Neu: ITP-Rundbrief Nr. 45

rundbrief45Der ITP-Rundbrief Nr. 45 ist online. Zweimal im Jahr erscheinen kleinere Artikel zu aktuellen Themen, mit denen wir uns im Institut für Theologie und Politik auseinandersetzen. Sie ermöglichen so immer einen neuen Einblick in unsere Arbeit. Interessierte erhalten den Rundbrief auch postalisch oder per Email. Bei Interesse können Sie uns gerne eine Email schreiben (kontakt[at]itpol.de).

Der Rundbrief kann auch als PDF hier heruntergeladen werden. rundbrief45_4

Inhalt

ITP-Team: Editorial
Philipp Geitzhaus: Enteignete Kirchenasylbewegung? Neue Überlegungen zum Kirchenasyl
Michael Ramminger: Griechenland, die Flüchtlinge und das Gesetz. Das Gesetz als Stachel des TodesNorbert Arntz: „Wer bringt diesen Mann nur zum Schweigen?“ Über die Angriffe auf Papst Franziskus (gekürzte Fassung)
Julia Lis: Christentum der Befreiung, Islam der Befreiung. Vereint im Engagement für eine andere Welt

Editorial Rundbrief 45

Liebe Freundinnen und Freunde des ITP,

schneller als erwartet, hat uns das Thema Kirchenasyl wieder eingeholt. Oder besser gesagt: Wir erfuhren die dramatische Dimension, die mit dieser Nachfolgepraxis einhergehen kann. Am 23. August ließ das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein Kirchenasyl in Münster räumen. Der betroffene Flüchtling sollte nach Ungarn abgeschoben werden, was in letzter Minute verhindert werden konnte. Der Fall ist ein Präzedenzfall, da es das erste geräumte Kirchenasyl ist seit den Vereinbarungen, die letztes Jahr mit dem Bundesamt getroffen wurden. Dieser Fall hat uns die Notwendigkeit, über das Kirchenasyl und über solidarische Nachfolgepraxis zu sprechen, noch einmal deutlich vor Augen geführt. Wie gelingt eine breite Solidarität mit den Angekommenen und mit denen, die auf dem Weg sind?

Im Juni 2016 haben wir deshalb zwei kleinere politisch-theologische Publikationen zum Thema Flucht/Migration und insbesondere zum Kirchenasyl unter den Titeln „KIRCHEN.ASYL – Kirchenasyl ist Menschenrechtsschutz. Eine Handreichung“ und „Kirche ohne Grenzen – Kleine theologische Anstöße“ veröffentlicht und wollen damit zu Diskussionen anregen.

Gegenwärtig erleben wir aber nicht nur das unermüdliche Engagement vieler Menschen und Gemeinden, sondern leider auch einen stark verbreiteten Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Deutschland (und der ganzen EU). Für den 2.-4. September hatten deshalb drei große Kampagnen (Blockupy, Aufstehen gegen Rassismus, Welcome 2 stay) zu Aktionstagen aufgerufen. Ziel war es, die Bundesregierung und die AfD für ihre Ausgrenzungspraxis anzuklagen und dem eine breite Solidarität von unten entgegenzustellen.

Auch bewegt uns sehr die zunehmend eskalierende Situation in Mexiko. José Guadalupe Sánchez Suárez aus Mexiko Stadt berichtete uns von der Gewalt im Land, die sich zur Zeit besonders gegen kritische LehrerInnen wendet, die die neoliberalen Bildungsreformen kritisieren. Viele LehrerInnen wurden ermordet und José sorgt sich, dass es sogar zu einem Bürgerkrieg kommen könnte. José bat uns, auf diese Ereignisse aufmerksam zu machen und die Menschen in ihrem Engagement zu begleiten.

