Der processus confessionis und die Frage nach dem christlichen Standort

Seit Mitte der 90er Jahre gibt es – vor allen Dingen vom Reformierten Weltbund und vom Ökumenischen Rat der Kirchen angestossen – einen processus confessionis, d.h. einen engagierten Prozess der Erkenntnis, der Aufklärung und des Bekennens im Hinblick auf wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung.

Bekenntnisse – ein kurzer historischer Rückblick

Im Lexikon für Theologie und Kirche heißt es: „Jede menschliche Gemeinschaft neigt dazu, ihre wesentlichen Einsichten in kurze Grundsätze zusammen zu fassen. In allen großen Kulturreligionen gibt es bereits Urformen der Glaubensbekenntnisse, entstanden in der Auseinandersetzung mit anderen Religionen.“ (LthK 4 (1960), 935)

In den ersten christlichen Konzilien in Nizea, Konstantinopel und Chalkedon wurden Glaubensbekenntnisse formuliert, die sich gegen jemanden oder etwas, gegen Glaubensaussagen, gegen Auffassungen christlichen Verständnisses richteten. So ist das Bekenntnis von Nizea z.B. in gewisser Weise eine Absage an den Hellenismus, an die griechische Metaphysik mit ihren verschiedenen Vermittlungen zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre. Gleichzeitig aber ist das nizäanische Glaubensbekenntnis formuliert als Absage gegen die sog. Arianer. Arius, nach dem diese Strömung benannt wurde, bestritt die Göttlichkeit Christi, weil dieser aufgrund seiner menschlichen Einschränkungen und Leiden nicht Gott sein könne. Das Konzil dagegen legte Wert darauf, dass es eine Beziehung zwischen Gott und dem Leiden gibt, dass Gott dem Leiden der Opfer nicht teilnahmslos gegenüber steht.

Ähnlich Chalkedon, wo im Bekenntnis festgestellt wird: In Christus sind zwei Naturen, unvermischt und ungetrennt, in einer Person und Hypostase. Dieses Bekenntnis ist als Heilsaussage gemeint und richtet sich gegen jene, „die das Mysterium der Oikonomia zu verderben suchen“ durch Auflösung der Person Jesu, des Gott-Menschen.

In beiden Fällen geht es um christologische Bekenntnisse. Auch in der neueren Geschichte hat es Bekenntnisse gegeben, diese haben aber nicht unbedingt christologischen, sondern eher theologischen Charakter. Ich möchte hier zum einen an die Bekennende Kirche erinnern, wobei dieser Begriff „Bekennende Kirche“ eine allgemeine Bezeichnung für die Kirche in statu confessionis gegenüber dem Anspruch der „Welt“ ist, und zwar der Welt des Nationalsozialismus, der sich über die Deutschen Christen der Kirche bemächtigt hatte. Und das zweite Beispiel, noch jüngeren Datums, aber in der Regel uns eher weniger bekannt, ist die Auseinandersetzung um das Apartheidssystem in Südafrika. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen hat der Reformierte Weltbund in seiner Generalversammlung 1982 die Niederländische-Reformierte Kirche als Mitglied ausgeschlossen, weil diese aktiv am Apartheidssystem beteiligt war und dieses theologisch legitimiert hat. Ab Mitte der 90er Jahre, also nach Ende des Apartheidssystems, begann ein Prozess der Wiedereingliederung. In der „Versöhnungsvereinbarung“ heißt es u.a.: „Bei seiner Generalversammlung 1997 in Debrecen bekräftigt der Weltbund in diesem Zusammenhang erneut, daß er jede theologische Rechtfertigung der Apartheid verwirft und als Frage des status confessionis für die Kirchen betrachtet, da eine solche theologische Rechtfertigung eine Verfälschung des Evangeliums und aufgrund ihres hartnäckigen Ungehorsams gegenüber dem Wort Gottes eine theologische Häresie darstellt … Als Teil dieses Vorgehens … versichert die Niederländisch-Reformierte Kirche den Kirchen des Weltbundes durch ihre 1998 zusammentretende Generalsynode, daß sie die Apartheid als falsch und sündhaft verwirft, und zwar nicht nur ihre Auswirkungen und ihre Anwendung, sondern auch ihr grundlegendes Wesen.“1

Status Confessionis ist ein ekklesiologischer Begriff, vor allen Dingen in den Kirchen der Reformation. Der Begriff enthält letztlich die Unterscheidung zwischen solchen Angelegenheiten, die eine klare Entscheidung erfordern, weil sie das Wesen des Evangeliums und das Sein der Kirche selbst betreffen, und anderen Angelegenheiten, in denen eine Pluralität von Meinungen möglich ist. Es gibt Fragen, in denen ein Standpunkt bezogen werden muss, d.h. in denen es nicht die Möglichkeit gibt, sich neutral zu verhalten, sich rauszuhalten. Es gibt verschiedene kirchliche Traditionen, die diese Notwendigkeit für eine eindeutige Entscheidung ausdrücken (vgl. die Barmer Theologische Erklärung 1934, Artikel 2 und 3).

