rundbrief nr. 29 – juni 2008

editorial

Liebe Freundinnen und Freunde des ITP,

unsere Rundbriefe erscheinen halbjährlich und Ziel ist es, in ihnen die Arbeit und die Diskussionen im Institut für Theologie und Politik vorzustellen und zur Diskussion zu stellen. Im letzten Rundbrief haben Katja Strobel und Michael Ramminger in einem Beitrag unsere Erfahrungen in und mit den Protesten gegen die G8-Politik im Juni 2007 in Heiligendamm veröffentlicht. Der Titel des Beitrags lautete: „Wo seid ihr eigentlich?“ Gemeint waren die Christen, die – zumindest sichtbar – in den Blockadeaktionen, in den Aktionen des zivilen Ungehorsams gefehlt hatten.

Wir haben auf diesen Beitrag einige Reaktionen bekommen, einige zustimmend, andere, die meinten, der Beitrag sei zu vorwurfsvoll, man solle doch mehr motivieren. Wir haben an der Frage, wo die Kirchen, wo die Christen in den politischen Auseinandersetzungen stehen, weitergearbeitet, diskutiert, gestritten. Eine der Diskussionen führte uns zum Begriff der „Ungleichzeitigkeit“. Beispiele: Im Institut für Theologie und Politik haben wir uns seit 1998 mit Globalisierung auseinandergesetzt, ohne viel Resonanz im christlichen Spektrum. Seid ca. 2 Jahren meinen wir, dass der Begriff eigentlich nicht mehr brauchbar ist, ja inzwischen sogar vielfach eher die Wirklichkeit verschleiert als aufdeckt und erklärt. Wir meinen, dass es redlicher und analytisch schärfer ist, von Kapitalismus oder neoliberalem Kapitalismus zu sprechen – solange es keine bessere Alternative gibt. Und jetzt kommen aus verschiedenen kirchlichen Kreisen Anfragen, man müsse und wolle doch mal was zu Globalisierung machen. Ungleichzeitigkeit!

In Rostock und Heiligendamm sind vor einem Jahr Zehntausende zusammengekommen, um die G8-Politik sichtbar, spürbar, mit den eigenen Körpern zu blockieren. Der christliche Bereich wurde dort kaum sichtbar. Ähnlich ist es in der Regel in den lokalen Bündnissen gegen Naziaufmärsche. Es gibt gesellschaftliche Aufbrüche, Bewegungen, Christen sind kaum da. Ungleichzeitigkeit?

Wir haben uns entschlossen, die Diskussion in diesem Sommerrundbrief weiterzutreiben. Dick Boer setzt sich damit auseinander, dass biblische und aktuelle politische Sprache nicht zusammenpassen, ungleichzeitig sind. Michael Ramminger dokumentiert, dass der Begriff der Ungleichzeitigkeit in den 70er Jahren schon mal gebraucht wurde, allerdings in etwas anderer Bedeutung: Es wurde darin – auch – ein hoffnungsstiftender Aspekt gesehen. Während des politischen Nachtgebets auf dem Katholikentag in Osnabrück hat Nancy Cardoso dazu aufgefordert, die Uhren anzuhalten, den (kapitalistischen) Lauf der Zeit anzuhalten, dem Rad in die Speichen zu fallen. Und schließlich in einer Art Glosse noch eine Nachbemerkung zum Eindruck, den der Katholikentag gemacht hat.

Wir wünschen eine aufbauende Lektüre und einen guten Sommer

Ihr ITP-Team

 

Vom Anhalten der Uhren

Nancy Cardoso Pereira

Der Kapitalismus kommt voran! Es ist egal, ob wir vom „Ende der Geschichte“ oder der „Vollendung der Geschichte“ im westlichen nord-atlantischen Modell sprechen: Es ist eine ungangbare Geschichte. Das ist die Zivilisation und sie macht immer weiter und fordert von uns eine Haltung der Kontemplation und des Konsums. Während die Geschichte vor unseren Augen abläuft, schauen wir zu, als handelte es sich dabei um externe und fremde Verhältnisse, die durch die Bewegung einer „unsichtbaren Hand“ nach den ebenso „gegebenen“ Gesetzen in Gang gesetzt werden. […]

