben nach unten“, so Rahner, läuft heute Gefahr mythologisch zu sein.

Es geht nicht um „eine“ Theologie, sondern um „die“ Theologie

Es handelt sich damit um eine sehr tiefgehende, grundsätzliche Auseinandersetzung. Es geht nicht einfach um „eine“ Theologie, sondern um alle Theologie, die sich ernsthaft die Frage stellt, wie angesichts der Zeichen der Zeit heute Gott gedacht und glaubhaft gesagt werden kann. Es deutet sich ein grundlegender Konflikt an, der jede Theologie treffen wird, die sich irgendwie auf die Frage praktischer Nachfolge und die Hoffnung auf das Reich Gottes als Orthodoxiekriterium bezieht und auf den „historischen“ Jesus verweist, also auf eine Interpretation jüdisch inspirierten christlichen Geistes, der von Befreiung, Exodus und Parteilichkeit redet.
Die aktuelle Auseinandersetzung um die Christologie Jon Sobrinos ist kein „Einzelfall“ und auch kein Relikt einer überkommenen, aber noch nicht zu Ende gebrachten Auseinandersetzung aus den achtziger Jahren. Sie verweist auch nicht nur auf ein autoritäres Vorgehen und damit auf ein Demokratiedefizit der kirchlichen Institution. Es geht im Kern um eine Auseinandersetzung darüber, welchen Gott wir anbeten, den Gott der Philosophen oder den Gott, dessen „Ehre das Leben der Armen“ ist. Und damit geht es um die Armen und Anderen selbst und um ihr Recht auf Leben und Würde.

Anmerkungen:

1Es geht um Jon Sobrinos Bücher „Christologie der Befreiung“ (Mainz 1998/Ostfildern 22008) und „Der Glaube an Jesus Christus“ (Ostfildern 2008). Dokumentationen des Konfliktes findet man unter www.itpol.de/?cat=14 und bei Knut Wenzel, Die Freiheit der Theologie, Ostfildern 2008.
2 Vgl. Ludger Weckel (Hg.), Die Armen und ihr Ort in der Theologie, Münster 2008 (Online-Buch unter www.itpol.de/?p=267).
3 KNA Nr. 53, 04.03. 1976, zitiert nach: Dokumentation zum Streit über die Theologie der Befreiung, Initiativkreis „Theologie der Befreiung“, Münster 1977.
4 Jon Sobrino, Brief an den Ordensoberen Pater Kolvenbach, in: http://www.itpol.de/?p=142.
5 Jürgen Habermas, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, in: Neue Zürcher Zeitung vom 10. Februar 2007.
6 Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz, Die Kirche Lateinamerikas. Dokumente der II. und III. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates in Medellín und Puebla (Stimmen der Weltkirche 8), 117.
7 Paulo Suess, Mission in Aparecida, in:
http://www.itpol.de/?p=205.
8 Vgl. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg 1984, 283.