Es geht also im Bekenntnis darum, den richtigen vom falschen Weg zu unterscheiden, auf dem das Volk Gottes unterwegs ist. Oder anders gesagt: den richtigen Standpunkt zu finden (im lateinischen Wortstamm von status steckt auch „stehen“), wobei als ein Problem bestehen bleibt, wer darüber entscheidet, was falsch und was richtig ist. Dies zeigt sich auch im aktuellen processus confessionis.

Processus Confessionis: der Vision der Globalisierung widerstehen

Eine Konsultation des Reformierten Weltbundes in Kitwe/Sambia in Afrika stellt 1995 fest, dass die gegenwärtige neoliberale Ideologie und das darauf aufbauende Wirtschaftssystem einen status confessionis für die Kirchen darstellt, wie der nationalsozialistische Faschismus und die Apartheid im 20. Jahrhundert. Dies war der Anlaß für den Reformierten Weltbund 1997 (Debrecen, Ungarn) und den ökumenischen Rat der Kirche 1998 (Harare, Simbabwe), auf ihren Vollversammlungen die Mitgliedskirchen zu einem Processus confessionis im Kontext wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und Naturzerstörung aufzurufen.

In der gegenwärtig herrschende Ungerechtigkeit in der Welt mit den mehr als 25.000 Hungertoten täglich wird eine ähnliche Situation gesehen wie im Nationalsozialismus oder der Apartheid. Diese Ähnlichkeit ist zu erläutern: Im Nationalsozialismus wie in der Apartheid ging es um eine offensichtliche Unterdrückung, darum, dass Menschen offen ausgeschlossen, ermordert, getrennt und diskriminiert wurden. Im globalen, deregulierten Markt sind die Mechanismen nicht so offen, sondern indirekte Effekte des Systems, die das Leben zerstören und den Tod von Menschen und Natur verursachen. Das Ergebnis ist aber ähnlich: der vorzeitige Tod von vielen Menschen. Die VertreterInnen des Wirtschaftssystems versprechen zwar Reichtum und allgemeine Wohlfahrt, die Produktion dieses Reichtums aber schließt einen Großteil der Menschen aus, was in Ländern ohne soziales Netz zu Hunger und Tod führt. Das System ist nicht auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse und auf das Gemeinwohl ausgerichtet, sondern auf die Maximierung des Profits für Kapitaleigentümer. Gleichzeitig setzt es sich absolut („Es gibt keine Alternative“), was mit Götzendienst gleichzusetzen ist.

Inhaltlich kann man die Anliegen des processus confessionis in zwei Punkten zusammenfassen: Die Tatsache, dass im Rahmen von kapitalistischer Globalisierung immer mehr Menschen ausgegrenzt werden und barbarischen Formen der Gewalt zum Opfer fallen, ist eine Herausforderung an den Glauben (und das Bekenntnis) von Christen und Christinnen. Dies gilt umso mehr, als zu beobachten ist, dass der Kapitalismus im Zuge seiner globalen Durchsetzung zunehmend religiöse Züge annimmt.

Die genaue Formulierung der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Harare lautet: „Die Vision hinter der Globalisierung steht in Konkurrenz zur christlichen Vision der oikoumene, der Einheit der Menschheit und der ganzen bewohnten Erde. … Die Logik der Globalisierung muss durch ein alternatives Lebenskonzept, nämlich der Gemeinschaft in Vielfalt in Frage gestellt werden. Christen und Kirchen sollten über die Herausforderung der Globalisierung aus der Perspektive des Glaubens nachdenken und deshalb Widerstand gegen die einseitige Dominanz wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung leisten.“

Auch wenn diese Analyse richtig ist, so ist doch auch deutlich, dass sie nicht unumstritten ist, d.h. um sie wird gerungen und es gibt Konflikte. Deshalb hat man im Reformierten Weltbund und im ÖRK auch nicht von einem status confessionis (im Sinne von festem Punkt) gesprochen, denn eine solche Formulierung hätte die Ökumene nachhaltig gespalten. Man hat sich für den Begriff processus confessionis ( im Sinne von Weg) entschieden, weil der zwar die Inhalte benennt, aber die Entscheidung über das Bekenntnis – und damit den Ausschluss anderer Positionen – hinausschiebt.