Der Kapitalismus ist in der Lage seine Grenze, seine eigene Ohnmacht in eine Quelle seiner Macht zu verwandeln– je mehr er „verfault“, desto größer wird – aus Überlebensnotwendigkeit – seine Fähigkeit der Reproduktion. Dieser innere Widerspruch zwingt den Kapitalismus zur permanenten und immer größer werdenden Reproduktion. Weit entfernt davon sich einzuschränken, geht also gerade von seiner Begrenztheit der Impuls zur Weiterentwicklung aus. (…) Je stärker sein immanenter Widerspruch wird, um so mehr muss er sich revolutionär verändern, um zu überleben. Die Grenze des Kapitals ist nicht das Kapital selbst. Die Eliten des Kapitals loben den Fortbestand ihres ökonomischen und sozialen Systems, sie loben es, weil es überlegen und nicht zu umgehen ist. Und die Technologie sagt: Amen! Und die Wissenschaft sagt: Amen. Das ist die Ordnung des Fortschritts.[…]

Jeglicher Fortschritt in der Geschichte hat Treibstoff, Energie benötigt und außer der Bewegung, dem Fließen und dem Verkehr… Müll produziert, Überreste produziert, die nicht assimiliert waren, er hat Ausbeutung und Degradierung produziert.

Diese Überreste sind nur sehr schwer auf dem zentralen Schauplatz des Geschehens zu sehen.

Der Markt ist in seiner Totalität darum bemüht, die Spuren seiner eigenen Unmöglichkeit auszulöschen. Recyceltes aus Recyceltem. Noch mehr Energie um die unerwünschten Überreste der Fortschrittsprozesse zu zerstören.[…]

Die Überwindung oder Zerstörung des Kapitalismus wird nicht das Ergebnis eines natürlichen, erwarteten und zwangsläufigen Prozesses sein. Im Gegenteil, sie fordern von uns den Hunger der Besiegten, der Übriggebliebenen und Überflüssigen. Vom Müll werden wir uns ernähren. Das ist die wahre universale Geschichte, die ausnahmslos in der Erinnerung an sämtliche Opfer gründet. Die Erinnerung an die Vergangenheit, an die Märtyrer aller Zeiten dient der Befreiung, die kommen muss. Die Kämpfe werden mehr inspiriert durch die gelebte und konkrete Erinnerung an die beherrschten Vorfahren als durch das Gedenken an noch abstrakte zukünftige Generationen.

Die Theologie der Befreiung muss gesucht werden in den Herausforderungen eines kritischen und radikalen lateinamerikanischen Denkens, das sich die Überwindung und Zerstörung des Kapitalismus zur Aufgabe gesetzt hat, das dem Imperialismus und Militarismus der westlichen, nordatlantischen Herrschaft Widerstand leistet.[…]

Aufgabe und Motivation der Theologie sind die Schwierigkeiten und Unmöglichkeiten. Die Uhren anhalten! Den nicht enden wollenden Fluss im sich reproduzierenden Kapital und seine Fähigkeit zu töten.

In einem Kontinent, der unter vielen Göttern und Göttinnen aufgeteilt ist und von ihnen bewohnt wird, mischt sich der christliche Gott sowohl unter das, was höchst offiziell ist, als auch unter das Marginalisierteste und macht aus der noch so kleinen lateinamerikanischen Seele den Schauplatz des Disputs; die bürgerliche Theologie bietet sich dem Markt als personal trainer an und erzieht sowohl diejenigen, die innerhalb des Systems sind als auch die Ausgeschlossenen dazu, dass sie Verlangen haben ohne dabei zu sündigen… Oder sie kann Anteil haben an der Auferstehung anderer Lebensformen, Werte und der Gaben. Auch die Theologie ist vom Klassenkampf gekennzeichnet: hässlich weil es ein Kampf ist, schön, weil es notwendig ist.[…]

Die Theologie der Befreiung erklärt nicht: sie bricht die Erklärungen auf! Sie ist nicht von beschreibendem Charakter und gibt sich nicht damit zufrieden, einen kausalen Zusammenhang zwischen diesem und jenem, Gott und der Welt, herzustellen. Die Theologie stellt Uhren zurück, attackiert den Mechanismus der Fortdauer und Konstanz und deinstalliert das ununterbrochene Tick-tack. Stattdessen gestaltet sie das „Jetzt“ mit, den exakten Moment, in dem es möglich ist zu intervenieren, umzustellen, zu zerstören und zu verändern.

Gott kann nicht „die große Uhr sein“, die die Zeit und die Geschichte angibt wie ein Mechanismus, der außerhalb der Zeit und der Geschichte liegt. Die bürgerliche Theologie eines eingreifenden und allmächtigen Gottes funktionierte und funktioniert als Normalisierungsinstanz für die Geschichte der Sieger. Der Gott Jesu, Fleisch geworden in der Geschichte, stirbt im Kampf der Armen und steht wieder auf im Kampf der Armen, nicht als Gewissheit und vorbestimmte Gerechtigkeit, sondern als konstante Ausübung radikaler Solidarität und revolutionärer Liebe, tiefe Barmherzigkeit und Treue zum Leben.

(Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung des Beitrags von Nancy Cardoso Pereira beim Politischen Nachtgebet auf dem Katholikentag am 22.05.2008 in Osnabrück.)

 

Zwei inkompatible Sprachen?

Dick Boer

„Es rettet uns kein höh’res Wesen / kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun / uns aus dem Elend zu erlösen, / können wir nur selber tun!“ Biblisch gesprochen dagegen ist die Erlösung aus der Sklaverei eine Gabe. Das Subjekt dieser Befreiung ist ein ‚Ich’, das nicht das Sklavenvolk ist, sondern ‚ihr Gott’, also ein ‚höh’res Wesen’. Es scheint alles klar zu sein: es gibt Menschen, die zu ihrer Befreiung keinen Gott brauchen und Menschen, die sich ihre Befreiung ohne einen Gott nicht vorstellen können. Das soll ein Zusammengehen nicht ausschlieβen, aber nur unter der Bedingung, dass jeder nach seiner Fasson aktiv wird.

Die besondere Sprache der Bibel

Nun bin ich der Meinung, dass die besondere Sprache der Bibel – nicht nur, wenn sie von Gott spricht – sich in der Tat nicht in die allgemeine Sprache der Moderne übersetzen lässt, ohne an Substanz zu verlieren. Wenn die Bindung an die Logik des Kapitals so unbewusst geworden ist, dass sie ‚natürlich’ als Freiheit verstanden, ja empfunden wird, dann kann die Erlösung aus der Sklaverei nur noch als Relikt aus ferner Vergangenheit missverstanden werden – oder als in der ‚freien Welt’ erfüllt. Dass eine bestimmte Sprache der Allgemeinheit fremd in den Ohren klingt, ist ja nicht unbedingt der Beweis dafür, dass sie hoffnungslos altmodisch geworden ist. Es kann auch auf eine Widerständigkeit deuten, auf ein Sich-nicht-von-der-Allgemeinheit-vereinnahmen-lassen. Die Sprache der Bibel ist widerständig, auch zu ihrer Zeit schon Protest gegen die allgemein herrschende Sprachregelung.

Gott im Allgemeinen

Die Frage, ob der Gott der Bibel sich übersetzen lässt, ist nicht im Allgemeinen zu beantworten. Denn im Allgemeinen kann Gott alles und nichts bedeuten, die Antwort, ob es ihn gibt, je nach Geschmack positiv oder negativ oder agnostisch (ich weiβ es nicht) ausfallen. Die Rede von Gott in der Bibel ist aber konkret. Eine Religionskritik, die an dieser Konkretion vorbeigeht, ist von vorneherein daneben. Das gilt auch für die marxistische Religionskritik. Sie hat die Religion erklärt als die Vergöttlichung von Mächten in der Natur oder in der Geschichte, mit denen der Mensch nicht fertig wurde. Der Gott der Bibel ist aber keine Naturmacht und in der Geschichte nur wirksam, um jede Vergöttlichung von welcher Wirklichkeit auch immer (ob Kaiser, Führer, Generalissimo oder Dalai Lama) zu verbieten. Er ist der Gott des Bilderverbots, wodurch die Religion, die ja darin besteht, sich ein Bild von Gott zu machen, radikal, bis in ihre Wurzel, zerstört wird. Menschen machen sich Götter, machen auch nicht zuletzt Menschen zu Göttern, dieser Gott macht sich Menschen und diese menschlich. Nach seinem Bild ist nur der Mensch geschaffen und dieser soll nun entschieden nicht ‚wie Gott’ sein wollen. Wir sollen es ihm glauben. Dieser Glaube ist aber radikalster Unglaube gegenüber allem, was die herrschenden Mächte uns als letzte Wahrheit vorgaukeln wollen. Was dieser Gott fordert, ist militanter Atheismus, Bekämpfung von allem, was sich als Gott aufspielt: das Kapital, der Markt, aber auch die Menschheit à la Feuerbach, die sich wie ein Gott über jede Kritik erhebt und ihre Humanität rücksichtslos durchsetzt. Da ist praktischer Atheismus gefragt: diese Götter sind verwerflich und zu verwerfen.