Das Ausmaß an Gewalt verschlägt uns die Sprache, versetzt uns in Angst und macht uns handlungsunfähig. Gerade deshalb sind Orte der Auseinandersetzung so wichtig. In diesem Sinne fand im Februar 2015 die befreiungstheologische Strategietagung „Zukunft und Orte befreienden Christentums“ statt, dessen Beiträge jetzt als Buch veröffentlicht sind. Dabei geht es immer wieder um die zentrale Frage: Wie können wir heute eine Kirche der Armen sein, die die herrschenden Plausibilitäten wirksam durchkreuzt?

 

Enteignete Kirchenasylbewegung?
Neue Überlegungen zum Kirchenasyl

Philipp Geitzhaus

Am 23. August wurde ein Kirchenasyl im Münsteraner Kapuzinerkloster unerwartet geräumt. Begleitet wurde der Fall vom Netzwerk Kirchenasyl Münster, welches das ITP vor einem Jahr mitgegründet hatte. Die Räumung hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen (Berichte dazu finden sich auf www.itpol.de). Und neben der großen Empörung über das Vorgehen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kamen auch die unterschiedlichen und gegensätzlichen Positionen zum Kirchenasyl zum Vorschein. Eine gemeinsame Diskussion, welche Funktion das Kirchenasyl in Zukunft haben soll, ist deshalb notwendig.

Kirchenasyl bleibt aktuell

Der aktuelle Fall (und viele andere) zeigt deutlich die Notwendigkeit des Kirchenasyls. Es wurde vor allem eingeführt, um Menschen vor Abschiebungen zu schützen und ihre Verfahren neu (in Deutschland) zu verhandeln. Wurden vor einigen Jahren Menschen vornehmlich vor Abschiebungen nach Eritrea oder in den Iran geschützt, da dort ein menschenwürdiges Leben für die betroffene Person nicht gewährleistet ist, werden heute auch EU-Länder immer virulenter. Die Sparpolitik und/oder der politische Kurs einiger Länder ermöglichen immer weniger ein menschenwürdiges Leben für Geflüchtete. In Ungarn oder Bulgarien werden Menschen, weil sie Flüchtlinge sind, inhaftiert und nicht selten misshandelt, in Italien und Griechenland müssen tausende Flüchtlinge auf der Straße leben, da nicht genügend Unterkünfte bereit gestellt werden. Für viele Menschen werden deshalb Abschiebungen in diese Länder immer unverständlicher und damit auch nicht hinnehmbar. Mit einem Kirchenasyl wird sich also auch gegen bestehende rechtliche Anordnungen (Abschiebung, Dublin-Regelung usw.) gestellt. Dabei ist hervorzuheben, dass dies bewusst und auf Grund der Gewissensentscheidung der jeweiligen Personen (Gemeinde- oder Ordensmitglieder) geschieht und nicht auf Grund raffinierter rechtlicher Kenntnis.

Die Enteignung der Kirchenasylbewegung

Letztes Jahr verhandelten Vertreter der Kirchenleitung und das BAMF über einen Umgang mit Kirchenasylen und einigten sich auf ihre Duldung, wenn diese vorher vom BAMF überprüft und genehmigt werden. Dafür haben die Kirchengemeinden ein aufwendiges Dossier zu erstellen, welches zu erst von Bistumsverantwortlichen überprüft wird, um nachzuweisen, dass es sich in dem jeweiligen Fall um einen besonderen Härtefall handelt. Strukturelle Gründe, beispielsweise die fehlende Versorgung im Aufnahmeland, zählen für die Begründung nicht. Eine grundsätzliche Kritik am deutschen bzw. EU-Asylsystem wird damit erstickt. Julia Lis und Benedikt Kern schrieben dazu letztes Jahr, dass es sich beim „neuen“ Kirchenasyl „nur noch um eine Unterbringung auf Kosten der Kirchen [handelt], die dann erfolgt, wenn die zuständige Behörde selber einsieht, einen Fehler gemacht […] zu haben, so dass sich die Notwendigkeit einer neuen Prüfung des Falles ergibt.“ Und: „Das bedeutet de facto eine Aushöhlung aller kritischen Potentiale, die das Kirchenasyl mit sich bringt.“ (ITP-Rundbrief 43, 3). Durch dieses Verfahren wird der Kirchenasylbewegung mehr und mehr die Legitimität, Kirchenasyle durchzuführen, die auf Gewissensentscheidungen gründen, genommen. Denn Gewissensentscheidungen passen genauso wenig wie die komplexe Situation eines Flüchtlings in ein Dossier mit vorgegebenen Kriterien. Nun kann eine Gemeinde selbstverständlich ein Kirchenasyl ohne diese Verfahren durchführen. Doch wer anerkennt solch eine „anarchistische Praxis“, wenn es doch gut ausgearbeitete Verfahren gibt? Sollte man deshalb die Entscheidungskompetenz darüber, welche Menschen nun Schutz genießen dürfen und welche nicht, den amtlich legitimierten Experten überlassen, damit kein Chaos entsteht?