Wie sehr dieser processus confessionis umstritten ist, hat sich während der Vollversammlung des Ökum. Rates der Kirchen 2006 in Porto Alegre/Brasilien gezeigt. Die Diskussionen dort um die sog. Agape-Dokumente, also um die Beschlüsse über den processus confessionis, fasst ein Beobachter folgendermaßen zusammen: „Die schärfsten Angriffe auf die Agape-Dokumente und die Äußerungen in besagtem Plenum kamen von Delegierten solcher Kirchen, die den Einladungen zur Beteiligung am AGAPE-Kommunikationsprozess nicht gefolgt waren, vor allem aus den skandinavischen Ländern. Fragt man sich, was der inhaltliche Grund für diesen unausgetragenen Konflikt ist, so findet man in den inzwischen erarbeiteten Stellungnahmen der europaischen Kirchen und vor allem der Konferenz Europäischer Kirchen folgenden Hinweis. Die Europäer erkennen an, dass die neoliberale Globalisierung im Süden zwar vor allem negative Konsequenzen hat. Sie behaupten aber, in Europa bestehe die ‚Soziale Marktwirtschaft‘ und man müsse dieses Konzept nur auf die globale Ebene übertragen, um die angeblich positiven Aspekte der Globalisierung zu stärken und die negativen zu vermeiden. Sie verweigern sich einer systemischen Analyse des Neoliberalismus (indem sie behaupten, dies sei ein ideologischer Begriff), sie wollen mit dem Süden auch nicht über Kapitalismus und Imperium diskutieren. Sie wollen nur über konkrete Aktionen und ethische Apelle an die wirtschaftlich und politisch Mächtigen reden.“2

Theologische Begründung: Extra pauperes nulla salus: Kein Heil an den Armen vorbei

Was ist damit gemeint, wenn die Vollversammlung des ÖRK in Harare sagt, die Vision hinter der Globalisierung widerspreche der christlichen Vision von der Ökumene, dem Zusammenleben aller Menschen? Eine christliche Perspektive kann man allgemein so formulieren: Gott hat die Erde zum Leben geschaffen, im Evangelium wird die Absicht als „Leben in Fülle“ (Joh. 10,10) formuliert. Demnach müsste alles Wirtschaften darauf ausgerichtet sein, dem Leben der Menschen und der Natur zu dienen. Neoliberale Ideologie und Praxis orientieren sich an der Logik maximaler Gewinne und behaupten, damit diene man implizit auch dem Gemeinwohl. Mit dieser Gewinnorientierung werden Menschen, die kein Eigentum besitzen oder denen bezahlte Arbeit verwehrt wird, systematisch ausgeschlossen und diejenigen mit bezahlter Arbeit werden systematisch ausgebeutet, um Profitraten und Dividenden zu erhöhen; kommunale und öffentliche Daseinsversorgung wie Wasser, Energie usw. werden privatisiert und der Gewinnlogik unterworfen; Schutz der lebensnotwendigen Natur wird nur unter dem Kostengesichtspunkt betrachtet. Alle negativen Folgen dieses Wirtschaftens werden als indirekte oder nichtbeabsichtigte Folgen interpretiert, wodurch verschleiert wird, wer verantwortlich ist.

Die Folgen dieses Wirtschaftens sind bekannt: Afrika als „Verließ der Welt“, in dem die Menschen eine kontinentale Shoa erleiden; 2,5 Milliarden Menschen leben mit weniger als 2 Euro pro Tag; 25000 Menschen sterben nach FAO-Angaben täglich an Hunger; die Ausbreitung der Wüsten bedroht das Leben von 1,2 Milliarden Menschen in ca. 100 Ländern der Erde. Die USA bauen eine Mauer von 1500 Kilometern, um Lateinamerikaner abzuwehren; Europa errichtet in Südspanien bzw. Nordafrika einen Zaun gegen die Afrikaner. Die Ausgaben für Waffen belaufen sich weltweit auf 2,68 Milliarden Dollar täglich und die Subventionen für die Landwirtschaft in Europa und den USA auf 1 Milliarde täglich (nach Federico Mayor Zaragoza, Unesco-Director von 87-99). Die G8-Länder zusammen mit China sind verantwortlich für 90 Prozent der Waffenexporte.