Doch gibt es in der marxistischen Tradition auch eine Religionskritik, die dem, was in der Bibel Gott genannt wird, sehr nahe kommt. Es ist die von Marx, der nicht die Religion im allgemeinen kritisiert, sondern die ganz spezifische Religion, die „der Seufzer der bedrängten Kreatur“ ist. Nur dass auch Marx an einem entscheidenden Punkt die Pointe dieser Erlösung missdeutet als „das Jenseits der Wahrheit“, dem er die Forderung gegenüberstellt: „die Wahrheit des Diesseits zu etablieren“. Denn der Gott der Bibel erlöst nicht von der Welt, sondern befreit ein Sklavenvolk dazu, auf der Erde sein Heil zu suchen und zu finden: sein Wille geschehe wie im Himmel so auch auf Erden. Marx hat völlig Recht: „Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren.“ Aber das spricht nicht gegen den Gott der Bibel, sondern ist ganz in seinem Geist gesprochen.

Relionskritik im Allgemeinen

Marx kann aber die Erlösung als Tat Gottes mit der Befreiungsbewegung als einem Gebot menschlichen Handelns nicht in Einklang bringen, weil seine Religionskritik hier, wo es darauf ankommt, biblisch zu denken, von der Bibel abstrahiert. Dort gibt es keinen Gott ‚an sich’, dessen Wesen nach Belieben mit allem, was einem Menschen beim Wort ‚Gott’ einfallen kann, ausgeschmückt werden darf. Dort haben wir es nicht mit dem Gott der Metaphysik zu tun, der sich jenseits der materiellen Welt seiner abstrakten Absolutheit erfreut. Was in der Bibel Gott genannt wird, definiert sich durch einen Namen: Ich werde da sein, als der ich da sein werde (Ex 3, 14). Auf das ‚als der ich da sein werde’ kommt es an. Denn dadurch werden wir aufgefordert der Erzählung zu folgen, die ihn nun da sein lässt als einen Gott, der vom Anfang bis zum Ende nicht ‚an sich’ sein will, sondern mit seinem Volk. Ein Gott, der das ‚mit’ so versteht, dass er ohne dieses Volk überhaupt nicht Gott sein will. Die von ihm begonnene Erlösung aus der Sklaverei ist ein gemeinsames Unternehmen und es hängt nicht nur von ihm ab, ob es gelingen wird. Es ist ‚also‘ (in der Tat, Marx!) die historische Aufgabe des Volkes, die ‚Wahrheit des Diesseits’ zu etablieren. Und so erzählt es die Bibel: das Volk zieht aus – aus der Sklaverei –, zieht ein – in das Land, wo es das Reich der Freiheit organisieren soll –, geht in die Irre (verlässt seinen Gott), bekehrt sich (findet zu seinem Gott zurück, der sich auch wieder finden lässt). Man könnte sagen: dieser Gott geht in seinem Volk auf, er lebt in seinem Volk, ohne es würde er nicht mehr leben. Nur, dass er auch sein kritisches Gegenüber bleibt, seinem Volk gegenübersteht als die ‚ewige’ Forderung, Tora zu tun – bis alle Tränen abgewischt sind, der Tod nicht mehr sein wird, die Plackerei beendet.

Bekennen heißt Beten heißt Engagieren

Aber auch als kritisches Gegenüber existiert er nicht an sich, unabhängig von seinem Volk, als regulative Idee, die so oder so gilt. Alles hängt davon ab, dass das Volk ihn ‚bekennt‘: Und Bekennen heiβt ‚Beten‘: dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auch auf Erden. Das ist nicht die Äußerung eines Wunschtraums, dessen Erfüllung dem Angebeteten überlassen wird. Wer betet, engagiert sich: auch ich verspreche deinen Namen zu heiligen, auch ich mache mich verantwortlich dafür, dass dein Reich kommt, auch ich werde alles daran tun, dass dein Wille auch auf Erden geschieht. Nicht allein du Gott, auch ich. Im Gebet geht es nicht nur um Gott, so wenig wie es nur um den Menschen geht – Menschen beten nicht ohne Grund –, sondern um das Zusammenfinden von Gott und Mensch im gemeinsamen Projekt der Erlösung aus der Sklaverei.