Das Kirchenasyl kommt „von unten“

Der Fall in Münster hat auch gezeigt, dass das BAMF selbst sich nicht an die vorgegebenen Verfahren hält. Trotz angekündigtem Dossier wurde ein Kirchenasyl mit Hilfe der Polizei gebrochen. Dass die Schuld dafür vor allem in Verfahrensfehlern, d.h. bei denjenigen, die Dossiers anfertigen, gesucht wird, zeigt schon das Problem der Legitimation der Engagierten vor Ort an. Hieran wird deutlich, dass kein Verfahren eine Garantie für den guten Verlauf eines Kirchenasyls bedeutet. Es liegt die Frage auf der Hand, wie die Kirchenasylbewegung in Zukunft damit umgehen will und noch grundsätzlicher, wie angesichts von Asylrechtsverschärfungen, EU-Türkei-Deal oder der Austeritätspolitik eine wirkungsvolle Solidarität mit Geflüchteten (weiter) praktiziert werden kann. Ein erster Schritt könnte sein, diese radikale christliche Praxis wieder zurück in die Entscheidungskompetenz der Gemeinden und Engagierten zu holen, um dadurch parteiliche Solidarität und das kritische Potential des Kirchenasyls wiederzugewinnen.

 

Griechenland, die Flüchtlinge und das Gesetz
Das Gesetz als Stachel des Todes

Michael Ramminger

Vor einem guten Jahr haben wir zur Unterstützung Griechenlands gegen die Politik der europäischen Troika aufgerufen: „Schulden müssen erlassen werden, wenn sie nicht zurückgezahlt werden können und zu Verelendung und Armut führen. Nach der Bibel besteht die Schuld des Menschen vor Gott darin, unbezahlbare Schulden unerbittlich einzutreiben.“ Franz Hinkelammert aus Costa Rica hatte damals dazu in aller Klarheit geschrieben: „… der Gläubiger erfüllt ja gerade das Gesetz, wenn er trotzdem die Zahlung verlangt. Er hat jetzt despotische Gewalt über den Schuldner …“ Paulus dagegen spräche in universaler und daher auch begrifflicher Form seine Kritik am Gesetz aus, wenn er sagt: „Der Stachel des Todes ist das Verbrechen. Die Kraft des Verbrechens ist das Gesetz.“ (1 Kor 15,56)

Die Situation in Griechenland

Die Situation in Griechenland hat sich nach einem Jahr nicht verändert und belegt diese paulinische Einsicht. Sozialbeiträge für Freiberufler steigen drastisch, Landwirte werden höher besteuert, Renten gekürzt, die Mehrwertsteuer um einen Punkt auf 24 Prozent erhöht, Medikamente werden teurer und 14 Regionalflughäfen und der Hafen von Piräus privatisiert. In diesem Herbst soll es weitere „Arbeitsmarktreformen“, die Öffnung geschützter Berufe und eine Reduzierung des Mindestlohns geben. Die Konsumnachfrage geht weiter zurück, fast 15.000 Unternehmen haben geschlossen und die Arbeitslosigkeit befindet sich weiter auf Rekordniveau.

