Wie alles begann

Revolutionäre Zeiten: Die Bischofsversammlung von Medellín

Ludger Weckel

Das Jahr 1968 ist – rückblickend betrachtet – ein wichtiges Jahr für Lateinamerika, für die dortige Kirche und die Theologie, wichtig für die Theologie der Befreiung, auch wenn die Bezeichnung „Theologie der Befreiung“ erst wenige Jahre später erstmals verwendet wurde. Vom 24. August bis zum 6. September 1968 fand in der kolumbianischen Stadt Medellín die II. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats statt, das heißt, es trafen sich Delegierte der katholischen Kirche aus allen Ländern Lateinamerikas.

Um die Bedeutung dieses Treffens einzuschätzen, ist zunächst wichtig, sich die damalige Zeit mit ihren Aufbrüchen und ihrem Fortschrittsglauben in Erinnerung zu rufen. Die 60er Jahre standen weltpolitisch im Zeichen des kalten Krieges, aber auch im Zeichen der Entkolonialisierung und der Befreiungskämpfe (z.B. Algerien, Vietnam). Die Länder des Südens suchten ihre Chancen innerhalb der globalen Machtkonstellationen zwischen Ost und West, sie wurden von den Mächtigen aber auch gnadenlos in diese Machtverhältnisse hineingepreßt: Für (wirtschaftliche) Freiheit und gegen Sozialismus oder für einen sozialistischen Weg und damit automatisch gegen westliche Interessen. Es herrschte ein Glaube an einen machbaren, schnellen Fortschritt, eine schnelle Überwindung von Armut und Hunger. Dies zeigt sich zum Beispiel in den damals vorherrschenden Entwicklungstheorien, die auf den ersten Blick genau gegensätzlich sind, aber doch eine gemeinsame Basis haben. Die Theorie der „nachholenden Entwicklung“ (spanisch auch „desarrollismo“ genannt) ging vom Modell der „entwickelten Industrienationen“ aus und verfolgte das Ziel, durch massive Entwicklungshilfe, durch Förderung von Industrialisierung und gesellschaftlicher Mittelschichten „nicht entwickelte Länder“ dem westlichen Modell anzunähern. Die Dependenztheorie hingegen sprach davon, daß die sogenannte Unterentwicklung die Kehrseite der Entwicklung der westlichen Industrienationen sei und deshalb zunächst eine Befreiung aus der Abhängigkeit notwendig sei, um einen eigenen, unabhängigen Entwicklungsweg gehen zu können. Gemeinsam ist beiden Theorien, daß sie an die kurzfristige Machbarkeit glaubten.

Kirchliche Aufbrüche

Auch in den Kirchen herrschte – global betrachtet – Aufbruchsstimmung: Im II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) versuchte die katholische Kirche, Fenster und Türen zur Welt hin zu öffnen und produzierte – für die damalige Kirche – erstaunliche Aussagen über die Rolle der Laien, über soziales Engagement von Christen und das Aufbrechen verkrusteter kirchlicher Strukturen. Ähnliche Impulse gingen auf evangelischer Seite von der IV. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala (1968) aus. Die Konferenz in Medellín 1968 hatte zunächst zum Ziel, die Ergebnisse und Aufbrüche des II. Vatikanischen Konzils für den lateinamerikanischen Kontext umzusetzen. Der wohl bekannteste Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez bemerkte dazu: „Das II. Vatikanische Konzil spricht von der Unterentwicklung der Völker unter dem Blickwinkel der entwickelten Länder, um diese an ihre Möglichkeiten und Verpflichtungen jenen gegenüber zu erinnern. Medellín dagegen versucht, das Problem von den armen Ländern aus anzugehen, und definiert sie deshalb als Völker, die einer neuen Spielart von Kolonialismus unterworfen sind. Das II. Vatikanum spricht von einer Kirche in der Welt und versucht bei der Beschreibung dieser Kirche, die bestehenden Konflikte zu mildern, Medellín indes bestätigt, daß die Welt, in der die lateinamerikanische Kirche präsent sein muß, sich in vollem revolutionären Prozeß befindet.“ (Gustavo Gutiérrez: Theologie der Befreiung. Mainz, 10. Aufl. 1992, 191f.) Dieser „revolutionäre Prozeß“ ist in vielen Texten und Berichten aus Lateinamerika unübersehbar. So schreibt ein kirchlicher Beobachter 1968 aus Uruguay: „Daß sich die Situation in mehreren lateinamerikanischen Ländern allmählich einem gefährlichen revolutionären Zustand nähert, dafür häufen sich die Symptome. Das schroffe Nebeneinander von permanentem Hunger, Arbeitslosigkeit, hoher Sterblichkeit auf Seiten breiter Volksschichten, die unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen, und von unausgesuchtem Komfort, ja kaum vorstellbarem Pomp in der Lebensführung herrschender Kreise hat soviel Sprengstoff angehäuft, daß es, wenn einmal der Funke zündet, zur Explosion des ganzen Kontinents kommen könnte.“ (Galo Martínez Arona: Lateinamerikanisches Dilemma. Die Christen und die Revolution, in: Orientierung 32 (1968), 93). Derselbe Autor sieht, daß eine Analyse der wirtschaftlichen Lage und ihre Erfahrungen der Ungerechtigkeit viele zu der Überzeugung führen, „es gebe nur mehr die Möglichkeit, das eiserne Gerüst des herrschenden Systems zu zerbrechen: den bewaffneten Aufstand.“ Er sieht die Christen und die Kirche in diesem Zusammenhang vor eine unausweichliche Entscheidung gestellt, entweder die bestehende Ungerechtigkeit weiter zu stützen oder aber sich für revolutionäre Veränderungen einzusetzen. In diesem Zusammenhang verweist er unter anderem auf den katholischen Priester Camilo Torres, der sich nach dem Scheitern seiner politischen Bemühungen im Jahr 1967 dem bewaffneten Kampf der Guerilla in Kolumbien angeschlossen hatte und getötet worden war, was Beweis seiner Nächstenliebe und seiner Sehnsucht nach Gerechtigkeit sei.