So einfach ist es nicht festzustellen, sie seien inkompatibel: die Sprache der Erlösung aus der Sklaverei, die beginnt mit: Ich bin JHWH, dein Gott, und die Sprache, aus der die Erfahrung spricht: uns aus dem Elend zu erlösen, das können wir nur selber tun. Denn dieser Gott existiert nie an und für sich, sondern ausschlieβlich in seinen Wirkungen. Und die Wirkung par excellence ist die Schaffung des Menschen nach seinem Bilde, die Produktion eines Volkes, das befreit wird, indem es sich selber befreit – Gott lässt es hinausziehen und es zieht aus, der eine Akt ist ohne den anderen nicht zu haben, nein, stärker noch: das Handeln dieses Gottes besteht im Handeln dieses Volkes. Stellen wir uns dieses Volk vor in der heutigen Zeit: widerständig, militant atheistisch, ungläubig. Biblische Theologie soll nicht versuchen, den Gott der Bibel noch irgendwie in einem religiösen Bewusstsein zu verorten – nicht weil die Zeit der Religion vorbei ist, sondern weil sie ihre Sache in der Sprache der Religion nicht vertreten kann. Biblische Theologie soll Klartext reden: das Volk Gottes würde heute sagen, was es im Sklavenhaus Ägypten schon erfahren hat: es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Pharao. Es würde auch heute lernen müssen, sich nicht irre machen zu lassen durch die Religion des Marktes mit seinen illusorischen Glücksversprechungen. Wie es damals die Tora hörte als die Forderung: du sollst neben mir, eurem Befreier, keine anderen Götter haben, würde es heute „die Aufhebung der Religion, als des illusorischen Glücks des Volkes“ fordern und die Tora hören als „die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben“, was praktisch heiβt, „einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf“. Biblische Theologie braucht diese Sprache – der Internationale, der Marxschen Religionskritik, der modernen Befreiungsbewegungen überhaupt –, gerade wenn es darum geht zu erklären, was der Gott der Bibel bewirkt.

 

Religion – Christentum – Ungleichzeitigkeit

Michael Ramminger

Im Rahmen der Proteste gegen die G8-Politik, aber auch in anderen Zusammenhängen stellt sich nicht nur die Frage danach, „wie“ angemessene radikale Aktionen aussehen sollen, „was“ also zu tun ist, sondern auch danach, „wer“ handelt. Und wir sind immer wieder auf die Frage gestoßen, wo die Christen sind, wo die Kirchen sind? Diese Frage ist aber nicht neu.

In den siebziger Jahren hat die politische Theologie (J. B. Metz, Unterbrechungen, Gütersloh 1981, 11-19) die These von der „Ungleichzeitigkeit der Religion“ formuliert. Gemeint war damit, dass die Kirchen, vornehmlich der Katholizismus, im wörtlichen Sinne „nicht auf der Höhe der Zeit“, nicht kompatibel mit dem „Zeitgeist“ sind. Metz stellte fest: „Christliche Religion, die diesen Namen verdient, die sich also nicht selbst schon zur Utopie säkularisiert hat, zu der bekanntlich keiner betet, ist in höchstem Maße, in einer geradezu ärgerlichen Weise ungleichzeitig.“ (11) Weiterhin beobachtet er drei idealtypische Positionen, in Kirche und Theologie mit dieser Ungleichzeitigkeit umzugehen: erstens ein Rückzug auf frühere theologische und geistespolitische Positionen (heute würden wir unpräzise von Fundamentalismus sprechen); zweitens ein Versuch, Ungleichzeitigkeit Hals über Kopf abzustreifen und Theologie auf die Höhe der Zeit zu treiben (man könnte von zwanghafter Anpassung sprechen); und drittens den Versuch, den schöpferischen Charakter der Ungleichzeitigkeit herauszuarbeiten (die Widersprüche zwischen Evangelium und Gesellschaft produktiv nutzen, Widerständigkeiten gegen eine falsche Anpassung entwickeln). Metz spricht in Bezug auf den letztgenannten Typus von „produktiver Ungleichzeitigkeit“, der auch notwendig sei, weil man nicht auf einen ausschließlich „gleichzeitigen Menschen“ setzen könne, „dem ohnehin vor seiner Zukunft so graut, daß er, wie noch keine Generation vor ihm, nicht mehr sein eigener Nachfahre sein möchte“ (19).

Für die politische Theologie galt die entstehende Befreiungstheologie, oder vielmehr die Volkskirche und die Basisgemeinden, als Modell einer produktiven Ungleichzeitigkeit des Christentums, dass sich nicht reaktionär abschließt: „In ihnen hat sich die ungleichzeitige Sozialform einer kultischen Gemeinschaft gesellschaftlich differenziert und die fundamentalen gesellschaftlichen Konflikte und Leiden in sich aufgenommen“ (17). Die politische Theologie sprach in diesem Zusammenhang von einer möglichen „produktiven Ungleichzeitigkeit“.