Das Gesetz und die Flüchtlinge

Dass das Gesetz, das nach Paulus das Verbrechen hervorbringt, auch an anderer Stelle unerbittlich ist, zeigt sich an der Situation der Flüchtlinge in Griechenland. Seit Schließung der sogenannten Balkanroute sind rund 53.000 Menschen in Griechenland gestrandet (Zeit online, 11.04.2016). Viele von ihnen warten unter unerträglichen Bedingungen auf eine Bearbeitung ihres Asylantrags. Das aber passiert nicht, weil es in Griechenland viel zu wenig Beamte in der Migrationsbehörde gibt und wegen der von der EU auferlegten Sparpolitik auch keine neuen Mitarbeiter eingestellt werden dürfen. Noch nicht einmal die verabredeten EU-Vereinbarungen zur Entlastung Griechenlands und anderer armer europäischer Länder werden eingehalten. Im sogenannten Re-location-Programm sollten 160.000 eindeutig schutzbedürftige Menschen aus extrem belasteten Mitgliedsstaaten auf wohlhabendere Staaten verteilt werden (re-location). Deutschland hatte sich verpflichtet, aus Italien 10.327, aus Griechenland 17.209 Flüchtlinge aufzunehmen. Tatsächlich sind bisher gerade einmal zehn angekommen.

Gesetz und Gerechtigkeit

Dies führt uns wieder zurück auf die Reflexionen über Recht und Gesetz. Jedes Gesetz trägt in sich eine Demarkationslinie, deren Überschreitung dazu führt, dass die totale Erfüllung des Gesetzes, seine absolute formale Anerkennung und Durchsetzung in Ungerechtigkeit und – wie Franz Hinkelammert sagt – in Despotie umschlagen kann: „Die absolute Gesetzeserfüllung ist der Tod, und, wenn man will, der kollektive Selbstmord der Menschheit. Es handelt sich, wie Paulus sagt, um den Stachel des Todes. Es geht also darum, das Gesetz immer dann zu suspendieren, wenn seine Erfüllung die Lebensmöglichkeit des Menschen zerstört. Der Stachel des Todes muss stumpf gemacht werden.“

Der rechtsfreie Raum: erfüllt von Gerechtigkeit

Das zunehmend ausgehöhlte Asylrecht und die restriktive Flüchtlingspolitik einerseits und das eherne Gesetz der Schuldentilgung andererseits, die Situation der Flüchtlinge in Europa und an Europas Grenzen und die immer weiter aufklaffende Grenze zwischen armen und reichen Ländern in der EU sind nicht zu Unrecht immer wieder die Topthemen der Nachrichten. Sie markieren die Unfähigkeit Europas mit den globalen Herausforderungen angemessen menschlich und menschenrechtlich umzugehen. Gesetze, Verordnungen und Vereinbarungen sind nicht der letzte Bezugsrahmen von Recht und Gerechtigkeit. Im Gegenteil. Wenn das Gesetz unbedingt ist, d.h. keinen „rechtsfreien“ Raum toleriert, wird es total. Das Gesetz braucht immer seine Kritik, sonst wird es unmenschlich: „Das Gesetz hat mir vorgeschrieben dies oder jenes zu tun“ – kein anderer Satz zeigt die Grenzen des Gesetzes so offenkundig.

Noch einmal Franz Hinkelammert: „Ein deutscher Innenminister sagte gegenüber dem Gesetzesbruch durch das Kirchenasyl: Es gibt keine rechtsfreien Räume. Wenn es keine rechtsfreien Räume gibt, gibt es überhaupt kein menschliches Leben. Das Verbot aller rechtsfreien Räume ist der absolute Totalitarismus. Aber es ist der Traum unserer Verabsolutierer des Rechts. Gehen wir zurück zu unserem Problem der Zahlung einer unbezahlbaren Schuld. Es wird gefordert, solche Schulden nachzulassen. Das schafft auch einen rechtsfreien Raum. Aber er wird erfüllt durch Gerechtigkeit, die daraus begründet ist, dass das menschliche Leben zu vermenschlichen ist. Es handelt sich nicht um eine Norm, solche Schulden nachzulassen. Es handelt sich darum, diesen rechtsfreien Raum zu schaffen, der in dem vorhergehenden Beispiel das Kirchenasyl war. Es ist eine Forderung der Gerechtigkeit.“