Eine befreiende Theologie setzt dieser Logik der Gewinnmaximierung und Lebensvernichtung eine Theologie entgegen, die die Armen zur Richtschnur für Denken und Handeln macht, denn das Leben der Armen ist gefährdet. Nur wenn deren Überleben gesichert ist, können alle „Leben in Fülle“ haben. Aber wer sind die Armen, was ist Armut?3

Armut ist erstens die Wirklichkeit, in der ein größter Teil der Menschen heute lebt. Überleben ist das größte Problem. In dieser Situation befinden sich nach Auskunft des UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) von 1996 ca. drei Milliarden Menschen. In 89 Ländern ist die Situation heute schlimmer als vor zehn Jahren und in einigen sogar schlimmer als vor 30 Jahren. Es ist schon fast ein Gemeinplatz, von Menschen zu sprechen, die für den Produktivapparat nicht zählen. Es gibt die Subspezies der Nichtexistenten, der Überflüssigen, der Ausgeschlossenen.

Zweitens: In der oben schon genannten Veröffentlichung des UNDP heißt es, dass es weltweit 358 Personen gibt, deren Guthaben den Wert von einer Milliarde Dollar übersteigt. Nimmt man das Gesamtvermögen dieser 358 Personen zusammen, so ist dies mehr als das, was 45 Prozent der Weltbevölkerung als Jahreseinkommen zur Verfügung steht. Die Menschheitsfamilie ist zerbrochen. Der Reiche und der arme Lazarus entfernen sich immer weiter von einander. Wir sind auf dem Weg „von der Ungerechtigkeit zur Unmenschlichkeit“.

Drittens gilt, dass sie wesentlichen Ursachen dieser Armut historisch sind: strukturelle Ungerechtigkeit. „Arme“ sind arm gemacht, „Indigenas“ sind der kulturellen Identität beraubt… Dies wird heute verschwiegen und verschleiert. Mehr noch: Als „Lösungen“ werden die Maßnahmen vorgeschlagen, die schon diese Situation verursacht haben. Die Ungerechtigkeit, die die Armut hervorbringt, braucht Verschleierung und Vergessen, es herrscht die „institutionalisierte Lüge“.

Schließlich ist die Armut die nachhaltigste Form der Gewalt und gleichzeitig die Form der Gewalt mit der größten Straffreiheit. Welches Tribunal soll man anrufen wegen der 35 oder 40 Millionen Menschen, die jährlich wegen Hunger oder wegen Krankheiten sterben, die vom Hunger herrühren? Und der Hunger wäre ja nicht nötig, es gibt genug…

Und die zweite Frage lautet: Was kann aus dieser unmenschlichen und brutalen Welt befreien? Die Antwort der Befreiungstheologie – und auch des processus confessionis – lautet: Erlösung muss mit den Armen verknüpft werden, an diese gebunden werden. Bei ihnen, unter ihnen und mit ihnen ist eine Möglichkeit der Erlösung zu finden. Deshalb hat Jon Sobrino eine traditionelle theologische Formulierung umgearbeitet und spricht davon: extra pauperes nulla salus (außerhalb der Armen kein Heil). Er erläutert, dass dies nicht so zu verstehen ist, dass bei den Armen automatisch schon Erlösung gegeben ist, sondern vielmehr, dass es an den Armen vorbei und ohne sie keine Erlösung gibt. Das „extra“ bezeichnet einen Ort, einen Standpunkt. Die Formulierung „extra ecclesiam nulla salus“ stammt von Origines und Cyprianus und stellt die Frage nach dem Ort, von dem aus Erlösung zu finden ist. Nach dem II. Vatikanischen Konzil hat der niederländische Theologe Eward Schillebeeckx diese Formulierung im Sinne des Konzilsanliegens umformuliert und gesagt: „extra mundum nulla salus“ (außerhalb der Welt kein Heil). Damit sagt er, dass „Gott in der Welt und der menschlichen Geschichte Erlösung bewirken will“ und dass dies „Basis jeglicher Glaubensrealität“ ist. Es geht um die Konzilseinsicht, dass Gottes Heilswille die ganze Welt umfasst und dass es nur die eine Heilsgeschichte gibt. Damit gilt: Nicht (nur) die Kirche, sondern die Welt ist Erlösungsort, Erlösung ist nicht nur religiös zu fassen, sondern hat eine historische und soziale Dimension. Dies ist die weltgerichtete Zäsur des II. Vatikanischen Konzils. Mit der II. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe 1968 in Medellín/Kolumbien gab es dann eine weitere Zäsur, die den Glauben nicht auf die Welt, sondern auf die Armen verwiesen hat. In diesem Sinn steht die Umformulierung Sobrinos in direktem Zusammenhang mit den Aussagen der Bischöfe in Medellín und mit jenem bekannt gewordenen Ausspruch Romeros: Gloria DEI, vivens pauper (es ist der Ruhm Gottes, wenn der Arme lebt).