Der aus heutiger Perspektive etwas irritierende Gebrauch des Begriffs „Religion“ erklärt sich daraus, dass hier wohl mehr als die nackten Buchstaben des biblischen Wortes gemeint war, sondern eben auch die Erzähl- und Tradierungsgemeinschaft: kultische Gemeinschaft mit liturgischer Praxis, wir können es auch Kirche nennen: Nicht als hierarchische, vormoderne, ja feudalistische Gebilde, aber als Sozialisations-, Tradierungs- und Erinnerungsgemeinschaft, als „Mahlgemeinschaft aller Glaubenden, von der eucharistischen Tischgenossenschaft aller Frommen“ (16).

Angesichts des Zustandes der Kirchen in Deutschland heute, ist es nicht abwegig zu vermuten, dass dieses Potential zur „Ungleichzeitigkeit“ in beide Richtungen, rückwärtsgerichtet wie auch produktiv nach vorn, verlorengegangen ist. Sie sind heute – bei uns, in anderen, auch europäischen Ländern wie Spanien, sieht es anders aus – weder jener Hort reaktionärer Ungleichzeitigkeit, der mit Demokratie und Menschenrechten nichts anfangen will und zugleich gesellschaftspolitisch meinungsbildend ist, noch sind sie kritisches, prophetisches Potenzial, dass angesichts der Verhältnisse doch dringend notwendig wäre.

Und die Verantwortlichen in den Kirchen sehen sich in ihrer Position bestätigt und in ihrer Arbeit motiviert durch die vielbeschworenen Wiederkehr der Religion. Sie meinen , von einer neuen „Nachfrage“ profitieren zu können und neben marktförmiger Modernisierung und „Kundenorientierung“ – vor allen Dingen im Bereich der Doppelstruktur von Caritas und Diakonie, aber auch in der auf Kasualien und Liturgie konzentrierten Gemeindepastoral – auch noch diesen „Aufschwung“ nutzen zu können. Bertelsmannumfragen und Religionsmonitor zeigen aber, dass es, wenn es überhaupt eine solche Wiederkehr der Religion gibt, es sich um eine sehr diffuse und zugleich individualistisch verengte allgemein religiöse Befindlichkeit handelt. Diese kann man möglicherweise im Sinne einer institutionellen Selbsterhaltung auf niedrigstem Niveau nutzen. Es bleibt aber die Tatsache, dass solche Angebotsorientierung kaum in der Lage ist, den gemeinschaftsverpflichtenden Charakter traditioneller „Kirchlichkeit“ wieder herzustellen. Und eine solche Strategie spiegelt schon gar nicht das „Ferment“ der oben beschriebenen „produktiven Ungleichzeitigkeit“ wider.

Man könnte nun diese Frage einfach für grundsätzlich überflüssig erklären: Dann nämlich, wenn man von den Kirchen überhaupt nichts mehr erwartet, solche Erwartungen an die Kirche sogar für falsch hält, weil die Geschichte der Kirchen gezeigt habe, dass die „reaktionäre Ungleichzeitigkeit“ durchweg dominant war. Oder, weil man den jüdisch-christlichen Traditionen heutzutage nichts mehr zutraut und deshalb ihre Organisierung für überflüssig hält.

Ist man allerdings der Meinung, dass die christliche Hoffnung auf Menschlichkeit, Menschwerdung und Reich Gottes noch etwas zur Zukunft dieser Welt beitragen kann, dann stellt sich auch die Frage nach der – oder besser: einer – Kirche (als Tradierungsgemeinschaft und Organisierung der Glaubenden und Hoffenden), denn „der Glaube und die Hoffnung sind zu schwer für den Einzelnen“, wie es der Theologe Fulbert Steffensky sagt.

Und hier kommt dann wieder der Begriff der „Religion“ ins Spiel, den ich oben schon angesprochen habe. Der Theologe Ton Veerkamp schreibt: „Die Frage ist nicht, ob Gott existiert, sondern wer oder was in unserer Gesellschaft als Gott funktioniert“. In diesem Sinne gibt es bei uns ein ganzes Pantheon von Göttern und Religionen, deren höchster die Art und Weise unseres Wirtschaftens, der Kapitalismus selbst ist: Er stiftet Identität, bietet Handlungsorientierung und Lebenskrisenbewältigung, er legitimiert die Macht und hat ein umfassendes Weltbild unter Bezug auf ein „Heiliges“ – den Markt – und seine Inkarnationen und Tempel: die Kaufhäuser, die Werbung als Predigt, das labeling oder die Börsen.