Anmerkungen: Franz J. Hinkelammert: Reflexionen zum Schuldenproblem: die Entleerung der Menschenrechte. ITP-Arbeitspapier Nr. 3, Münster 2015

„Wer bringt diesen Mann nur zum Schweigen?“
Angriffe auf den Papst haben mit Kritik nichts mehr gemein

Norbert Arntz

Die offenkundig nicht nur mehrdeutige Frage „Wer bringt diesen Mann nur zum Schweigen?“ stellt unverhohlen das sich selbst als kirchentreu bezeichnende katholische Internet-Portal „Katholisches.info“. Fragestellung und dazugehöriger Artikel vom 2. August 2016 sprechen exemplarisch aus, was in manchen rechtskatholischen Kreisen in einer Art anschwellendem Bocksgesang gesagt wird: „Das arrogante Pontifikat“ (Fox News) – „Ein primitiver Antikapitalist“ – „ – intellektuell keine erste Wahl“ – (DIE WELT) – „Marxist auf dem Stuhl des Petrus“ u.s.w.

Besonders scharf wurden die Angriffe nach dem Weltjugendtag in Krakau. Auf die Frage einer Journalistin, warum er bei seinen Reaktionen auf Gewalttaten immer von Terroristen, aber nie vom Islam spreche, antwortet der Papst: Es gefällt mir nicht, von islamischer Gewalt zu sprechen, denn jeden Tag, wenn ich die Zeitungen durchblättere, sehe ich Gewalt, hier in Italien: Der eine bringt seine Verlobte um, ein anderer bringt die Schwiegermutter um… Und das sind gewalttätige getaufte Katholiken! Es sind gewalttätige Katholiken… Wenn ich von islamischer Gewalt spräche, müsste ich auch von katholischer Gewalt sprechen. Nicht alle Muslime sind gewalttätig; nicht alle Katholiken sind gewalttätig. […] Ich glaube, dass es in fast allen Religionen immer eine kleine fundamentalistische Gruppierung gibt. […] Es ist nicht richtig, den Islam mit Gewalt gleichzusetzen und es ist nicht wahr!

Der italienische Theologe Massimo Faggioli, der in Nordamerika lehrt, hat eine erhellende Deutung zu dem hier nur angedeuteten Konflikt publiziert. Wir legen diesen (aus dem Englischen übersetzten) Text (gekürzt) vor und hoffen damit, auch die Angriffe gegen den Papst ins „rechte“ Licht zu rücken.

Massimo Faggioli: Franziskus, der „Islamische Staat“ und die Krise des Verhältnisses von Staat und Kirchen

Die Debatte ist ein wichtiger Indikator für die gegenwärtige Lage der Beziehungen zwischen Kirche und Politik in der westlichen Welt. Die westliche „Intelligentsia“, die jetzt darauf besteht, dass Franziskus eine theologische Erklärung zum Krieg abgeben soll, setzt sich zumeist aus Atheisten, säkularen Politikern und Vordenkern zusammen. Sie halten die Religion nur dann für relevant, wenn sie für den Kampf gegen den Islam politisch zweckdienlich ist. Diese theologisch-kriegstreiberische Intelligentsia ist in der Regel sehr schnell bereit, bei sozialen und politischen Fragen im Inland den Einfluss der Kirche für illegitim zu erklären, insbesondere wenn sie zugunsten der Armen spricht. Zu diesen Kommentatoren gehören Katholiken neo-konservativer und traditionalistischer Überzeugung. Diese haben nicht begriffen, dass die gegenwärtigen Probleme dadurch entstanden sind, dass sie die amerikanischen Kriege im Irak und in Afghanistan christlich getauft haben.[]