Dies aber ist im strengen Sinne eine von Interesse geleitete Glaubensentscheidung, eine Standortentscheidung, die die Opfer in den Mittelpunkt stellt. Die Opfer in den Mittelpunkt der Reflexion zu stellen, ist begründet in der Offenbarung Gottes (als Gott des Lebens, als Gott, der das Leben aller Menschen will) und es ist begründet in der Realität der gegenwärtigen Welt. Diese beiden, die Offenbarung Gottes und die Wirklichkeit der gegenwärtigen Welt sind letztlich ein hermeutischer Zirkel: der Gott des Lebens will keine Opfer und das Vorhandensein von Opfern zeigt, was der Gott des Lebens nicht will. Dieser hermeneutische Zirkel läßt sich von außen (theoretisch) kaum verteidigen. Dieser Zirkel ist eine Sache des Glaubens. Deshalb spricht man in der Befreiungstheologie von der „Option“. Es ist eine Entscheidung, aus welcher Perspektive, von welchem Standort ich die Welt sehen will, denn nur was ich sehen will, dass sehe ich auch. Diesen hermeneutischen Zirkel gibt es übrigens auch für andere Theologien: Wenn ich den guten Schöpfergott und die gute Schöpfung zum Ausgangspunkt nehme, bilden diese beiden auch einen hermeutischen Zirkel, von dem aus sich die Welt interpretieren läßt. Das gleiche gilt für den unendlichen Gott, der mir eine Perspektive des ewigen Lebens für meine sterbliche Existenz verheißt. Diese und weitere Perspektiven sind möglich. Welcher ich den Vorrang gebe, ist eine Glaubensentscheidung, eine Frage des Standortes und der Option.

Und diese Glaubensentscheidung von ChristInnen, von Kirche hat Folgen, weil sich Sicht der Dinge, der Wirklichkeit verändert. Dies hat der 1980 ermordeten Erzbischof von San Salvador, Oscar A. Romero in einer Rede über die theologischen Lernerfahrungen seiner Kirche aufgezeigt.4 „Wir wissen heute besser was Sünde ist. Wir wissen, dass der Widerstand gegen Gott den Tod des Menschen verursacht. Wir wissen, dass Sünde wahrhaft zum Tode führt. Sie bewirkt nicht nur den inneren Tod dessen, der die Sünde begeht, sondern sie produziert den realen, objektiven Tod. … Sünde ist die Macht, die den Sohn Gottes getötet hat und sie besteht fort als die Macht, die die Kinder Gottes tötet.“ Romero spricht von Strukturen der Sünde, die Sünde sind, weil sie die Früchte der Sünde hervorbringen, den Tod der Menschen. Und er nennt Vergötzung des Reichtums, Vergötzung von Privatbesitz und Vergötzung der Macht als solche Strukturen. „Die Kirche hat durch die Inkarnation in die reale soziopolitische Welt gelernt, das Wesen der Sünde in seiner ganzen Tiefe zu erkennen. Sie besteht darin, dass sie den Tod der Menschen bewirkt.“

Bei uns gibt es ein Glaubensverständnis, welches meint, es gebe den Gottesglauben „an sich“, aus dem sich dann – zweitrangig – ethische und moralische Konsequenzen ableiten, die mehr oder weniger zu befolgen seien. Die Ausführungen von Romero zeigen, dass die Frage von Ungerechtigkeit, von Ausschließung, gewaltsamer Verdrängung von Menschen, Armut und Reichtum, vorzeitiger Tod und Leben, integraler Bestandteil des Glaubens sind. Wir „lernen“ Glauben auf dem Weg durch diese Welt, in der Praxis innerhalb des hermeneutischen Zirkels von Offenbarung des Gottes des Lebens einerseits und der Realität andererseits. Der Gott des Lebens hat eine gute Nachricht, eine Botschaft der Veränderung für diese schlecht organisierte und von der Sünde beherrschte Welt. Diese Nachricht ist unsere Botschaft. Aber dieser hermeneutische Zirkel läßt sich, wie gesagt, gegenüber jemandem, der einen anderen wählt, theoretisch nur schwer verteidigen.