Eine Religionsdefinition, wie sie Veerkamp formuliert, hat den Vorteil, den Fehler der klassischen Ideologiedefinition zu vermeiden, nämlich Religion nur als falsches Bewusstsein zu verstehen. Religion in diesem Sinne ist ein praktisches, materielles Konzept. Religion ist Alltagskultur – in welchen Formen auch immer. Da nutzt es nicht, sie einfach für „falsch“ zu erklären. In diesem Sinne steht auch befreiende Theologie (oder Theologie überhaupt: denn die Rede vom Gott Jesu und von Jesus Christus ist per definitionem befreiend) vor der Frage, wie ihr „Verständnis von Gott“ Alltagskultur werden kann – ob es überhaupt noch die Kraft dafür gibt. Christentum, das sich selbst noch etwas zutraut, das Hoffnung hat, wird seine prophetische Kraft an diesen Herausforderungen messen und zugleich eine Antwort auf die „Wiederkehr der Religion“ finden müssen.

Die Geschichten der Bibel sind die Geschichten des Abfalls vom befreienden Gott und der Kritik Gottes daran. Um diese Geschichten und die Möglichkeit zu bewahren, dass sie praktisch werden können, brauchen wir ein dialektisches Verhältnis zur Religion: Wir müssten Interpretationsgemeinschaft eines „militanten“ Atheismus gegen die realexistierenden Götter sein, und wir müssten uns als Mahlgemeinschaft eines „militanten“ Glaubens an den Gott der Befreiung und der Auferstehung (für das Subjektsein aller!) organisieren: gegen die banale erinnerungs- und hoffnungslose neoliberale Vernunft. Produktive Ungleichzeitigkeit eben!

 

Veranstaltungshinweis

Theologie, Kirche und 1968

Eine politisch-theologische Tagung vom 31.10. bis 2.11. in Vallendar

40 Jahre später werden Ereignisse endgültig Geschichte, so scheint es. Entsprechend begegnet uns zur Zeit „1968“ vielfach: Rückblicke auf die unter diesem Datum zusammengefasste Zeit gesellschaftlicher Aufbrüche. Jetzt also auch noch eine Veranstaltung des Institut für Theologie und Politik zum Thema?

Zum einen sehen wir das, was in Gesellschaft und Theologie Ende der 60er Jahre aufgebrochen ist, nicht als so überholt an, dass wir es getrost der Vergangenheitsbewältigung überlassen können. Angesichts der ungebändigten Destruktivität des Kapitalismus halten wir ein kreatives Anknüpfen an die Analysen und Alternativmodelle, die in jener Zeit gedacht wurden, für dringend notwendig. Gerade heute muss gelten: Alternativen sind möglich. Es geht darum, ob und wie die jüdisch-christliche Tradition (etwa unter den Stichworten Götzenkritik, Option für die Armen, Gerechtigkeit) einen kreativen Beitrag dazu leisten kann und will. Wir möchten hier an die Theologie der Befreiung und die neue politische Theologie anknüpfen. Gleichzeitig stellt sich uns aber die drängende Frage, wo heute angesichts der derzeitigen Konstellationen in den Kirchen der Ort für die Aktualisierung dieser Traditionen und für politische Praxis von Christinnen und Christen ist.

Deshalb wollen wir keine Tagung zu 1968, sondern an damalige Anfragen anknüpfen und für die heutige Zeit bearbeiten. Entsprechend werden unsere Themen sein:

– Das Verhältnis von Kirche(n) und Gesellschaft und unser Verhältnis zu den Kirchen.

– Die – nach wie vor – große Bedeutung von Religion und die damit verbundene Notwendigkeit von Religionskritik.

– Sind politische Praxis und politisches Christentum erschöpft? Für welche Kirche, welchen Glauben, welches Christentum stehen wir, kämpfen wir?

Nähere Informationen zur Tagung bekommen Sie bei uns im Institut für Theologie und Politik, Tel. 0251-524738 oder in Kürze unter www.itpol.de.

 

 