Aus meiner Sicht erleben wir das Ende einer Ära, das Ende jener Beziehung zwischen Kirche (Religion) und Staat, die im Europa der frühen Moderne geschaffen wurde: Die Krise Europas ist eine Krise der politischen Repräsentation und der Demokratie [] Katholische Kirche und Nationalstaat haben sich parallel in einem historischen Prozess modernisiert, der im spätmittelalterlichen-frühneuzeitlichen Europa begann und mit dem Westfälischen Frieden im Jahre 1648 eine gewisse Stabilität fand. Das bedeutet, wer heute ein neues Jahrhundert von Religionskriegen erklärt, würde auf besonders radikale Weise ein Jahrhunderte altes System der Beziehungen zwischen Religion/Kirche und Politik/Staat in der westlichen Welt – und nicht nur dort – in Frage stellen. Die Symptome dieser epochalen Krise sind offensichtlich, wenn der Präsident der Französischen Republik, der Wiege der Laizität, ein theologisches Statement abgibt, indem er die Ermordung des katholischen Priesters von Rouen „als Schändung der Französischen Demokratie“ bezeichnet. […]

Franziskus versucht, der Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils und ihrer Sicht von Gemeinwohl, Politik, Demokratie und gesunder Unterscheidung zwischen Kirche und Staat treu zu bleiben. An dieser Front ist Franziskus nicht nur mit Herausforderungen seitens des Islam konfrontiert, sondern ebenso von zwei verschiedenen Fronten innerhalb der westlichen Welt: einerseits von religiös ungebundenen Menschen, die gerne sähen, wenn Franziskus in ihrem Namen einen Religionskrieg erklären würde, und andererseits von postmodernen Katholiken, die die Laizität und den säkularen Nationalstaat für einen Teil des Problems und nicht der Lösung halten. Kirche und Staat befinden sich in einer Situation der Krise und des Übergangs: Das Problem besteht darin, dass es (noch) keine brauchbare Alternative zum Nationalstaat gibt. Offenbar weiß Franziskus dies besser als andere.

Gekürzte Fassung. Die Langfassung (und die englischsprachige Quelle) ist auf www.itpol.de nachzulesen.

 

Christentum der Befreiung, Islam der Befreiung
Vereint im Engagement für eine andere Welt

Julia Lis

Bei einer Rundreise vom 26. Mai bis 4. Juni 2016 ergaben sich in unterschiedlichen Städten zahlreiche Gelegenheiten zur Diskussion mit Kacem Gharbi, einem muslimischen Befreiungstheologen, mit dem wir seit dem Weltsozialforum 2015 engen Kontakt haben. Abseits der oft üblichen Auffassung vom christlich-muslimischen Dialog als freundlichem Austausch, der sich weniger der Frage der eigenen Positionierung stellt, ist unser Gespräch mit Kacem von Anfang an von der festen Überzeugung getragen, dass wir aus unterschiedlichen Traditionen heraus doch an einem gemeinsamen Ziel arbeiten: dem der Befreiung des ganzen Menschen und aller Menschen aus den politisch-ökonomischen Strukturen die soziale Ungleichheit, Ausbeutung und Ungerechtigkeit hervorbringen.

Theologie der Befreiung ist Religionskritik

Mit der christlichen Theologie der Befreiung teilt der Islam der Befreiung eine selbstkritische Haltung der eigenen Tradition gegenüber. Aus der Perspektive des Strebens nach sozialer Gerechtigkeit und Freiheit aller Menschen wird die ideologische Funktion der Religion im jeweiligen gesellschaftlichen System auf den Prüfstand gestellt: Dient hier Religion – besser ganz konkret: der Islam oder das Christentum – dazu gesellschaftliche Machtverhältnisse zu legitimieren oder zu verschleiern? Geschieht eine religiöse Verdopplung der Wirklichkeit? Was funktioniert als „Gott“, als höchste Verbindlichkeit erwartende Instanz, in einer bestimmten Gesellschaftsordnung?