Zeitzeichen

Die Beschlüsse von Medellín stellen sich zwar nicht explizit dieser „unausweichlichen Entscheidung“, beschreiten aber einen neuen, kirchlich gesehen sehr wohl „revolutionären“ Weg: Sie gehen nicht – wie in offiziellen kirchlichen Dokumenten bis dahin üblich – von festen Glaubensaussagen und kirchlichen Regelungen aus, um diese den Menschen zu verkünden, sondern analysieren zunächst die gesellschaftliche Wirklichkeit, die Nöte und Hoffnungen der Menschen und formulieren den eigenen Anspruch: „Der lateinamerikanische Episkopat darf angesichts der ungeheuren sozialen Ungerechtigkeit in Lateinamerika nicht gleichgültig bleiben; Ungerechtigkeiten, die die Mehrheit unserer Völker in einer schmerzhaften Armut halten, die in sehr vielen Fällen an unmenschliches Elend grenzt.“ Als wichtigste und folgenreichste theologische Konsequenz gilt vielen Beobachter die Formulierung: „Christus, unser Erlöser, liebt nicht nur die Armen, sondern er, der reich war, machte sich arm, lebte in Armut, konzentrierte seine Sendung darauf, daß er den Armen ihre Befreiung verkündete und gründete seine Kirche als Zeichen dieser Armut unter den Menschen.“ Dies begründete in Folge eine neue Praxis der Kirche, einen Positionswechsel, weg von der Seite der Reichen, Staatstragenden und politisch Mächtigen, hin zu einer „Option für die Armen“.

Positionswechsel

Die Beschlüsse von Medellín stellten eindeutig in den Vordergrund, daß der Glaube die Forderung und das Engagement nach Gerechtigkeit umfasse, daß ohne Gerechtigkeit christlicher Glaube nicht möglich sei. Dies löste zunächst eine Krise, dann massive Konflikte innerhalb der Kirche aus: Das Verständnis von pastoraler Praxis als die Versorgung der Bevölkerung mit Sakramenten geriet ins Wanken und mit ihm die Rolle und damit das Selbstverständnis von den Priestern und Bischöfen. Ihre Tätigkeit im Rahmen von Sakristei und Kirchenraum reichte nicht mehr aus. Im Bereich der neuen Aufgaben, der sozialen Gerechtigkeit kannten sie sich zu wenig aus, fühlten sie sich unsicher. Bald aber entstanden neue pastorale Strategien und Konzepte: Es wurden – zunächst vor allem in ländlichen Bereichen – kleine Pastoralteams gebildet, Laien in die Arbeit einbezogen, der Bewußtseinsbildung, Alphabetisierung und Gesundheitsversorgung eine vorrangige Bedeutung beigemessen und eine „Gute Nachricht“ als Hoffnung für die von materieller Not und sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen verkündet. Zudem wurde die Selbstorganisation der Menschen gestärkt: in der Bildung von Basisgemeinden und in der Betonung der darin liegenden Möglichkeiten gegenseitiger Hilfe. Gleichzeitig wurden aber vielerorts auch Gründung und Arbeit von gewerkschaftlichen Initiativen zur Durchsetzung von Interessen wie Landverteilung und Kreditbewilligungen unterstützt. Die Reaktion darauf ließ nicht lange auf sich warten: Zivile und militärische Machthaber sowie die Oligarchie begannen zunächst mit Vorwürfen und Beschuldigungen („Kommunisten“, „Subversive“), gingen bald aber zur offenen Verfolgung ihrer Gegner über: Viele Priester, Laien, Engagierte, aber auch Bischöfe wurden vertrieben, verschleppt, gefoltert oder getötet, wie Bischof Oscar Arnulfo Romero aus El Salvador. Heute sind zwar die „revolutionären Zeiten“ vorbei und der „Geist von Medellín“, der in den Texten deutlich wird, hat es schwer, sich durchzusetzten. Trotzdem bleibt die dort formulierte Herausforderung als Aufgabe bestehen: Die ungerechte Verteilung der Güter dieser Welt anzuklagen und die Sünde, die diese Ungerechtigkeit hervorbringt, aufzudecken.

Tips zum Weiterlesen: – Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz, Die Kirche Lateinamerikas. Dokumente der II. und III. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates in Medellín und Puebla (Stimmen der Weltkirche 8), Bonn, o.J. – Gustavo Gutiérrez, Theologie der Befreiung, Mainz 10.überarb. Aufl. 1992 – Ludger Weckel, Um des Lebens willen, Mainz 1998