Christus kam nicht bis nach Osnabrück

Am 25. Mai ging der 97. Katholikentag in Osnabrück zu Ende. „Ich habe selten das Wort ‚wunderbar‘ so oft gehört wie in den vergangenen Tagen“, soll Osnabrücks Bischof Bode gesagt haben. Ich weiß nicht, von wem er diese Wunderbekundungen gehört haben will. Vielleicht von den vielen Jugendlichen, die mit dem Papst-T-shirt „totus tuus“ zwischen den Veranstaltungen auf charismatisch gedämpfter Eventsuche waren, vielleicht auch von den zuhauf vertretenen Bäffchenträgern oder der zahlreich vertretenen Politprominenz wie Bundespräsident Köhler, Kanzlerin Angela Merkel oder der ehemaligen BDKJ-Vorsitzenden und jetzigen Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit , Karin Kortmann. Gerade die PolitikerInnen dürften allen Grund gehabt haben, „wunderbar“ zu rufen, trafen sie doch auf einen zahnlosen Laienkatholizismus, der sich die Lösung von Umwelt-, Ungleichheits- und Globalisierungsproblemen nur in gemeinsamen Veranstaltungen mit den Herrschenden dieser Welt vorstellen konnte. Vielleicht waren es aber auch die klerikalen Katholizismusvertreter, die „wunderbar“ gerufen haben, weil ihnen das Publikum für ein paar Tage vorgegaukelt hat, es gäbe ein Zurück in den formierten Katholizismus begeisterter, dem bürgerlichen Lager fest verbundener Kirchgänger. Die wären dann die Legitimationsbasis für solche Positionen wie die des neuen Vorsitzenden der Bischofskonferenz Zollitsch, der überzogene Ansprüche an Staat und Kirche kritisierte: „Wir sind in unserem Land in Gefahr, eine Anspruchsgesellschaft zu werden, in der sich mehr und mehr eine Versorgungsmentalität breitmacht“, sagte er. Die erste Frage dürfe nicht sein: „Was erwarte ich von der Gesellschaft? Was soll der andere für mich tun? Die erste Frage ist: Was kann ich für den anderen, für die Gesellschaft, für die Kirche tun?“

Ja, die Versorgungsmentalität ist schon ein ernsthaftes Problem: die Ansprüche der immer zahlreicher werdenden Armen auf Menschenwürde, die Forderungen der Arbeitslosen nach Teilhabe an der Gesellschaft, der Schrei der Natur nach Sicherheit für ihren Fortbestand, die Klagen der Flüchtlinge über Repression, die Versorgungsmentalität der Hungerzonen überall auf der Welt … Sie alle sollen sich fragen, was sie für die Gesellschaft tun können: ruhig bleiben? für Hungerlöhne arbeiten? sich unsichtbar machen? Biosprit produzieren …sterben?</p> <p>Einmal schien es mir, als klopfte Christus in Osnabrück an die Tür: In einer kleinen Veranstaltung, die an das erste politische Nachtgebet auf dem Katholikentag 1968 in Essen erinnerte, erzählte die Befreiungstheologin Nancy Cardoso aus Brasilien: „Ein Bischof macht einen 24-tägigen Hungerstreik aus Liebe zu einem Fluss und zu seinem Volk, und die Menschen der Fischerdörfer und die Bauern antworten mit der Besetzung von Staudämmen, Häfen, Straßen, Flüssen… Die Zeit hielt an: Die Zeit des Kampfes gegen das kapitalistische Energiemodell und die Vermarktung des Wassers. 200 Frauen besetzen und zerstören an einem 8. März das Forschungslabor eines großen Zellulose-Konzerns… Die Zeit hielt an: Es war die Stunde des Kampfes gegen die künstlichen Wälder, die Vermarktung der Wälder und gegen die Rolle, die der internationale Kapitalismus Brasilien als Exporteur von Naturressourcen zuschreibt. … Gib mir, Gott, eine unbequeme Theologie. Eine, die ich immer wieder durch den Druck des Kampfes und seiner Widersprüche erfinden muss … eine Theologie der Befreiung, befreit vom bürgerlichen Denken und seinen Wohltaten…“

Und dann ahnte ich, wo Christus möglicherweise war: bei den BesetzerInnen der genmanipulierten Maisfelder in Gießen, bei den DemonstrantInnen gegen den NPD-Parteitag in Bamberg, bei den Aktionen von „Kein Mensch ist illegal“ vor den Abschiebebehörden, Knästen und Flughäfen. Vielleicht sogar bei attac und ihrer Kampagne für bedingungsloses Grundeinkommen?

Deren prominentestes Mitglied jedenfalls, Heiner Geissler, sagte auf einer Veranstaltung sinngemäß: „Wir müssen den Druck von unten verstärken“, denn eine Reform der Kirche sei überhaupt nur noch von unten zu erreichen. Ziel sei eine Kirche, die ihre Verantwortung für die Gestaltung der sozialen Verhältnisse ernst nehme, denn Jesus habe sich permanent mit den herrschenden Machtverhältnissen seiner Zeit auseinandergesetzt. Die IKvu zog daraus den Kurzschluss, es sei also an der Zeit, dass die Gemeinden ihre Leitungen, wie bereits in der Schweiz, endlich selber wählen dürfen müssten. Mehr nicht! Kam Christus bis nach Osnabrück?