Aus einem solchen Verständnis heraus kann eine islamische wie eine christliche Befreiungstheologie durchschauen, von wem und in wessen Interesse religiöse Begründungen, Traditionen und Texte in Anspruch genommen werden.

Anschaulich macht dies eine Anekdote, die Farid Esack, ein muslimischer Befreiungstheologe aus Südafrika, in einem seiner Texte anführt:1 Er erzählt, wie das Büro der damaligen US-Verteidigungsministerin Condolezza Rice ein Treffen mit ihm organisieren wollte, weil er doch ein progressiver Muslim sei – in völliger Verkennung der Tatsache, dass Farid Esack gerader als progressiver Muslim mit einer profunden Kritik am US-Imperialismus und der Kriegspolitik der damaligen Regierung einem solchen Treffen niemals zustimmen würde.

Gegen ein fundamentalistisches wie ein liberales Religionsverständnis

So sehr sich christliche wie islamische Befreiungstheolog_innen darin einig sind, dass ein fundamentalistisches Verständnis der eigenen Tradition der Bewahrung oder Wiederherstellung religiöser Herrschaftsinteressen dient, so wenig kann ihre Kritik allein bei fundamentalistischen Kreisen stehen bleiben. Als Befreiungstheolog_innen kritisieren sie auch ein oft vermeintlich progressives Religionsverständnis, das Religion der Sphäre des Privaten zurechnen möchte und somit die gesellschaftskritischen Potentiale der christlichen wie der islamischen Tradition entschärft. So geht es auch Kacem Gharbi nicht um einen liberalen Islam, der sich aus politischen Fragen heraushält und die Freiheitsrechte der Einzelnen vertritt, sondern um ein Verständnis der Befreiung, das diese als reale innerweltliche Verheißung zu denken vermag und aus der Kritik der bestehenden lebensfeindlichen Strukturen Perspektiven entwickelt, die über das, was ist, hinausweisen: in Richtung einer Welt, in der Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit zusammen existieren und für alle Menschen Realität geworden sind.

Theologie im Dienst der Befreiung

Ein solches Verständnis von islamischer Theologie setzt auch voraus, dass sie sich als Teil einer Bewegung sieht, die die gegenwärtigen Unrechtsstrukturen zu überwinden sucht. Für Kacem Gharbi stellt sich dies als größte momentane Herausforderung der islamischen Befreiungstheologie dar: Die Theologie der Befreiung verstand und versteht sich immer noch als eingebunden in ein Christentum der Befreiung. Wo aber lässt sich eine muslimische Theologie der Befreiung in den Auseinandersetzungen verorten? Wo verbindet sie sich mit einer muslimischen Befreiungsbewegung, deren Ziel weder eine islamische Theokratie noch ein islamisch geprägter Nationalstaat sein kann sondern ein Weg der Befreiung, der alle Menschen, jenseits von Religion oder Ethnie umfasst und der verbunden ist, mit all denen, die ohne Muslime oder Christinnen zu sein ebenfalls an diesem Prozess der Befreiung teilhaben? In diesem Sinne liegt vor der islamischen und vor der christlichen Befreiungstheologie heute auch viel Organisierungsarbeit. Ein gemeinsames Engagement fällt schließlich nicht vom Himmel, sondern bedarf der Arbeit an Vernetzung, strategischem Austausch, gemeinsamer Theoriebildung und gemeinsamer Praxis des Engagements. Auch der Austausch von Bewegungen untereinander, die Zusammenarbeit jenseits unterschiedlicher ideologischer, politischer und religiöser Traditionen beruht auf der oft mühsamen Arbeit daran, das Gemeinsame herauszufinden und daraus kollektive Prozesse zu entwickeln. Nach der gemeinsamen Zeit mit Kacem Gharbi hoffen wir mit ihm gemeinsam ein Stück dieses Weges weitergehen zu können und so das Netz der Menschen, die in der Tradition der Befreiungstheologie an einer anderen Welt der Freiheit und Gleichheit aller arbeiten wollen, zu erweitern und zu stärken.