Praktische Konsequenzen und Möglichkeiten

Nicht „Das Soziale neu denken“, wie die Kirchen des Nordens gern fordern, sondern „Das Ganze verändern“ ist der Leitgedanke z. B. der Kirchen in Afrika, Asien und Lateinamerika, denn dort machen sich die Folgen des zerstörerischen Kapitalismus besonders drastisch deutlich. In diesem Zusammenhang wurden im Rahmen des processus confessionis eine ganze Reihe von Vorschlägen erarbeitet, die vor allen Dingen auf die am Prozess beteiligten Kirchen (Gemeinden, Landeskirchen, Konfessionen) zielen, wobei diese eher allgemein gehalten sind, um den einzelnen Kirchen ihrer jeweiligen Situation entsprechend eigene Möglichkeiten zu lassen, ihre Entscheidungen innerhalb des processus confessionis zu fällen. Diese Vorschläge sind in den Veröffentlichungen des Weltkirchenrates und des Reformierten Weltbundes oder von Kairos-Europa oder dem Ökum. Netz Rhein-Mosel-Saar nachzulesen, ich möchte dies hier nicht weiter ausführen. Ich möchte abschließen mit einer Erfahrung, die ich zusammen mit anderen vor wenigen Wochen im Rahmen der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm gemacht habe. An den dortigen Protesten, dem zivilen Ungehorsam durch Blockaden der Zufahrtswege vor allen Dingen, haben wir als Christen uns mit dem Motto „Die Todsünden der G8“ beteiligt.5 Damit haben wir versucht, die Realität der G8-Politik auf den theologischen Begriff zu bringen und erstaunlich positive Reaktionen vor allen Dingen von Menschen erhalten, die mit kirchlicher oder christlicher Tradition nicht mehr viel zu tun haben.

Auffällig war, dass sich zwar einzelne Christinnen und Christen an diesem zivilen Ungehorsam beteiligt haben, dass christliche Organisationen aber nicht zu sehen waren. Christen waren damit nicht sichtbar, nach außen hin nicht da. Und dies fällt in einen Kontext, in dem wir von unseren Partnern im Süden, in Afrika und Lateinamerika, zunehmend hören, dass sie uns Europäern ein wirklich gesellschaftsveränderndes Engagement nicht (mehr) zutrauen. Es bleiben also Fragen: Warum waren Christen in Heiligendamm nicht beteiligt oder unsichtbar? Sehen Christen immer noch die Möglichkeit, über „Forderungen an die Politiker“ die Welt zu verändern? Oder wollen sie gar keine Veränderung? Was ist von einem kirchlichen Protest zu halten, der bei zweideutigen Lichterketten und Glockenläuten stehen bleibt – zweideutig deshalb, weil diese Formen auch noch als nette Begrüßungsgesten gedeutet werden können? Und was bedeutet diese christliche Abstinenz für diejenigen Christinnen und Christen, die sich für Veränderung aktiv einsetzen wollen? Müssen sie sich andere Bündnispartner als die Kirchen und christliche Organisationen suchen? Damit möchte ich schließen, nämlich mit der Frage: Was ist unser Standort? Und wo wollen wir stehen?

 

1 Vgl. http://www.warc.ch/where/23gc/report/drc-g.htm

2 U. Duchrow, Porto Alegre – Wohin gehen die europäischen Kirchen nach der Vollversammlung des ÖRK? (http://www.kairoseuropa.de/fix/PortoAlegreArtikel0602.pdf).

3 Im Folgenden orientiere ich mich an J. Sobrino, La Fe en Jesucristo, Madrid 1999, 15ff.

4 O. A. Romero, Die politische Dimension des Glaubens, in: M. Sievernich (Hg.), Impulse der Befreiungstheologie für Europa, Mainz/München 1988, 56ff.

5 Vgl. http://itpol.de/wp-content/uploads/2007/05/broschuere.pdf