Ein Interview mit Kacem Gharbi ist auf unserer Homepage www.itpol.de und in gekürzter Version in der Zeitschrift Südlink, Nr. 177, erschienen.

1Vgl. Esack, Farid: Unterwegs zu einer islamischen Befreiungstheologie, in: von Stosch, Klaus/Tatari, Muna: Gott und Befreiung. Befreiungstheologische Konzepte in Islam und Christentum, Paderborn 2012, S. 19.

 

ITP-Neuerscheinungen

KIRCHEN.ASYL, Kirchenasyl ist Menschenrechtsschutz. Eine Handreichung

Institut für Theologie und Politik / Netzwerk Kirchenasyl Münster (Hg.)

Die Handreichung für Kirchengemeinden, Engagierte in der Geflüchtetenarbeit und Interessierte soll ein Beitrag dazu sein, über das Kirchenasyl aufzuklären, migrationspolitische Hintergrundinformationen zu liefern und das Kirchenasyl theologisch, kirchlich und politisch einzuordnen.

Münster 2016, 76 Seiten
3,- € (zzgl. 1,50 € Versand) beziehbar im Institut für Theologie und Politik über: buecher[ät]itpol.de

Kirche ohne Grenzen. Kleine theologische Anstöße

Institut für Theologie und Politik (Hg.)

Diese Mini-Broschüre bietet kleine theologische Anstöße für die Auseinandersetzung zum Thema Flucht und Migration aus christlicher Perspektive. Leitgedanke ist es, das Engagement zu stärken und inhaltlich zu vertiefen.

Mini-Broschüre 10,5 x 14,8cm, 24 Seiten

1 Ex. = 0,50 €
10 Ex. = 5,00 €
25 Ex. = 10,00 €
50 Ex. = 15,00 €
100 Ex. = 25,00 €

Ankündigung

Philipp Geitzhaus/Julia Lis/Michael Ramminger (Hg.)
Auf den Spuren einer Kirche der Armen.
Zukunft und Orte befreienden Christentums

Edition-ITP-Kompass Bd. 20, Münster 2017.

236 Seiten, 14,80 €

Erscheinungstermin 16. Januar 2017

Wie kann Befreiungstheologie heute sinnvoll fortgeschrieben werden, wo sind ihre Orte, welche Gegenwartsfragen und welchen Herausforderungen muss sie sich stellen und wo könnte vielleicht ihre Zukunft liegen? Anders gefragt: Was macht eine Kirche der Armen angesichts von Globalisierung und Krise heute aus? Der Band sammelt die Beiträge internationaler BefreiungstheologInnen u.a. von Norbert Arntz, Dick Boer, Nancy Cardoso, Kuno Füssel, Pilar Puertas, Michael Ramminger, Katja Strobel, Fernando Torres.

 

AK ReligionslehrerInnen im ITP (Hg.)
Franziskus in der Tasche – für die Schule – –auf den Plätzen – in der Gemeinde

Erscheinungstermin voraussichtlich November 2016

Das kleine Heftchen mit ausgewählten Franziskus-Zitaten erscheint absichtsvoll im pocket-Format, weil es ReligionslehrerInnen, aber auch allen in der Pastoral Aktiven in Aktentasche, Schultasche, Handtasche ein ständiger Begleiter sein könnte. Schnell lassen sich themenorientiert „knackige“ Zitate als Impuls aufrufen und so in Gruppen Gespräche über brisante Themen in Gang setzen. Man kann es im Klassensatz anschaffen oder an KollegInnen, an FreundInnen und Bekannte verteilen. Aber auch eine stille Lektüre kann im Alltag zum Nachdenken anregen.